Haec omnia mendacia sunt

»DU HAST WAS?« Ich konnte nicht genau sagen, ob meine Mutter überrascht, enttäuscht, verärgert, traurig oder erfreut war, als ich ihr am Telefon mitteilte, dass ich vorerst doch in Eichenstedt bleiben würde.

»Ich habe einen neuen Job, Mami. Der Vertrag läuft ab 01. Oktober. Schließt sich demnach lückenlos an meinen Theatervertrag an. Ist doch großartig. So muss ich mich nicht arbeitssuchend melden.«

»Aber Alexis. Du hast doch deinen Traum nicht schon aufgegeben? Dir stehen so viele Türen offen und du machst Büroarbeiten für eine – eine Detektei?«

»Eine Detektei, richtig«, bestätigte ich meine Aussagen von zuvor. »Ist besser als nichts. Und ja, ich bin weiterhin auf der Suche nach einer Anstellung in einem Theater. Ich gebe meinen Traum nicht auf.«

»Aber das hättest du doch in Hamburg tun können, mein Schatz. Wir hätten dich unterstützt, das weißt du.«

»Ja, Mami, das weiß ich und ich bin euch sehr dankbar dafür. Aber mein Mietvertrag würde ohnehin erst Ende des Jahres auslaufen und ich liebäugele nach wie vor mit dem Nordharzer Städtebundtheater oder dem Theater in Nordhausen.« Eigentlich war das gelogen. Das Nordharzer hatte mir bereits eine Absage erteilt und mit dem Ensemble in Thüringen hatte ich bislang noch keinen Kontakt aufgenommen. Meine Mutter beruhigten diese Ausreden leider auch nicht.

»Weil es dir in dieser ostdeutschen Einöde so gut gefällt oder was?«, ließ meine Mutter doch tatsächlich den Wessi raushängen.

»Mama, hier ist keine Einöde! Es ist wunderschön im Harz und ich habe viele neue Freunde gefunden. Ich möchte Tuyet und ihren kleinen Sohn einfach nicht schon alleinlassen, nach der Scheidung.«

»Das ist löblich, Kind. Aber du musst auch an dich denken. Du bist 24 und sitzt auf der Straße.«

»Mama, ich sitze nicht auf der Straße. Ich habe eine Ausbildung, eine Wohnung, einen Job und Freunde. Und eine Familie, die behauptet, hinter mir zu stehen. Also tu das auch.«

»Ist ja gut. Du hattest schon immer deinen eigenen Kopf«, gab sich meine Mutter resigniert geschlagen.

Bereits mein Plan, Schauspielerin zu werden, hatte seiner Zeit für heftige Diskussionen gesorgt. Nun hatte ich einen „ordentlichen" Bürojob und das war auch wieder nicht richtig.

Wobei das natürlich nur die halbe Wahrheit war. Ich konnte meinen Eltern nicht erzählen, dass ich ab Oktober offiziell Ermittlerin sein würde. Andernfalls hätte sich mein Vater unverzüglich ins Auto gesetzt, wäre nach Eichenstedt gefahren und hätte mich eigenhändig aus meiner Wohnung gezerrt, um mich zurück nach Hamburg zu bringen. Das mit der Fabeltierjägerin musste ohnehin unerwähnt bleiben.

»Dann wünsche ich dir viel Spaß beim Tippen und Aktensortieren. Das hättest du auch schon längst in Onkel Dieters Firma machen können«, konnte sich meine Mutter einen letzten Kommentar zu ihren Vorstellungen meiner Zukunft nicht verkneifen.

»Das Thema ist durch, Mama. Ich fange nicht in Dieters Unternehmen an, so erfolgreich es auch sein mag. Ich gehe meinen eigenen Weg und bin sehr glücklich damit.«

»Das ist die Hauptsache. Aber wenn was ist, dann scheu dich nicht, anzurufen und um Hilfe zu bitten.«

»Mach ich Mama. Liebe Grüße an alle!«

Nachdem das Telefonat beendet war, atmete ich erst einmal ordentlich durch. Ich durfte niemanden etwas über meinen eigentlichen Job erzählen und musste mir die Notlüge mit dem Büro einfallen lassen. Es belastete mich schon ein wenig, gleichzeitig mochte ich aber auch die Geheimnistuerei. Dieses kribbelige Gefühl, dass ich nun Teil von etwas derart Großem und Mystischen war. Dennoch könnte ich mich jeden Morgen selbst ohrfeigen, dass ich Marlowes Jobangebot überhaupt angenommen hatte.

Offenbar hatte Wilhelm ihn sich auf der Rückfahrt von unserer Auswilderungsaktion am Dienstag zur Brust genommen. Der alte Kauz schien etwas in mir zu sehen oder er freute sich einfach nur, ein neues Gesicht in der Truppe zu haben.

Ich selbst konnte Marlowe jedenfalls überzeugen, dass ich jeder Zeit aus dem Arbeitsverhältnis aussteigen konnte, wenn sich mir eine Chance auf eine Schauspielstelle bieten würden. Denn ja, da konnte ich meine Mutter beruhigen, ich hatte meinen Traum nicht aufgegeben und würde das auch niemals tun.

