Historia rerum Anglicarum / Part 3

»WIE FÜHLST DU DICH? Jetzt in diesem Moment?« Mich verwirrte Bens Frage. Immerhin hatte ich ihm eben von meinem Albtraum erzählt. Wie konnte er behaupten, dass ich mit dem Erlebten gut zurechtkam?

Aber eigentlich fühlte ich mich gerade nicht schlecht. Nicht so, wie ich es in dieser Situation vielleicht sollte. »Im Moment bin ich ganz ruhig. Ich habe keine Angst mehr«, antwortete ich ihm, doch es kam mir nicht richtig vor, so zu fühlen. »Es sei denn, ich denke wieder an die Vampire und all das«, ergänzte ich meine Aussage. »Und dann geht es mir sehr wohl beschissen. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie viele Zusammenbrüche ich seit Anfang September hatte. Es wird mir zu viel, Ben. Ich will dieses Leben nicht.«

Mein Boss nickte und wirkte zerbrechlich. »Und dennoch bist du noch hier. Unser Vertrag kann täglich gekündigt werden, Lex. Wem fühlst du dich verpflichtet? Den Fabeltieren? Der CF

Das war eine gute Frage, auf die ich keine Antwort wusste. »Und du? Für wen machst du das? Für deinen Vater? Deinen berühmten Urgroßvater?«

Ben schwieg, was manchmal mehr sagte als tausend Worte. »The truth is«, begann er nach einer Weile wieder zu sprechen und sah dabei ins Leere. »Ab einem gewissen Punkt kannst du nicht mehr einfach umkehren. Wie könnte ich ein normales Leben führen, wenn ich all diese Dinge weiß? Ich wünsche für dich, dass es dir gelingen möge.«

Unsere Blicke trafen sich und wir sprachen lange nichts mehr. Ich dachte über seine Worte nach. Ich stellte mir vor, wieder in Hamburg bei meinen Eltern zu sein. Eine Lehre in der Firma meines Vaters oder bei Onkel Dieter zu machen. Oder Jura zu studieren, wie meine Mutter. Etwas Handfestes eben. Vielleicht hatte ich auch Glück und könnte wieder als Schauspielerin arbeiten. Doch würde ich die vergangenen zwei Monate dann wirklich vergessen? Würde ich nicht heimlich immer wieder Berichte über Nessie-Sichtungen und Ähnliches verfolgen? Würde ich bei jeder neuen Bekanntschaft dessen Aura überprüfen? War nicht längst dieses neue Leben meine Normalität geworden? Aber was war mit den Gefahren? Was mit den Vampiren, Hexen und mit mir?

»Ich fühle mich mir selbst verpflichtet«, beantwortete ich schließlich Bens Frage. »Du hattest damals in dem Spukschloss wohl recht, als du sagtest, dass mir der Rasselbock nicht umsonst über den Weg gelaufen ist.« Ich atmete tief ein und umklammerte meine eigenen Oberarme. »Bevor ich mit all dem abschließen kann, möchte ich erfahren, welche Rolle ich in diesem Spiel gespielt habe. Warum ich diese Präsenzen spüre. Warum ich Fabeltiere anlocke und warum Vampire mich nicht manipulieren können. Ich muss das verarbeiten und einordnen können.«

»Ich wünschte, dir wäre das alles erspart geblieben«, sagte Ben und kam zurück aufs Sofa. Charles sprang ihm sogleich wieder auf den Schoß. »Ich wünschte, keinem von euch wäre das alles je passiert. Die CF hat Lukas, Mohammad und Saskia rekrutiert. In Internetforen nach Menschen mit bestimmten Fähigkeiten gesucht, welche für die Organisation nützlich sein könnten.« Ben hielt wieder einen Moment inne, bevor er weitersprach. »Ich bin vor vier Jahren nach Deutschland gekommen, um allein für die CF zu arbeiten. Ich finde es nicht richtig, dass Unbeteiligte gezielt ausgesucht werden, um Teil der Creatura Fabularis zu werden. Es mag anfangs wie ein Abenteuer klingen. Aber es verändert dich und dein ganzes Leben für immer.« Ben nahm einen Keks aus der Packung, die mir am Morgen auf dem Kopf gefallen war. »Natürlich waren alle drei hellauf begeistert von dieser Aufgabe. Sie haben nie Zweifel geäußert und sie machen ihre Sache gut. Ich würde meine Hand für jeden von ihnen ins Feuer legen.«

