Nessiteras rhombopteryx / Part 1
»LEX, HAST DU DAS AUCH gelesen?« Tuyet stand ganz aufgeregt vor meiner Wohnungstür. Mit der rechten Hand wedelte sie mir die aktuelle Tageszeitung vor der Nase herum.
Ich hatte nach den Strapazen des Vorabends abermals weder gut noch lange schlafen können. Aber ich konnte meiner Freundin natürlich nicht erzählen, dass ich gestern erneut für kurze Zeit Teil einer Verbrecherbande war.
»Was ist denn passiert, Tu-Tu? Wurde Elvis Presley lebend gesehen oder ist Michael Jackson wiederauferstanden?« Beides hätte mich nach den vergangenen Wochen nicht wirklich überrascht.
»Viel kurioser!«, machte mich Tuyet dann doch neugierig. Ehe ich sie hereinbitten konnte, hatte sich die wuselige Vietnamesin bereits den Weg in mein Wohnzimmer gebahnt.
»Willst du auch einen Kaffee?«, fragte ich sie schlaftrunken, während sie das Eichenstedter Tageblatt auf dem Stubentisch ausbreitete.
»Bist du jetzt erst aufgestanden?«, merkte Tu-Tu beiläufig an, nachdem sie meinen Pyjama registriert hatte. »Na, egal. Hör mal!« Sie strich mit dem Finger bis zu einer Stelle in einem etwas längeren Artikel auf Seite 2. »Trotz aller Hinweise und dem schnellen Eingreifen der Polizei, sei es den Verdächtigen dennoch gelungen, die Flucht zu ergreifen. Die beiden Personen, welche mithilfe einer privaten Ermittlungsagentur im Hotel Sonnenschein festgenommen werden konnten, verschwanden noch am späten Abend aus der Untersuchungshaft. Der diensthabende Beamte wolle sich an nichts Ungewöhnliches erinnern können, heißt es aus Polizeikreisen. Wie es den Verdächtigen – einer jungen Frau und einem Mann um die 60 Jahre – gelungen war, aus der Haft zu entkommen, ist Gegenstand weiterer Ermittlungen.«
Tuyet starrte mich erwartungsvoll an, als wolle sie von mir Einzelheiten zu dem Fall hören.
Ich, noch immer schlaftrunken, musste selbst erst mal verarbeiten, was ich da gerade gehört hatte.
Als ich die Detektei nach 23 Uhr verließ, war ich im Glauben gewesen, wenigstens diese beiden Scharlatane in sicherem Gewahrsam zu wissen. Offensichtlich war ihnen kurz darauf die Flucht gelungen. Eine Flucht ohne Spuren, wenn ich den Zeitungsartikel richtig verstanden hatte.
»Die private Ermittlungsagentur – wart ihr das?«, bohrte Tuyet weiter und ihre Augen wurden immer größer.
»Ähm, nein. Nein. Damit hatten wir nichts zu tun«, log ich aus einem Bauchgefühl heraus. Ich wollte meine Freundin nicht beunruhigen, auch, wenn sie es eher als Sensation mit kindlicher Neugier aufgefasst hätte.
Ich jedoch war umso mehr alarmiert. Wenn die beiden Betrüger auf freiem Fuß waren, waren die Detektei und damit auch ich und mein Umfeld möglicherweise in Gefahr. Zumal nicht ausgeschlossen werden konnte, dass Eva und der Typ aus dem Hotel gemeinsame Sache mit diesem ominösen Tattoomann machten, welcher eventuell ein übernatürliches Geheimnis wahrte, das wir noch nicht einordnen konnten.
Große Scheiße!
»Ist Liem im Kindergarten?«, fragte ich und bemühte mich, nicht allzu besorgt zu klingen.
»Ja, meine Eltern holen ihn nachher ab, wenn ich in der Spätschicht bin. Das sind aber nur Betrüger, oder? Die werden doch keine kleinen Kinder entführen.«
Tuyet sah mich trotz ihrer Zuversicht erschrocken an.
