Hirculus crepans / Part 1

ES WAR ZEHN MINUTEN nach Mitternacht, als ich gedankenverloren den Heimweg antrat. Eichenstedt war nicht groß, dennoch konnte man sich auf den verwinkelten Wegen und vielen Straßen gut die Zeit vertrödeln. Ich wohnte am anderen Ende der Stadt in einer kleinen Mietwohnung. Meine Nachbarin und Freundin Tuyet Phạm-Seyfarth, die ich liebevoll Tu-Tu nenne, wusste noch nichts vom vorläufigen Aus meiner Theaterkarriere. Sie war im Glauben, dass ich in ein paar Wochen zum Nordharzer wechseln würde, was leider nicht stimmte. Ich wollte sie nicht mit meinen Sorgen belasten, nachdem Tu-Tu nach der Scheidung von ihrem Mann im vergangenen Jahr ebenfalls ein neues Leben beginnen musste.

Außerdem wollte ich mir selbst etwas mehr Druck machen, schnellstmöglich eine neue Perspektive zu finden. Ich konnte diese Lüge schließlich nicht ewig aufrechterhalten.

Es war still in dieser Nacht. Was nicht anders zu erwarten war. In Eichenstedt passierte kaum etwas und unter der Woche erst recht nicht. Ein paar Nachrichten trudelten ein. Alte Freunde aus meinem früheren Leben. Den meisten davon hatte ich verschwiegen, wie es um meine derzeitige Situation stand. Glücklicherweise lasen sie keine Meldungen aus dem Eichenstedter Tageblatt, geschweige denn hörten sie eichenstedt.fm, den lokalen Radiosender, der die letzte Vorstellung des »Schiller Theaters« bereits vor einigen Tagen in seinen Veranstaltungstipps angesagt hatte. Den Kartenverkauf konnte auch das nicht ankurbeln.

Wenig später kam ich, in Pokémon Go vertieft, vom Weg ab. Ganz in der Nähe wurde eine neue Arena ins Spiel hinzugefügt. Diese musste ich auf jeden Fall erobern. Manchmal waren es wirklich die kleinen Dinge, die einen glücklich machen.

Mein Handy lotste mich eine etwas abgelegene Landstraße entlang. Es waren keine Autos unterwegs und die wenigen Laternen tauchten den alten Fußweg in ein orangefarbenes Licht. Drei Pokémon, die dem Team Valor angehörten, machten sich in der Arena breit, die an einem Infopunkt errichtet worden war. Ihre WP, Wettkampfpunkte, waren bereits auf einem niedrigen Level, sodass es nicht lange dauern würde, sie zu besiegen und die rote Arena in die blaue Farbe des Team Mystic umzuwandeln.

Ich beschleunigte die Schritte, um das Ziel rasch zu erreichen, als ich einen dumpfen Schlag gegen meine Beine spürte, der mich ins Straucheln brachte.

»Verdammt!« Eine Männerstimme quiekte hinter mir schrill auf, während ich an einer der Laternen Halt fand.

Neugierig drehte ich mich um und sah im Augenwinkel einen Schatten ins Gebüsch springen.

»War das Ihr Hund?«, fragte ich den großen blonden Kerl, der in Begleitung eines kleineren Dunkelhaarigen mit Brille eiligen Schrittes auf mich zugelaufen kam.

»Ähm, was? Ah, ja! Das, das war Hasso. Mein Sch-, Schäferhundmischling.« Der Bursche blickte mit zugekniffenen Augen auf sein Handy und atmete schwer, während er versuchte, sich die raspelkurzen Haare zu raufen.

»Hat Ihr Fiffi einen GPS-Sender? Wie lange verfolgen Sie ihn denn bereits?«, fragte ich amüsiert nach.

»Wenn das nur richtig funktionieren würde«, murmelte der Blonde vor sich hin und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Momo, was sind das für depperte Linien? Ich kann gar nichts erkennen?«

Momo, so offenbar der Name des kleineren Typen mit der großen Brille, schob eben diese ein wenig höher auf seine Nase und trat näher an uns heran.

»Das liegt an dem unwegigen Gelände. Das kann die Software nicht erfassen. Sorry, ich arbeite dran.« Eilig tippt er ein paar Wörter in sein Smartphone.

»Wir arbeiten jetzt daran, das Viech einzufangen, also komm und steh da nicht nur rum.«

Der große Blonde hechtete ins Gestrüpp, während dieser nerdige Momo nach wie vor die Finger nicht von seinem Telefon lassen konnte. Nachdem das Wort Viech für den Hund gefallen war, hatte ich die anfängliche Sympathie für diese Freaks rasch verloren. Dennoch bot ich meine bescheidene Hilfe an.

