Historia rerum Anglicarum / Part 2
»ES MUSS TOLL SEIN, so abgeschieden zu wohnen.« Tuyet und ich hatten uns zu einem Wochenendtrip in den Harz verabredet. Sie wollte mir endlich alle Ecken meiner neuen Heimat zeigen, die ich noch nicht kannte.
Wir gingen an einem wunderschönen sonnigen Tag auf einem Wanderweg spazieren. Zu unserer Rechten lag ein Wohngebiet. Typische DDR-Plattenbauten tauchten mitten im Wald auf. Ja, diese Leute lebten wirklich weit ab vom Schuss. Aber auch sehr idyllisch, musste ich meiner Freundin recht geben. Hier hatte man seine Ruhe. Keine Straßen ringsum. Lediglich die Schienen der Harzer Schmalspurbahn schlängelten sich auf der gegenüberliegenden Seite durch die Fichtenplantagen. Aber die wunderschönen alten Dampfrösser würden wohl eher das tägliche Highlight für die Bewohner sein, die ansonsten nichts als Nadelbäume und Wiesen zu Gesicht bekamen.
Als wir weitergingen, sahen wir einen Wäscheplatz, auf dem zahlreiche Klamotten zum Trocknen aufgehängt wurden, die im leichten Wind friedlich wehten. Die Vögel zwitscherten. Es war einfach wunderbar.
Auf einmal entdeckten Tu-Tu und ich einen seltsamen, lose in der Gegend herumstehenden Überbau. Darin befand sich ein weit geöffnetes Tor. Wir gingen hindurch und kamen auf eine kleine Lichtung. An deren Ende sahen wir eine weitere Unterführung. Vermutlich fuhren die Züge darüber hinweg. Allerdings sah die Gegend rund um und hinter dem zweiten Tunnel seltsam düster und verwildert aus. Tuyet und ich waren uns einig, dass wir nicht hindurchgehen wollten, und kehrten um.
Als wir das erste Tor erreichten, sahen wir, dass dort jemand war und dieses verschloss. Also entschieden wir uns, stattdessen den Weg entlang der Schienen zu nehmen. Allerdings kam in genau diesem Augenblick eine Eisenbahn und das Risiko eines Unfalls war uns dann doch zu hoch.
Schließlich entdeckten wir neben dem großen Tor noch einen kleineren Durchgang, der auf die andere Seite führte. Wir konnten gerade noch hindurchschlüpfen, bevor auch dieser Gang verschlossen wurde. Wir erkannten schließlich, dass es ein alter Mann mit Bart war, der die ganzen Tore zugemacht hatte. Er war ziemlich unfreundlich, als er uns bemerkte. Aber dabei sollte es nicht bleiben.
Direkt vor unseren Augen krümmte sich der Senior und gab schmerzerfüllte Laute von sich. Wir wollten ihm helfen, doch als er wieder aufblickte, erkannten wir, dass seine Augen grün aufleuchteten. Er begann, zu fauchen und zu kreischen, und dann nahm seine Haut einen immer grünlicheren Ton an. Seine Knochen knackten und seine Klamotten rissen entzwei. Es bildeten sich Schuppen und Warzen auf seinem Körper und sein Gesicht wandelte sich in eine groteske Fratze mit langen spitzen Zähnen und einer reptilienartigen gespaltenen Zunge. An seinen Händen und Füßen waren scharfe Krallen gewachsen und eine Schleimschicht bildete sich auf seiner Haut.
Tuyet und ich standen wie gebannt vor dieser Kreatur. Als diese sich langsam in unsere Richtung bewegte, nahmen wir allerdings die Beine in die Hand und rannten um unser Leben. Tuyet hatte meine Hand gepackt und zerrte mich hinter sich her. Ich drehte mich immer wieder zu unserem glitschig-grünen Verfolger um. Ich wollte wissen, was er war. Als das Viech immer näher kam, rannte auch ich wie angestochen los und überholte Tu-Tu beinahe.
Wir düsten den ganzen Weg an dem Wohngebiet vorbei. Dann kam eine kleine Anhöhe und das Laufen wurde beschwerlicher. Doch unser Monster war uns noch immer dicht auf den Fersen. Am Gipfel des Hügels konnten wir schließlich ein Hotel sehen. Wir liefen darauf zu und ein paar Leute, die mit ihrem Hund spazieren gingen, wunderten sich, warum wir so panisch durch die Landschaft rannten.
Wir konnten das Schleimungeheuer nicht mehr sehen, als wir das Hotel erreicht hatten. Wir gingen hinein und verschanzten uns in einem der Zimmer. Dort schnauften wir erst einmal durch und überlegten, was das gewesen sein könnte. Eine perfekte Halloween-Verkleidung?