»Nein, ganz bestimmt nicht. Die sind sicher längst über alle Berge. Solche Leute halten sich nie ewig an einem Ort auf.« Das klang sogar plausibel. Besonders wenn man bedachte, dass diese Eva ursprünglich aus der Berliner Ecke zu stammen schien, ihrem Dialekt nach zu urteilen. Und die andere, diese Sarah, war mit Saskia auf dem Weg nach Halle/Saale. Wo auch immer diese Leute sich gerade aufhielten, in Eichenstedt war es hoffentlich nicht mehr. Nach zwei Polizeieinsätzen in ihren Reihen sollten sie doch endlich begriffen haben, dass hier nicht gut Kirschenessen für sie war.
Am folgenden Sonnabend hatte ich wieder Wochenenddienst in der Detektei. Gut, eigentlich gab es dort keine klassischen Fünftagewochen, geschweige denn irgendwelche festen Schichten. Aber für die Wahrung des Scheins musste ich mir für Familie und Freunde die Realität immer mal wieder ein wenig zurechtbiegen.
Von den geflohenen Verbrechern hatten wir bislang nichts mehr gehört. Es gab keine weiteren Betrugsfälle und glücklicherweise ist niemandem von uns das Symbol des Tattoomannes begegnet. Wirklich durchatmen konnte ich dennoch nicht und achtete akribisch auf alles und jeden in meiner Umgebung.
Dabei lag das Unbekannte oft dort, wo man es am wenigsten erwarten würde. Zum Beispiel in der Detektei selbst!
»Wo kommen die denn her?« Neugierig betrachtete ich zwei mir fremde Topfpflanzen auf unserem Empfangstresen. Auch Corgi Charles stand schwanzwedelnd davor und begutachtete die beiden neuen Mitbewohner der Garage.
»Die hat Wilhelm gestern Abend vorbeigebracht«, antwortete Luke, der über ein paar dicken Büchern brütete. »Waltraud Schramm hat sie in die Polizeistation gebracht. Als Dank für die Hilfe in dem Trickbetrüger-Fall.«
»Na, eigentlich hat sie ja uns geholfen, indem sie sich bereit erklärt hat, bei der Sache mitzuspielen.« Aber niedlich war diese Geste definitiv. Ich unterdrückte den Gedanken, dass die gütige Seniorin nun auch in Gefahr sein könnte, nachdem die Verdächtigen allesamt auf freiem Fuß gekommen waren, schnell wieder und betrachtete ihre prachtvollen Geschenke.
Eine weißblühende Friedenslilie und eine rosarote Flamingoblume.
»Wir sollten ihnen Namen geben, wenn sie schon einmal bei und leben. Lily und Rosie. Was meinst du?«
»Ach, Lex«, schüttelte Luke nur schmunzeln den Kopf.
Mittlerweile verstand ich mich mit Lukas Jarzombek viel besser als noch am Anfang. Er hatte eingesehen, dass niemand in unserer Gruppe (außer Marlowe) einen kriminalistischen Hintergrund hatte und dass jeder von uns viel lernen musste, um diesen Job machen zu können. Nachdem meine Schauspielkünste immerhin zweimal zum Einsatz gekommen waren, war das Eis gebrochen. Außerdem war es wohl zu anstrengend geworden, mich nicht zu mögen, nachdem wir die letzten Wochen fast jeden Tag miteinander zu tun gehabt hatten. In den freien Minuten spielten wir sogar Gesellschaftsspiele mit Momo und hin und wieder auch mit Saskia zusammen.
Das Verhältnis zwischen ihr und mir war auch besser geworden, aber beim besten Willen nicht freundschaftlicher. Ich konnte damit leben, sie auch. Von daher – alles schick.
»Was sind das denn für Wälzer?«, sprach ich Luke auf die monströsen Bücher an, die sich vor ihm auftürmten.