»Also wenn er da weiterläuft, kommt erst mal nichts weiter als Bewuchs, aber wenn ihr der Straße und dem Fußweg folgt, könntet ihr eurem Hund womöglich auf der anderen Seite den Weg abschneiden.« Das war zumindest das Bild, welches sich auf meiner Pokémon Go-App über die Gegend abzeichnete. Vielleicht sollten die beiden lieber Pokémon jagen, anstelle von echten Tieren.

»Vielen Dank. Luke und ich kommen schon zurecht. Geh ruhig weiter, der Ra-, der Hund, also der ist gefährlich. Ciao!«

Ein letztes hibbeliges Nicken und Momo verschwand ebenfalls im dichten Gesträuch.

»Was hält man davon?«, murmelte ich vor mich hin, während ich meinen Weg fortsetzte. Scheinbar gab es in Eichenstedt doch bizarre Personen und nicht nur Langweiler und Rentner.

Schnell war ich wieder auf meine Pokémontrainerkarriere fokussiert und erreichte endlich die Arena. Ein Pixi, ein Pummeluff und ein Chaneira standen darin und warteten auf einen Kampf. Ich sah alles in Rosa-rot, das musste ich ändern. Fix hatte ich meine besten Giftpokémon in Stellung gebracht und schon waren die Wettkampfpunkte des Pixi auf 0 gesetzt. Das Pummeluff erwies sich als deutlich zäher, das musste ich ein zweites Mal herausfordern, sobald ich –

»Was soll denn das!« Erneut wurde ich unsanft angerempelt und ließ beinahe mein Handy fallen. Mein Schimpfen blieb mir allerdings im Hals stecken, denn es stand kein Mensch hinter mir, den ich hätte anpflaumen können, sondern ein, ja ein Tier auf jeden Fall. Aber was für eines?

»Was bist du denn für ein Kerlchen?« Auf den ersten Blick hielt ich die Kreatur für einen Hasen. Allerdings schien er mir dafür ein wenig zu groß zu sein und was noch mehr dagegen sprach, war das rehbockähnliche Geweih zwischen seinen langen Ohren.

Ehe ich länger über ihn nachdenken konnte, senkte er seinen Kopf, bäumte sich auf und steuerte mit seinen Hörnern erneut auf mich zu. Ich schaffte es, ihm auszuweichen, und hielt abwehrend meine Hände vor meinen Körper. Daraufhin hüpfte und tänzelte das ungewöhnliche Tier um mich herum und schwang dabei immer wieder den Kopf zur Seite.

»Man, was willst du von mir? Ich tu dir doch gar nichts. Ich will nur schnell diese verdammten Pokémon besiegen und dann verschwinde ich wieder. Ja? Ach, und pass lieber auf diesen bissigen Hund auf, den die beiden Klappsmänner gesucht haben.«

Noch während ich diesen Satz aussprach, kam mir ein komischer Gedanke. Hatte mich dieser Hund vorhin nicht auch angerempelt, bevor er im Gebüsch verschwand? Und war das Verhalten dieser Kerle nicht merkwürdig gewesen?

Diesen Geistesblitz konnte ich nicht mehr weiterverfolgen, als sich neben mir das Blattwerk auftat und Blond und Brille zum wiederholten Male vor mir standen.

»Du schon wieder?! Du solltest doch verschwinden, verdammt!« Brille – sorry, Momo – sprang mit wedelnden Händen zwischen mir und dem Tier herum. Als ob er somit verhindern könnte, dass ich sehe, was ich sah.

Der große Blonde namens Luke schaute entgeistert und öffnete und schloss den Mund pausenlos, ohne auch nur ein Wort herauszubekommen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich zum denkbar ungünstigsten Moment aufgetaucht war.

»Euer Hund ist ein ganz schön freches Kerlchen«, sagte ich und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des sonderbaren Wesens.

»Die Rasse wurde als Wachhund gezüchtet. Er verteidigt uns gegen alles und jeden. Jetzt geh besser«, brummte Luke mit seiner sonoren Stimme und ging vor dem Hasendingsda leicht in die Knie.

Als würde ich dadurch nicht erkennen können, dass dieses Tier alles, aber ganz bestimmt kein Schäferhundmischling war. Im Gegenteil! Ich hatte besten Blick auf das, was als Nächstes geschah.

Das Tierchen nahm erneut Schwung und schon rumpelte es mit seinem gehörnten Kopf gegen Lukes Allerwertesten. Dieser konnte sich mit den Händen gerade noch abstützen, bevor er auf die Nase gelandet wäre.