»Obwohl du sooft Ärger bekommst, wenn etwas schiefläuft?«

»I don't give a shit! Mein Team, meine Regeln, meine Methoden.«

»Was genau meintest du mit Unbeteiligte? Leute, die keinen magischen Hintergrund haben oder welche, die zuvor noch nichts von diesen Dingen wusste, so wie du, der damit aufgewachsen ist?« Ich nahm mir auch einen Keks und schaute meinen Boss aufmerksam an.

»Beides. Meine Familie ist damals auf die Creatura Fabularis gestoßen, als mein Urgroßvater in einem Vermisstenfall in L.A. ermittelt hat. Die siebzehnjährige Tochter eines Bankers war spurlos verschwunden.«

»Also sind die wirklich weltweit aktiv?«, schmatzte ich.

»Indeed! Allerdings gibt es dort ganz andere Fabelwesen. Wobei der Jackalope dir gefallen würde.«

»Ja, der Verwandte des Rasselbocks«, schmunzelte ich und nahm noch einen Keks. Diesmal einen mit Schokolade an der Unterseite.

»In diesem bestimmten Fall machte Philip Marlowe, mein Urgroßvater, allerdings Bekanntschaft mit der Vampir-Abteilung der CF, welche sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet hatte. Ein Ripper – das ist ein Vampir, der völlig außer Kontrolle geraten ist – machte seit den frühen 1910er-Jahren die Westküste der USA unsicher. Mein Urgroßvater fand das gesuchte Mädchen irgendwann in einem leer stehenden Haus. Blutleer. Zerstückelt und wieder zusammengesetzt.« Ben beugte sich beim Reden etwas vor. »Es muss ein grauenvoller Anblick gewesen sein. Leider gelang es weder ihm noch der CF, den Mörder ausfindig zu machen. Es sollte noch bis in die 1940er-Jahre dauern, bis der Ripper verschwand. Er war intelligent genug, um seinen Verfolgern durchs Netz zu gehen. Immer und immer wieder.«

»Also war die CF noch nie besonders effektiv im Vampirjagen?«

Ben sagte nichts, hob aber vielsagend die Augenbrauen. »Sagen wir mal so«, gab er schließlich schmunzelnd zu. »Es gibt bessere Vampirjäger.«

»Was ist mit Wilhelm? Wie ist er zur CF gekommen?« Eine Frage, die mir eigentlich schon länger unter den Nägeln brannte.

Ben fing an, leise zu lachen. »War mit einer Hexe verheiratet. Sie sind geschieden«, antwortete er knapp.

»Oh, guck einer an! Im Prinzip auch ein Unbeteiligter, unser Willi. Aber zumindest konnte er die ganzen Geschichten mit ihr teilen.«

»That's what I meant. Zu den kaum abschätzbaren Gefahren kommen die Lügen und Geheimnisse. Lukas hat wenigstens noch diesen Elmar Clausen und einige andere Leute aus der Crypto-Scene. Du und die anderen habt niemanden außerhalb der Detektei. Dennoch denke ich, dass es eventuell einfacher wäre, auszusteigen, wenn man keinen persönlichen Bezug zu der Thematik hat. Durch Familie oder Geburt.« Beim letzten Satz schaute er mich mitleidig an.