»Kryptozoologie«, antwortete er und tippte auf die goldenen Prägungen auf dem dunkelroten Ledereinband in seiner Hand. »Die hat mir mein Biologie-Professor freundlicherweise überlassen, nachdem er gemerkt hatte, dass mich sein liebstes Hobby ebenso seht interessierte wie ihn.«
Fasziniert blätterte ich die vergilbten und herrlich nach altem Buch riechenden Seiten durch.
»Wow, die machen was her!«, resümierte ich. »Viel hübscher als die, die du mir ausgeliehen hast.«
»Sind auch meine ganz besonderen Schätze«, grinste Luke bis zu den Ohren. »Nicht mehr wirklich aktuell, aber ihren Charme haben sie dadurch nicht verloren.«
»Da hast du recht. Gibt es einen bestimmten Grund, warum du dich so intensiv mit Wasserdrachen auseinandersetzt?« Ich hatte bemerkt, dass Luke besonders in entsprechenden Kapiteln zugange war. Auf den aufgeschlagenen Seiten konnte ich Nessie und ähnliche Kreaturen erkennen.
»In der Tat«, murmelte Luke und packte sein Notebook auf den Bücherberg und zeigte auf sein E-Mail-Postfach. »Guck mal. Gestern Abend schrieb mir eben dieser Professor eine Nachricht.« Er deutete auf seine Bücher. »Elmar Clausen hält sich momentan in Blankenburg auf. In der nahe gelegenen Rappbodetalsperre sollen sich in letzter Zeit zahlreiche Nessie-Sichtungen ereignet haben, schreibt er. Das ist sein absolutes Steckenpferd. Er war schon gefühlt hundertmal in Schottland am Loch Ness, um dieses Wesen zu sehen. Ist ihm leider nie gelungen.«
»Und jetzt versucht er sein Glück im Harz?«, fragte ich und nahm mir einen der Nessie-Artikel in den alten Büchern vor. »Das Vieh scheint ja relativ groß zu sein. Wenn es dort oder im Loch Ness etwas Derartiges geben würde, hätte es doch bestimmt schon mal jemand gefilmt oder eindeutige Spuren gefunden.«
»Es sei denn, es kommt aus der Parallelwelt. Dann könnte es dorthin zurückgekehrt sein, ehe weitere Untersuchungen möglich waren.«
Da hatte er recht. Was bedeuten würde, dass Nessie eines der Fabelwesen war, die wir im Namen der Creatura Fabularis zu retten pflegten.
»Wir fahren da hin, nicht wahr?«, fragte ich meinen Kollegen, der mein verschmitztes Lächeln stumm erwiderte.
Noch am selben Nachmittag fand ich mich auf der Rückbank eines Autos wieder. Glücklicherweise waren Luke, Momo und ich auf eines der Dienstfahrzeuge umgestiegen. Ein grauer VW Transporter, der genug Platz für unser Equipment bereithielt. Der kleine blaue Corsa meines Mitstreiters blieb in Eichenstedt.
Dennoch waren die beiden Herren auf alle Eventualitäten vorbereitet und hatten mir vorsorglich eine Kotztüte auf den Sitz gelegt.
Und ja, der Harz hatte einige Serpentinen zu bieten. Aber das neuere Fahrzeug federte Lukes rabiaten Fahrstil deutlich besser ab als der Opel älteren Baujahres. Zudem wurde ich von keinem Geist attackiert, sodass wir alle drei wohlbehalten an der Rappbodetalsperre eintrafen.
»Schon was auf dem Radar?«, fragte Luke Momo, welcher frustriert sein Smartphone schüttelte.
»Ich hab nicht mal GPS-Empfang. Keine Ahnung, was jetzt schon wieder los ist. Ach, verflucht noch einer!«
»Lex, irgendwelche Schwingungen?«, wurde auch mein inneres Fabeltier-Radar zurate gezogen.
Ich lächelte nur und schüttelte den Kopf.
»Lasst uns Elmar finden«, schlug Luke dann vor und schulterte einen großen Rucksack. »Wie ich den alten Zausel kenne, wird er wieder irgendwo im Schilf sitzen und die Welt nur noch durch sein Teleobjektiv betrachten.«
Luke kannte seinen Professor bestens. Nachdem wir fast eine Dreiviertelstunde querfeldein am Staubecken der Talsperre entlang spaziert waren, tauchte irgendwann, versteckt hinter Gräsern und Büschen eine russische Fellmütze auf.
