Hirculus crepans / Part 2
DA LAG ICH NUN, mit zitternden Knien mitten in der Nacht auf einer Wiese am Rande der Stadt. Vor mir, mit gesengtem Kopf, stand ein seltsames Geschöpf.
Es sollte nicht lange dauern, bis Momo und Luke mich eingeholt hatten. Während der große Blonde in seinem Rucksack kramte, kam Momo mit vorsichtigen Schritten näher. Das blieb nicht unbemerkt und mit einem Satz sprang das hasenartige Tier in die Luft und schlug dabei mit den Hinterbeinen in Richtung seiner Verfolger aus.
»Oh, wow! Ein großes und kräftiges Exemplar. Das wird nicht einfach«, murmelte Luke, als er mit einem Sack in der Hand zu uns aufschloss.
»Versuch, ihn zu beruhigen«, wandte sich Momo wieder an mich. »Irgendwie scheint er auf dich anzuspringen.«
»Ja, im wahrsten Sinne des Wortes.« Immerhin ist er mir schon zweimal ins Kreuz gesprungen. »Jetzt klärt mich endlich mal auf. Was zur Hölle ist das für ein Tier?«
»Ein Seltenes, das geschützt werden muss. Jetzt hör auf, Fragen zu stellen, und tu, was wir dir sagen.« Luke runzelte die Stirn und näherte sich. Dabei versuchte er, kein Geräusch von sich zu geben. Bei seiner Größe und kräftigen Statur ein Ding der Unmöglichkeit. Schneller, als man blinzeln konnte, war das Tier erneut auf und davon.
»Hinterher!« Momo wedelt wieder mit seinen Händen vor mir herum. »Wir müssen ihn finden und einfangen. Dafür ist nicht die ganze Nacht Zeit.«
»Bis 06:16 Uhr. Dann geht der Mond unter.« Luke blickte auf seine Uhr und stieß hörbar Luft aus. »Aber so lange will ich hier nicht durch die Botanik latschen. Also, die Dame.« Mit hochgezogenen Augenbrauen platzierte er sich vor mich.
»Was denkt ihr euch eigentlich? Ich habe auch keine Lust, die ganze Nacht irgendwelche Tiere zu verfolgen. Ich bin nicht eure Mamsell!« Aufs Neue wollte ich aus der Situation fliehen.
»Da vorne ist er!« Momo zupfte an meinem dunkelbraunen Mantel, als das unbekannte Wesen etwa 200 Meter vor uns zu grasen begann. »Schleich' dich an ihn heran. Luke, geh da hinten lang, da bist du in Deckung.«
Mit einem kurzen Nicken gab Luke sein Einverständnis kund und kroch sogleich hinter den Bäumen und Büschen zu unserer Rechten in Richtung der mümmelnden Merkwürdigkeit.
»Los, worauf wartest du?« Momos Stimmlage schnellte abermals in die Höhe, als er auch mich zur Umsetzung seiner Befehle bewegen wollte.
»Erst, wenn ihr mir erklärt, was das ist und warum das Tier gefangen werden muss«, stellte ich mich mit verschränkten Armen vor ihn hin.
»Du musst uns glauben, dass wir dir das nicht sagen können. Es ist aber wichtig, dass wir ihn in Sicherheit bringen. Er gehört hier nicht her und könnte in Gefahr geraten.« Momos Blick verriet mir, dass ihm die Sache am Herzen lag und wenn ich damit einem Tier in Not helfen konnte, würde ich versuchen, den beiden bei ihrem Vorhaben zu unterstützen.
»In Ordnung. Ich locke ihn noch mal an. Wer oder was er auch immer ist.«
»Vielen Dank. Ich verspreche dir, dass wir dir und dem Tier nichts Böses wollen.« Momo nickte Luke zu, der im Gestrüpp ungeduldig auf seinen Einsatz wartete und ging dann ebenfalls in Deckung.
Die letzten beiden Male ist dieses Tierchen von allein zu mir gekommen, als ich mit ganz anderen Dingen beschäftigt war. Diese Strategie wandte ich erneut an. Ich startete meine Pokémon Go-App und fing dort selbst erst mal ein vogelähnliches Wesen namens Taubsi. In der Zwischenzeit hatte sich auch mein Real-life-Pokémon vom Äsen abgewandt und sich an mich geheftet. Dessen bewusst, starrte ich weiterhin auf mein Handy und flanierte in Lukes Richtung, der sich in seinem Versteck bereit machte, zum Fang.
Dann ging alles blitzschnell. Ehe sich das Tier seiner Lage bewusst werden konnte, fand es sich bereits in Lukes Jutesack wieder. Das wilde Gestrampel wurde durch eine Betäubungsspritze gestoppt.