»Und das ist ganz schön belastend«, gab ich Ben recht, ohne jedoch weiter auf mich und meine vermutete Gabe einzugehen. »Aber wie bist du vom normalen Polizisten in London zum Fabeltierjäger im Harz geworden? Hast du diese Entscheidung bewusst getroffen oder gab es einen Schlüsselmoment?«

»Das – das ist eine lange Geschichte.« Über Bens Gesicht legte sich erneut ein Schatten. »Meinem Vater wäre es lieber gewesen, wenn ich mich aus der Sache raushielte. Aber dann hätte er mich als Kind nicht mit nach Woolpit nehmen dürfen.«

»Was war denn da los? Ähm, also wenn es keine Umstände macht.«

»Ganz und gar nicht!« Bens Gesicht erhellte sich wieder. »Es gibt eine Legende aus dem 12. Jahrhundert. Diese besagt, dass in einer Wolfsgrube in der Nähe von Woolpit zwei Kinder mit einer grünlichen Hautfarbe gefunden worden sein sollen.«

»Oh, als hätte ich für heute nicht genug grüne Haut gesehen!«

»Hm? Ach, dein Traum! Ja, ganz so schlimm sahen die beiden vermutlich nicht aus. Es waren ein Junge und ein Mädchen. Sie konnten kein Englisch und aßen lange Zeit nur frische Bohnen«, fuhr Ben fort und ihm war seine Begeisterung für derartige Geschichten anzusehen. Ein völlig anderer Mensch. »Während der Junge bald darauf starb, wurde das Mädchen erwachsen, lernte die englische Sprache und heiratete einen Erzdiakon. Die grüne Hautfarbe verlor sie mit der Zeit und erzählte den Menschen in Woolpit, dass sie von einer Insel namens Saint Martin kamen. Dort seien alle Menschen grün und es schien niemals die Sonne.«

»Ein Paradies für Vampire«, warf ich meinen Sarkasmus dazwischen.

»Yes!«, musste auch Ben lachen. »Eines Tages hörten sie beim Viehhüten fernes Glockenläuten und folgten diesem in eine Höhle. Diese endete in der Wolfsfalle bei Woolpit. Mich hat diese Legende damals nicht mehr losgelassen. Ich habe alle möglichen Leute in dem kleinen Dorf befragt. Die fanden diesen neugierigen Bub vermutlich ziemlich cute. Ich habe mir Bücher zu dem Thema ausgeliehen und verschiedene Theorien überprüft. Allen voran das legendäre Buch Historia rerum Anglicarum. Die Geschichte englischer Begebenheiten. Es wurde verfasst von William of Newburgh, einem Historiker und Mönch.«

Ben lebte richtig auf. Das glaubt mir doch keiner!

»In diesem Zusammenhang hat mir mein Vater das erste Mal von der Creatura Fabularis erzählt, die sich mit solchen Legenden befasste«, fuhr er mit seinen Erzählungen fort und knabberte einen weiteren Keks mit Kokosraspeln. »Dennoch kam ich seinem Wunsch nach, mich von diesen Dingen fernzuhalten und habe später eine normale Polizeiausbildung gemacht. Dad wollte für mich, dass ich ein gewöhnliches Leben führte. Ein Leben ohne Lügen und Geheimnisse. Was nicht immer gleichbedeutend mit einem gefahrlosen Leben war.« Er wurde wieder nachdenklicher.

Ich fragte kein weiteres Mal nach, woran der Versuch, ein normaler Polizist zu sein, schließlich gescheitert war. Dennoch hatte ich noch haufenweise mehr Fragen. Vor allem, was Ben im Fall der Vampire plante. Würde er die Sache wirklich der CF überlassen oder selbst ermitteln? Was könnte noch alles passieren, wenn das Gleichgewicht der Hexenmagie gestört war? Würden noch mehr Fabelwesen in unsere Welt übertreten? Noch gefährlichere? Wäre es irgendwann nicht mehr zu verantworten, Luke und die anderen damit zu beauftragen?