»Elmar! Haben wir Sie endlich gefunden. Das Kilometergeld können Sie uns gar nicht bezahlen«, scherzte Luke, nachdem er seinen Professor entdeckt hatte.
»Hmmm, nemmehammmnunammheme.«
»Hat er was gesagt?«, fragte ich möglichst leise und nur zu Momo. Dieser zuckte nur mit den Schultern.
Schließlich erhob sich das, was unter dem Schapka steckte und ich schlug mir augenblicklich die Hand vor den Mund, um nicht laut loslachen zu müssen. Ich kannte diesen kurios dreinblickenden Kerl, der da in einer braunen Cord-Jacke und einem Camouflage-Regencape gehüllt am Rand des Wassers hockte!
»Ich hab Sie doch schon mal gesehen!«, begann ich schließlich das Gespräch, nachdem ich mich gesammelt hatte. »Vor ein paar Jahren lief eine Dokumentation im Fernsehen, bei Cosmos TV, glaube ich. Über mögliche Nessie-Sichtungen in Deutschland. Und da saßen Sie vor dem Teich einer Berufsschule, in dem angeblich etwas Seltsames gesehen worden war. Wir haben in der Klasse noch lange darüber diskutiert und Witze gerissen, welche Wesen wohl an unserer Schule ihr Unwesen treiben mögen.«
Das war nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit haben wir uns vor allem über die nuschelige Aussprache des Nessie-Forschers amüsiert. Und an dieser hatte der etwa fünfzig Jahre alte Sonderling offensichtlich bis heute nicht gearbeitet.
»Morschn!«, begrüßte er mich in bestem Sächsisch. »Elmar Clausen. Freid mer, dassdn disch orinnorn gonnst. Bischdn nei bee dor SeeEff?«
»Ähm, Elmar. Die beiden sind nicht aus der Region. Also, ähm, kommen nicht mal aus dem Osten. Könnten Sie sich auf Hochdeutsch versuchen, eventuell?« Lukas beugte sich zu seinem Professor vor und sprach möglichst leise, dennoch konnte ich ihn verstehen.
Herr Clausen nahm es mit Humor: »Wächn mer! Ich bemühe mich, verständlich zu laborn. Nu!«
»Alexis Emmerich, sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, stellte ich mich bei dem Sonderling vor. »Ich helfe seit etwa einem Monat dabei, die Fabelwesen zu fangen.«
»Sie macht das gut. Kann sogar beruhigend auf sie einwirken«, sprach Momo für mich weiter.
»Oohr! Dann los, lasst uns das Nessie-Tierchen finden!«, wollte er sofort losbrettern.
»Ähm, was sagen denn die Leute? Was haben sie gesehen? Einen Hals oder nur Buckel auf der Wasseroberfläche?«, erkundigte sich Lukas nach den Details der Sichtungen des angeblichen Fabelwesens.
»So, wie ich es verstanden habe, geht es wohl eher in Richtung Buckel«, erklärte Elmar Clausen und zeichnete mit den Händen eine kurvige Linie in der Luft nach. »Was natürlich alles und nichts heißen kann, nu.«
»Dafür sind wir ja jetzt da«, tönte Momo und tippte weiter auf seinem Smartphone herum, welches endlich Empfang gefunden hatte. »Ich will nicht zu viel Hoffnung verbreiten, aber wie es aussieht, könnte es in der Nähe kürzlich eine Öffnung zur Parallelwelt gegeben haben.« Er zeigte uns eine rote Schraffur auf der digitalen Landkarte, die mich entfernt an mein Pokémon Go-Spiel erinnerte.
»Meine Freunde, wir haben ein Fabelwesen im Harz! Touwahou!«, triumphierte Elmar und war von diesem Augenblick an nicht mehr zu bremsen gewesen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top