»Das arme Vieh! Was habt ihr denn jetzt mit ihm vor?« Mir war nicht wohl bei der Sache. Habe ich gerade Wilderern geholfen, ein seltenes Tier zu erbeuten? Tausend grausame Gedanken wirrten in meinem Kopf herum.
»Alles gut. Wir tun ihm nichts.« Momo blickte sich aufmerksam um. »Jetzt tragen wir ihn erst mal ins Auto. Unauffällig. Dann fahren wir zur Garage, wo er sich zunächst erholen kann.«
»Garage?«
»Ja, Garage. Und dahin bringen wir dich auch.« Luke hatte seinen unhöflichen Ton trotz meiner Hilfe nicht abgelegt.
»Ich will nach Hause und nicht in irgendeine Garage.«
»Sorry, aber Luke hat recht. Vorerst müssen wir dich mitnehmen«, sprach Momo, während er wieder in sein Smartphone vertieft war.
»Ich steige aber nicht zu fremden Männern ins Auto, auch nicht, wenn sie Tiere dabei haben.«
»Stell dich nicht so an. Los, rein da!« Mit einem Kopfnicken hielt Luke mir die Seitentür des dunkelblauen Mercedes Vito auf, welcher damit dieselbe Farbe wie die Jacken der beiden Kerle hatte. Anschließend öffnete er die Ladefläche, in der bereits ein Gitterkäfig für größere Hunde stand. Darin legte er den schlafenden, tja, Bock, wie sie das Tier nannten.
Gerade, als ich überlegte, noch schnell aus dem Kleintransporter zu springen, stiegen Momo und Luke auch schon ein, starteten den Motor und knatterten los. Also Luke fuhr. Momo war weiterhin in sein Smartphone vertieft.
Es war eine schweigsame Fahrt, die am nordwestlichen Außenrand Eichenstedts endete. Leider konnte ich weder etwas darüber herausfinden, welche Art von Tier wir da im Laderaum hatte, noch – und das war mir am wichtigsten – was diese Chaoten mit mir vorhatten.
Wir kamen auf einem Parkplatz an, der zu einer ehemaligen Autowerkstatt zu gehören schien. Nun wusste ich, was Luke mit Garage meinte.
»Raus mit dir«, kommandierte Luke mich sogleich wieder herum. Grobian. »Halt uns die Tür auf.« Er deutete auf den umgebauten Eingangsbereich, der seinen Werkstattcharme noch nicht ganz verloren hatte. Beim Näherkommen, konnte ich endlich lesen, welche Art von Firma sich derzeit darin befand und damit auch den Arbeitgeber der zwei glorreichen Halunken identifizieren.
M.B.P. Marlowe
Privatdetektiv
»Ihr seid Detektive?«, rief ich ihnen entgegen.
Momo und Luke schleppten den Käfig mit dem Hasen-Rehbock-Wasauchimmer in die Eingangshalle. Seine Ohren zuckten unruhig. Bald würde er aufwachen.
»Was will die denn hier?« Eine Frauenstimme tönte hinter dem Empfangstresen hervor. Sie gehörte zu einer Frau in meinem Alter mit langen glatten wasserstoffblonden Haaren und einem Gesicht, welches vom Cover eines Modemagazins entsprungen sein könnte. Wenn ich nur halb so hübsch wäre, müsste ich mir über meine Schauspielkarriere keine Sorgen machen.
»Gar nichts will ich hier«, antwortete ich. Luke fiel mir aber sofort ins Wort.
»Sie war einfach plötzlich da. Draußen, wo wir den Rasselbock gefunden haben.«
»Rasselbock?«, rief nun wiederum ich dazwischen. »Das Vieh ist ein Rasselbock? Was zum Teufel ist ein Rasselbock?«
Luke verzog das Gesicht und spannte den ganzen Körper an.
»Das wird grade immer mieser«, hauchte Momo kaum hörbar.
»Finde ich gar nicht. Jetzt weiß ich wenigstens, wie das Wesen heißt, bei dessen Fang ich euch geholfen habe. Rasselbock.« Ich schenkte dem Tier meine Aufmerksamkeit, während die blonde Frau eilig näherkam.
»Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Mohammad, Lukas. Ihr wollt mir nicht ernsthaft weismachen, dass diese Tante hier euch dabei geholfen hat, das Tier zu fangen? Wieso?«
»Beruhig dich, Saskia«, versuchte Momo die Wogen zu glätten. »Wie Luke bereits sagte, sie war einfach dort und der Bock ist immer wieder zu ihr gegangen. Wir konnten nicht verhindern, dass sie ihn sieht. Deswegen haben wir sie hergebracht. Sie laufen zu lassen, wäre zu riskant gewesen. Wer weiß, wem sie alles davon erzählt hätte.«
»Und sie hier herzubringen macht die Sache besser oder was?« Saskia griff sich in ihr langes Haar. »Jetzt weiß die nicht nur von dem Vieh, sondern auch, dass unsere Detektei etwas damit zu tun hat.«
»'Tschuldigung, aber das hast du gesagt«, erhob ich Einspruch. »Bis eben hättet ihr mir alles auftischen können, aber desto weiter ihr die Situation ausklamüsert, umso mehr verplappert ihr euch.«
»Fuck! Verdammt! Kann man euch nicht einmal losschicken, ohne, dass etwas passiert?« Saskia lief rot an und begann, im Kreis zu laufen. »Wenn Marlowe das mitkriegt, gibts richtig Ärger. Ist euch eigentlich bewusst, was das bedeutet? Es ist unsere scheiß Aufgabe, dafür zu sorgen, dass kein Mensch diese Wesen zu Gesicht bekommt.«
»Ja, verflucht. Sonst hätten wir sie nicht hierher gebracht. Der Boss soll entscheiden, was wir mit ihr machen.«
»Der kommt aber erst Dienstag aus L.A. zurück«, brachte Momo zum Einwand.
»Eben. Was sollen wir bis dahin mit ihr machen? Sie einsperren?« Saskia deutete auf den Käfig, in dem sich der Rasselbock langsam zu rühren begann.
»Nein, natürlich nicht«, wurde Luke kleinlaut. »Aber wir könnten sie eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen lassen.«
»Und du meinst, das reicht, um sie davon abzuhalten, zum nächstbesten Reporter zu latschen, und die Story teuer zu verkaufen?« Saskia schaute mich zum ersten Mal direkt an. »Wie heißt du eigentlich?«
»Alexis Emmerich«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Detektive anzulügen erscheint mir nicht gerade förderlich zu sein.
»Und du arbeitest wo?«, fragte sie weiter.
»Im Schiller Theater.« Es konnte ja sein, dass sie von dessen Schließung noch nichts wussten. Diese Notlüge könnte mir etwas Zeit verschaffen.
»Gibts nicht mehr«, kam prompt die Enttäuschung. »Also auch noch eine Lügnerin. Na, besten Dank.«
»Wir hatten heute die finale Vorstellung. Maria Stuart. Mein Arbeitsvertrag läuft noch bis Ende des Monats.« Letzteres war sogar die Wahrheit. Das hatte ich beinahe vergessen.
»Dann musst du die kommenden Tage nirgendwo hin?«, fuhr Saskia mit ihrer Befragung fort.
»Nein, muss ich nicht.«
»Und du bist ausgebildete Schauspielerin?«
»Ja. Ich habe in Berlin gelernt. Seit anderthalb Jahren lebe ich in Eichenstedt.«
»Interessant.« Saskia umkreiste mich wie ein Wolf seine Beute. Man konnte die Räder in ihren Gedanken förmlich rattern hören. Während Luke und Momo schweigend neben uns standen, schien die Dame des Hauses nach einer Lösung zu suchen, die für jeden von uns praktisch war.
»Marlowe wird uns alle umbringen, so viel steht fest«, schien sie zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Saskia hechtete wieder hinter den Tresen und blätterte in einem Terminkalender herum. »Freitag«, sagte sie dann und zeigte mit dem perfekt manikürten Finger auf einen Eintrag. »Am Freitag sollen wir einem Hinweis nachgehen, wonach sich in dem alten Ladenkomplex im Südosten der Stadt eine Trickbetrügerbande aufhält.«
»Klingt spannend, aber was habe ich damit zu tun?« Mir schnürte sich der Hals zu, als ich Saskias hämisches Grinsen sah.