»Verdammtes Scheißvieh!«, brüllte er dem schnaufenden Tier entgegen. Dieses schien zunächst unbeeindruckt, hoppelte dann aber davon.

»Und wieder weg.« Momo rückte seine Brille gerade und warf einen Blick auf sein Handy. Just als er die Verfolgung aufnehmen wollte, packte Luke ihn an der Schulter.

»Was machen wir mit ihr?«, sagte er und zuckte mit seinem großen runden Gesicht in meine Richtung.

»Ähm, jo. Irgendwie scheint sie eine anziehende Wirkung auf ihn zu haben. Ich denke, wir nehmen sie mit.«

»Sie mitnehmen? Mohammad, spinnst du? Der Boss wird Kleinholz aus uns machen.« Luke zupfte nervös an seiner dunkelblauen Jacke herum. Ich registrierte erst jetzt, dass er und sein Kumpan die gleichen Oberteile trugen. Gerade als ich entziffern wollte, was der Schriftzug darauf zu bedeuten hatte, zog Momo mich am Arm.

»Hast du eine bessere Idee?«, quiekte er. »Wenn wir sie laufen lassen, rennt sie zur nächstbesten Zeitung und erzählt, was sie gesehen hat.« Mit zuckenden Augenbrauen starrte er seinen Kollegen an, der ihn um einen ganzen Kopf überragte.

»Jungs, ich stehe genau neben euch«, meldete ich mich vorsichtig zu Wort. »Ihr könnt mit mir reden, anstatt über mich.«

»Sorry, Mädel, aber hierbei hast du nichts zu entscheiden.«

Mädel? Hatte mich der Lulatsch gerade wirklich Mädel genannt. Das wird ja immer bunter.

Eine Weile blickten sich die zwei Sonderlinge wortlos an. Schließlich schien ihre stumme Diskussion zu einem Ergebnis gekommen zu sein.

»Also dann, komm mit«, richtete Luke das Wort an mich. »Geh voran und versuche, den Bock zu finden. Wir folgen dir. Solange der Mond zu sehen ist, haben wir Zeit, ihn zu fangen.«

Der letzte Satz schien nicht unbedingt für mich bestimmt gewesen zu sein, dennoch kam ich nicht drum rum, nachzuhaken.

»Bock? Also wirklich kein Hund, was? Womit habe ich es hier zu tun und warum spielt der Mond dabei eine Rolle?«

»Du stellst zu viele Fragen, Mädel. Mach deine Situation nicht schlimmer, als sie ohnehin schon ist.« Unsanft schubste mich Luke, der Grobian, vor sich her.

»Ist ja gut. Menschenskind. Euretwegen kann ich die Arena jetzt vergessen.«

»Arena? Was stimmt mit dir nicht? Wir sind mitten im Nirgendwo.« Mit jedem weiteren Wort wurde mir Luke unsympathischer.

»Pokémon. Sie spielt Pokémon«, klärte Momo die Angelegenheit auf.

»Dann sag ich dir mal was, Mädel.« Wie er das Wort betonte, gefiel mir gar nicht. Langsam wurde mir die Sache immer unheimlicher. »Durch dieses alberne Spiel hast du uns in ganz schöne Schwierigkeiten gebracht. Du hättest nicht hier sein dürfen mitten in der Nacht. Mit dem, was du gesehen hast und noch sehen wirst, können wir dich nicht mehr gehen lassen.«

»Okay, gut. Das reicht mir.« Ich machte auf dem Ansatz kehrt und hob die Hände. »Wenn ihr mir so kommt, dann werde ich genau das tun. Gehen.«

Ich versuchte zwar, all meine schauspielerischen Fähigkeiten anzuwenden, merkte aber schnell, dass die Realität doch etwas komplett anderes war. Ja, ich hatte Schiss. Richtig Schiss. Aus meinem anfänglich selbstsicheren Schritt wurde rasch eine blitzschnelle Flucht in die Nacht hinein. Jedoch wusste ich vor lauter Panik nicht, wohin ich überhaupt lief. Vorhin hatte ich mich komplett auf die Karte im Pokémon Go-Spiel verlassen. Nun konnte ich mich an diesem Ort und in der Dunkelheit nicht mehr orientieren.

»Hilfe!«, rief ich zunächst verhalten. Schließlich fasste ich den Mut, zu meiner verzwickten Lage zu stehen, und brüllte in die Finsternis hinaus.

»Hilfe! Ist da wer?! Ich werde entf-« Ein heftiger Stoß brachte mich zu Fall und zum Schweigen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top