Wir schalteten das Radio ein. eichenstedt.fm lief. Maria Simoni berichtete, dass auf dem Brocken sonderbare Hexenwesen aufgetaucht seien. Tu-Tu und ich dachten darüber nach, dass geisterhafte Kreaturen versuchen würden, unsere Welt zu bedrohen.
In diesem Moment hörten wir laute Stampfgeräusche und die Tür wurde gewaltsam aus ihren Angeln gerissen. Das grüne Monster stand vor uns, riss sein stinkendes Maul auf, welches immer größer wurde und sprang auf uns zu. Ich konnte ihm direkt in den Schlund blicken bevor ich ...
... schweißgebadet und nach Luft schnappend in meinem Bett aufwachte.
Mein Wecker zeigte 17:52 Uhr an. Ich konnte mich nur allmählich daran erinnern, dass Marlowe, ähm, Ben und ich Cornflakes gegessen hatten. Dann war ich duschen und bin gegen 10:30 Uhr schlafen gegangen. Eigentlich wollte ich mich nach dieser verrückten Nacht nur ein bisschen aufs Ohr legen. Daraus war wohl nichts geworden. Obwohl ich den ganzen Tag verschlafen hatte, fühlte ich mich schlechter als zuvor. Kein Wunder, wenn ich dann auch noch solchen Unsinn träumte. Grüne Monster. Verfolgung. Lange spitze Zähne. Ich warf mir meinen Morgenmantel um und ging ins Wohnzimmer.
Dort fand ich meinen Boss schlummernd auf meinem grünen Sofa vor. Er war im Sitzen eingeschlafen und auf seinem Schoß lag Charles, der mich sofort bemerkte und heruntersprang.
»Oh, gosh! What's going on?« Ben blinzelte sich mehrmals den Schlaf aus den Augen und blickte sich verwirrt um. »Lex! Al- alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Ich hab was ganz Blödes geträumt«, antwortete ich leise und kam mir vor wie damals als Kind, wenn ich nachts nach einem Albtraum zu meinen Eltern ins Schlafzimmer kam. »Tuyet und ich wurden von einem grünen schleimigen Monster verfolgt. Es wollte uns fressen, glaube ich. Mir ist kalt.«
Ben, der selbst erst mal wieder richtig zu sich kommen musste, rieb sich die letzten Reste Schlaf aus den Augen. Schließlich ging er zunächst auf mich zu, machte dann aber kehrt und huschte zur Heizung, um sie höher zu stellen. »Du hast etwas Traumatisches erlebt, Lex. Das geht nicht spurlos an einem vorbei. Du musst das alles verarbeiten. Das kann dauern.«
Ich wusste nicht, was ihm passiert war, aber mittlerweile war ich mir sicher, dass Ben ebenfalls Erfahrung mit schweren Situationen in seinem Leben machen musste.
»Warum machst du diesen Job eigentlich noch?« Die Frage war schneller ausgesprochen, als zu Ende gedacht. »Ähm, ich meine, also. Na ja. Es ist gefährlicher, als ich mir das vorgestellt habe. Es ist weitaus mehr als nur kleine Tierchen einfangen. Luke wäre letztens beinahe ertrunken. Saskia wurde leicht verletzt, als sie mit der Trickbetrügerin mitgefahren ist. Jetzt wurde ich von Vampiren entführt. Ich möchte nicht wissen, was alles passiert ist, bevor ich dabei war.«
Bens Gesicht wurde härter. Dann schaute er sich kurz im Raum um, als würde er überprüfen, ob wir wirklich alleine waren. »Es hat schon immer auch gefährlichere Situationen gegeben«, begann er zu erzählen und ging wieder zum Sofa, wo er sich neben seinen Hund setzte. »Aber in letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass die Sache außer Kontrolle gerät. Da steckt weitaus mehr dahinter, als gelegentliche Störungen zwischen den beiden Welten.«
Ich setzte mich ebenfalls aufs Sofa und kraulte Charles hinter den Ohren.
»Die Parallelwelt wurde von Hexen erschaffen«, fuhr Ben fort. »Derartige Zauber setzen eine ungeheure Magie voraus. Dafür benötigen Hexen Unterstützung. So binden sie ihre Zauber beispielsweise an eine natürliche Kraft. Das kann ein Neumond sein, ein seltener Blutmond oder auch ein Komet. Auch irdische Dinge können dafür verwendet werden. Gestein, Bäume oder sogar Menschen. Hexen, denen eine besondere Kraft innewohnt.« Ben machte eine Pause und trank einen Schluck Wasser.
»Es braucht also eine Art Gleichgewicht, verstehe ich das richtig?«, hakte ich neugierig nach.