»Als Schauspielerin kannst du perfekt in eine andere Rolle schlüpfen. Das können wir uns in diesem Fall zunutze machen«, begann sie, uns ihren Plan mitzuteilen. »Beschatte die Bande. Tu so, als wärst du eine von ihnen. Sammle so viele Beweise und Informationen wie möglich. Wenn du so gut bist, wie du behauptest, sollte das kein Problem für dich sein.«
»Ich habe nie behauptet, dass ich –«
»Ich habe mich als Jugendliche sehr für Kosmetik und Maskenbildnerei interessiert. Ich verpasse dir ein angemessenes Aussehen«, fiel Blondie mir ins Wort. »Bis dahin bleibst du für uns erreichbar, sagst zu niemandem ein Sterbenswörtchen. Wenn du dich verplapperst, werden wir dafür sorgen, dass du als Idiotin dastehst. Außerdem würdest du den Bock in Gefahr bringen. Ich vermute, du magst Tiere genauso sehr, wie wir und möchtest, dass dem Rasselbock nichts passiert.«
Ich wusste, was sie meinte. Wenn die Welt von diesem sonderbaren Tier erführe, würden die Menschen ihn im besten Fall in einem Zoo ausstellen. Im Schlimmsten würde er ausgestopft bei einer Auktion an den Meistbietenden versteigert werden. So langsam begriff ich, was hier auf dem Spiel stand.
Ich nickte und betrachtete das Tierchen erneut.
»Saskia, jetzt bist du es, die wahnsinnig geworden ist«, erwachte Luke zu neuem Leben. »Der Boss dreht dreimal durch, wenn er erfährt, dass eine wildfremde Frau für uns Aufträge durchführt.«
»Das Kind ist so oder so in den Brunnen gefallen. Außerdem ist das nur einer der kleineren Einsätze. Wir wissen nicht einmal, ob an den Hinweisen etwas dran ist.«
»Und was soll das bringen?«, stellte Momo die Frage, die auch mir auf der Zunge brannte.
»Sie bekommt danach eine satte Abfindung, verschwindet auf Nimmerwiedersehen aus unserem Leben und wir behalten die ganze Angelegenheit für uns. Was Marlowe nicht weiß, macht ihn nicht heiß.« Für Saskia schien die Sache erledigt zu sein.
Wir übrigen drei schauten uns unsicher an.
»Ich halte das nicht für richtig«, traute sich Momo als Erster, wieder was zu sagen. »Letzten Endes sind wir es, die etwas von ihr wollen. Warum muss sie dann für uns Arbeiten?«
»Sie soll sich unser Vertrauen verdienen. Andernfalls müssen wir sie doch in einen Käfig sperren. Hier steht eine Menge auf dem Spiel.« Saskia bediente sich an den Weintrauben, die auf dem Tresen standen, gähnte herzhaft und verabschiedete sich von uns, ohne weiter auf die Problematik einzugehen.
»Da habt ihr mich ja in eine schöne Sache reingeritten«, pflaumte ich meine beiden Entführer an. »Ihr hättet mich ruhig laufen lassen können. Dann hätte ich gedacht, ihr jagt nachts Hasen und hätte die ganze Sache schnell vergessen.«
»Das hätte man tun können«, pflichtete Momo mir bei. Mit einem Blick zu dem Rasselbock, der mittlerweile wieder putzmunter war, presste er allerdings die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. »Jedoch hat Saskia recht. Hier geht es um mehr, als nur einen Hasen. Zumal wir ihn ohne dich nicht hätten fangen können. Uns blieb keine andere Wahl. Es tut mir leid, ähm, Alexis. Richtig?«
»Kannst mich Lex nennen, Momo«, gab ich mich versöhnlich. Etwas anderes blieb auch mir vorerst nicht übrig. Ich konnte nur hoffen, dass sich die ganze Sache am Freitag erledigen würde und ich mit diesen Leuten und Wesen nichts mehr zu tun haben müsste. Apropos Tiere:
»Jetzt seid ihr es mir aber schuldig, mich einzuweihen, was ein Rasselbock ist und warum ich noch nie zuvor einen gesehen habe.«
»Hirculus crepans, manchmal auch Rasselus bockus genannt«, begann Momo erhobenen Zeigefingers zu erklären. »Der Rasselbock ist ein Fabelwesen, das vornehmlich in Mitteldeutschland vorkommt. Im Süden des Landes gibt es den verwandten Wolpertinger. Die hessischen Dilldappe und die westalpinen Dahus sind ähnliche Geschöpfe. Auch in Nordamerika gibt es eine Variante. Die Jackalope. Allesamt sind hasenartige Tiere mit einem Geweih beziehungsweise Gehörn zwischen den Ohren.«
»Groß ist Deutschlands Jagdrevier,
doch Rasselböcke gibt's nur hier.
Man fängt bei hellem Mondenschein,
lebendig sie im Sacke ein.«
Es war Luke, der mit dieser poetischen Ergänzung mein bisheriges Weltbild noch mehr ins Wanken brachte.
»Ihr wollt mir nicht ernsthaft erzählen, dass ich hier vor einem echten, lebendigen Fabelwesen stehe?«
Momo schnalzte mit der Zunge. »Willkommen in unserer Welt, Alexis Emmerich.«
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