Dennoch wäre ich wohl verrückt, diese Chance verstreichen zu lassen. Etwas Abgefahreneres als die Sache mit dem Rasselbock war mir noch nie widerfahren und von nun an erwarteten mich weitere dieser übernatürlichen Abenteuer.

Ganz zum Missfallen von Lukas und Saskia. Die beiden hatten genau so wenig damit gerechnet, dass ihr Boss mich einstellen würde. In Saskias Blick konnte ich erkennen, dass sie sich vor allem darüber ärgerte, dass es ausgerechnet ihre Idee war, mich für die Detektei arbeiten zu lassen. Einzig Momo zeigte ehrliche Freude darüber, dass wir künftig Kollegen waren.

Bis es offiziell so weit war, hatte ich allerdings noch einen guten halben Monat lang Zeit. Diese nutzte ich, um mich in das Thema Fabelwesen einzulesen. Luke hatte mir zähneknirschend einen Stapel Fachbücher vorbeigebracht. Er machte sich nicht die Mühe, zu verbergen, dass er kein Verständnis dafür hatte, dass jemand, der bislang null Ahnung und Erfahrung mit all diesen Themen hatte, Teil der Crew wurde.

Ich selbst hatte wohl die größten Zweifel daran, dass ich geeignet war. Dennoch meldete sich wieder diese kleine innere Stimme, die meinen Ehrgeiz weckte. Denen würde ich es schon zeigen!

So kam es, dass ich mich die kommenden Abende nicht darüber den Kopf zerbrechen musste, was ich im Fernsehen schaute oder welche Bücher ich las. Nur vor Tuyet und vor allem vor Liem musste ich die Fachliteratur gut versteckt halten.

Auch meinen Nachbarn und Freunden hatte ich den Bären vom Bürojob aufgebunden. Neugierig, wie Tu-Tu nun einmal war, wollte sie alles über die Detektei wissen. So auch an diesem Sonnabendabend, einen Tag vor meinem offiziellen Arbeitsantritt.

»Du fängst morgen in der Detektei an, zu arbeiten? Aber es ist doch Sonntag!«, wunderte sich Tuyet über die vermeintlich strengen Arbeitszeiten.

»Detektive sind immer im Einsatz!«, erklärte ich beinahe stolz auf meine künftigen Kollegen. »Das machen andere Leute in wichtigen Berufen doch auch, also am Wochenende und feiertags arbeiten. Dafür habe ich öfter mal unter der Woche frei und kann Liem vom Kindergarten abholen.«

»Da freut er sich bestimmt. Er hat schon gefragt, ob Tante Lex bald keine Zeit mehr für ihn hat, wenn sie Teddetiwin ist«, amüsierte Tuyet sich über die kindliche Aussprache des Fünfjährigen.

Mir blieb wieder nur ein gekünsteltes Lachen.

»Ich bin ja nur die Tippse«, wiegelte ich schnell ab.

»Das muss man ihm ja nicht sagen. Er denkt, du bist jetzt wie Detektiv Conan.«

»Ja, lassen wir ihn in dem Glauben. So bleibe ich eine Heldin für ihn. Ist auch mal ganz schön. Außerdem brauchen Kinder ihre Fantasie.« Ich erinnerte mich an meine eigene Kindheit zurück, als ich Freude daran hatte, meine Lieblingsserien nachzuspielen und weiterzuspinnen. Damals wurde mein Interesse für die Schauspielerei geweckt. Wer weiß, vielleicht würde aus Liem einmal ein Teddetiw werden.

»Und, wie sind die Kerle da so?«, lenkte Tuyet das Thema immer weiter auf die Detektei. »Ich stelle mir Detektive so alt, düster und verräuchert vor.«

Nun musste ich wirklich herzhaft lachen. »Nein, da sind ganz junge Leute am Werk. Alle so Anfang bis Mitte zwanzig. Der Boss ist zweiunddreißig Jahre alt. Er hat zwar einen Aschenbecher in seinem Büro, verräuchert ist es aber nicht.«

»Na, ein Glück. Sonst hättest du am Ende wieder mit dem Rauchen angefangen, Lex.« Tuyet hatte mir geholfen, dieses Laster loszuwerden, nachdem Liem begonnen hatte zu husten, als er auf meinem Schoß saß. Ich könnte nicht glücklicher darüber sein, diese Angewohnheit los zu sein.

»Nie im Leben rühre ich je wieder einen Glimmstängel an, das kannst du mit glauben. Tu-Tu«, schwor ich.

»Du hast ne Schweigepflicht, nehme ich an«, druckste meine Freundin herum und nippte an ihrem Kaffeebecher. »Kannst du mir trotzdem ein bisschen was von den spannendsten Fällen erzählen? Also keine Namen und so. Nur, was so abgeht in Eichenstedt. Das würde mich ja schon interessieren.«

»Mal gucken. Ich glaube, die ermitteln eher so banale Sachen wie Enkeltricks und Schockanrufe. Na ja. Ehebrechern sind sie auch ab und an auf der Spur. Ladendieben, Taschendieben. Brandstiftern. Ich weiß es selbst noch nicht so genau.«

Oh, doch. Das wusste ich.

»Kein Ding. Mach dich meinetwegen nur nicht unbeliebt«, winkte Tu-Tu ab und umarmte mich. »Ich bin froh, dass du noch eine Weile in Eichenstedt bleibst, und wünsche dir eine tolle Zeit.«


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