Ein schrilles Klingeln ließ uns aufschrecken. Jemand stand unten vor der Eingangstür. Ben und ich sahen uns erschrocken an. Dann klingelte es ein weiteres Mal. Diesmal in meiner Wohnung. Es war Bens Handy.

»Saskia steht unten. Sie hat uns was zu Essen mitgebracht«, klärte er mich auf.

»Das ist ja lieb. Dann wollen wir sie mal nicht vor der Tür stehen lassen.« Offenbar hatte er ihr Bescheid gesagt, wo wir steckten, nachdem wir die Detektei verlassen hatten.

»Na, den Schrecken schon verarbeitet?«, begrüßte mich die vollgepackte Blondine, als ich ihr die Tür öffnete.

»Wie man es nimmt. Komm rein. Wir haben uns bisher nur mit Cornflakes und Keksen am Leben gehalten.«

»Ich hab was vom Inder, Chinesen und Amerikaner dabei. Bedient euch«, sagte Sas und breitete das bunte Festmahl auf meinem kleinen Wohnzimmertisch aus. Sofort begann mein Magen zu knurren.

»Sorry, ich habe mich ein paar Stunden aufs Ohr gelegt«, entschuldigte ich mich für mein babyrosa und weißes Schlafanzug-Morgenmantel-Outfit.

»Kein Ding. Aber wenn ich dir mal wieder was leihen soll, dann sag Bescheid«, neckte Sas mich und schwang sich auf den kleinen ebenfalls giftgrünen Sessel neben meinem Sofa. »Oh, ehe ich es vergesse!«, rief sie dann und kramte in ihrer Handtasche herum. »Die CF hat dein Handy gefunden, Lex. Na ja, das, was davon noch übrig war. Die Sim und SD scheinen aber heil geblieben zu sein. Die kannst du in dein neues Smartphone stecken und bist wieder erreichbar.«

»Mein neues – was!?« Saskia reichte mir einen kleinen weißen Karton, in dem ein teurer Inhalt lag. »Alter Schwede! Das kann ich mir nicht leisten. Das nehme ich nicht an.«

»Hat die CF bezahlt. Außerdem, was ist aus den 5000€ Abfindung geworden, die du für den Spionageauftrag erhalten hast?« Saskia schaute mich neugierig an.

»Die spare ich für ein Auto«, antwortete ich und betrachtete mein neues Luxus-Handy. »Was das betrifft, hat sich die ganze Aufregung ja direkt gelohnt.«

Saskia schmunzelte und schob sich ein Hühnchen-Nugget in den Mund. Und Ben? Er verfiel wieder in seine distanzierte Haltung. Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Allerdings war ich mir jetzt sicher, dass ich falsch damit lag, dass er und Saskia zusammen waren. »Sie sind nicht meine Freunde«, hatte er über sein Team gesagt. Und auch jetzt herrschte keine Nähe zwischen den beiden. Vor mir bräuchten sie sich schließlich nicht zu verstecken. Was ging mich ihr Privatleben an? Sie nannte ihn, wie alle anderen auch Marlowe. Mit Du zwar, aber bisher hatte ich niemanden Ben zu ihm sagen hören. Also entschied ich mich, solange jemand dabei war, auch wieder zu Marlowe zu wechseln.

Wir aßen alle Gerichte durcheinander und versuchten, über andere Themen zu sprechen als Vampire und Fabelwesen. Später schauten wir ein paar Filme. Während Saskia und ich immer wärmer miteinander wurden, mutierte Marlowe zu einem Geist. Er schien nur körperlich anwesend zu sein. Was mochte nur sein Geheimnis sein? Ich würde es vermutlich niemals herausfinden, denn ich hatte das Gefühl, dass wir kein weiteres Mal so viel Zeit zu zweit verbringen würden. Nicht bis zum 31.12.2017, meinem letzten Arbeitstag in der Detektei.

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