»Correct. Die Hexen sehen sich als Diener der Natur. Alles, was sie durch Zauberei erschaffen, widerspricht jedoch den natürlichen Gesetzen. Vor allem solch einschneidende Entscheidungen, eine komplette Welt entstehen zu lassen, die neben unserer existiert. Es gibt übrigens mehrere davon.« Ben schmunzelte allwissend. Ging aber nicht weiter darauf ein. »Die Fabeltierwelt wurde mit guten Absichten hervorgebracht. Die Wesen waren oder besser gesagt sind Teil der Natur. Sie zu retten rechtfertigte eine solche Tat. Dennoch mussten die damaligen Hexenzirkel einen Schwur ablegen.«
»Ein Schwur, der jetzt gebrochen wurde?«, ahnte ich.
»Perhaps. Die an dem Zauber beteiligten Hexen verpflichteten sich der Natur gegenüber, niemals Magie zum Vorteil einer widernatürlichen Kraft einzusetzen.«
»Könnten damit Vampire gemeint sein?«, fragte ich zögerlich.
»Auch.« Ben trank einen Schluck Wasser. »Der Schwur wurde auf all ihre Nachkommen übertragen. Bei Zuwiderhandlung würde der Zauber, welcher die Parallelwelt erschaffen hat, schwächer werden.«
»Wodurch vermehrt Fabelwesen übertreten können.«
Ben nickte stumm. »Und auch andere Phänomene können sich dadurch verstärken. Denk an deinen Poltergeist, Lex. Ein Ungleichgewicht zwischen den natürlichen Mächten und den Hexenkräften kann vieles verursachen.«
»Vampire sind also keine Fabelwesen?«, hakte ich bei diesem Thema noch einmal nach.
»Nicht aus Sicht der Natur. Deshalb hat die CF für sie eine eigene Abteilung.« Ben kratzte sich am Kinn. »Vampire sterben keinen natürlichen Tod. Die Natur duldet jedoch nichts, das wirklich unsterblich ist. Deswegen zerfallen Vampire beispielsweise im Sonnenlicht zu Asche und sind allergisch gegen Eisenkraut.«
»In den Spritzpistolen war also Wasser mit Eisenkraut drin?«, dachte ich an die ungewöhnlichen Waffen zurück, mit denen die CF-Agenten den Blutsaugern zu Leibe gerückt waren.
»Yes. Ihre Haut verbrennt bei Kontakt ähnlich wie in der Sonne. Hast du Eisenkraut im Organismus, können sie dich weder manipulieren noch aussaugen.«
»Es sei denn, sie nehmen das Zeug regelmäßig und werden immun. Das hat einer der Vampire gesagt, der mir an die Venen wollte.«
»Das ist beunruhigend.« Ben kratzte sich wieder am Kinn.
»Aber warte mal«, unterbrach ich seine Gedanken. »Willst du mir wirklich sagen, dass Hexen etwas mit den Vampiren zu tun haben und das Gleichgewicht der Macht deswegen gestört ist?«
Ben schmunzelte. »Das klingt ein wenig nach Star Wars. Aber ja. Wir sollten in diese Richtung denken.«
»Wen meinst du mit wir? Die CF oder dich und dein Team?« Ich schaute ihn auffordernd an. Bens Vorbehalte der CF gegenüber waren mir nicht entgangen.
Er zog scharf die Luft ein und wirkte angespannt. »Die CF«, antwortete er schließlich. »Vampire und Hexen gehen uns nichts an. Wir retten die Fabeltiere. That's it.«
»Du hast mir meine erste Frage noch nicht beantwortet«, bohrte ich weiter nach. »Wenn selbst das Retten der Fabelwesen immer gefährlicher wird, wie kannst du das aushalten? Ich könnte das auf Dauer nicht. Meine Freunde in solche Abenteuer schicken und nie zu wissen, ob und wie sie wieder zurückkehren.«
»Es sind nicht meine Freunde.« Ben stand auf. »Sie haben sich freiwillig dafür entschieden, diesen Job zu machen. Sie können jeder Zeit gehen. So wie du es tun wirst.« Er blickte durch das Fenster auf die Fußwege und Straßen vor meinem Wohnhaus.
»Und wenn die CF mich nicht gehen lässt, nachdem sie mich untersucht hat? Vielleicht sollten wir den Termin in München absagen?«
»Möchtest du denn gar nicht wissen, was mit dir los ist?« Ben drehte sich nicht zu mir um, als er sprach.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Ich schluckte schwer. »Wenn ich die Wahl habe zwischen diesem Wissen und meiner Freiheit – meinem früheren Leben – dann würde ich wohl Letzteres wählen. Ich bin nicht stark genug für solche Dinge.«
»Allein, dass wir dieses Gespräch führen, beweist das Gegenteil«, sagte Ben und drehte sich wieder zu mir um. »Trotz allem, was du diese Nacht durchgemacht hast, ist dein Interesse am Übernatürlichen ungebrochen.«
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