Gallus gallus conatus / Part 1

»UND DIESE PERSON SOLL auch ein Fabeltier-Medium sein?« Saskia und ich fuhren steile kurvige Straßen entlang. Mein Magen grummelte ein wenig, behielt seinen Inhalt aber glücklicherweise bei sich.

»Das hat Wilhelm zumindest behauptet«, antwortete ich auf die Frage nach Esmeralda Feuille de Trèfle. Die gebürtige Schweizerin wollte uns am Gut Königsruhe treffen. Einer kleinen Ansiedlung im Hirschgrund bei Thale. Mitten im Bodetal und von der Roßtrappe aus zu sehen. »Ihre Linie lässt sich, ähnlich wie bei mir, auf Hexen zurückführen. Esmeralda soll der CF in den Alpen bereits seit langer Zeit bei der Suche nach Fabelwesen helfen.«

Es waren zwanzig Tage vergangen, seit Momo und ich in München waren. Ich hatte zwischenzeitlich ein paar Tage Urlaub genommen, um in Hamburg meinen bevorstehenden Umzug vorzubereiten. Meine Mutter hatte mir für den Übergang einen Bürojob in ihrer Kanzlei organisiert. Genau das, was ich niemals wollte. Dort würde ich „dasselbe machen, wie bei dieser Detektei in Eichenstedt", meinte sie. Ja, ganz bestimmt. Nicht.

»Dann kannst du dir ja ein paar Tricks von dieser Frau abgucken«, schlug Saskia vor und brachte mich damit zurück ins Hier und Heute. »Nur für den Fall, dass es dir in Hamburg zu langweilig werden sollte und du anfängst, dort nach Fabeltieren zu suchen.«

»Dann könnte ich ja auch gleich hierbleiben«, ulkte ich zurück. Meine Entscheidung war aber gefallen. Ich wusste nun, dass mein Einfluss, den ich auf Fabeltiere auswirkte, weder Einbildung noch Zufall war. Vor Hunderten Jahren oder so habe es wohl mal eine oder mehrere Hexen in meiner Ahnenlinie gegeben. Das jedenfalls haben die Analysen ergeben, welche die Creatura Fabularis mit meinem Blut durchgeführt hatten. Die Verwandtschaft sei jedoch zu weitläufig, weshalb ich selbst keine Magie praktizieren könne. Ich war demnach, also streng nach Definition, keine Hexe. Wohl aber ein Medium. Den Begriff kannte ich aus zahlreichen zwielichtigen Berichten und Dokumentationen. Geistermedien zum Beispiel, die in verfallenen Häusern dem Spuk auf den Grund gingen. Medien, die Angehörigen Kontakt zu verstorbenen Verwandten versprachen und Ähnliches. Tatsächlich seien die meisten dieser Personen wirklich nichts als Hochstapler. Einige fernsehbekannte Größen waren hingegen sogar hochrangige CF-Agenten. Auch sie „versteckten" sich mit ihren öffentlichen Auftritten direkt vor den Augen der Menschen. So langsam begriff ich, was Frau Urban mir am Beispiel der Baustelle zu erklären versuchte.

All diese Medien konnten einen gewissen Anteil Hexenblut in ihren Adern nachweisen und verfügten dadurch über mancherlei übernatürliche Fähigkeiten oder Empfindungen. In meinem Fall war es die Sensibilität gegenüber Fabeltieren und Geistern. Wenn es mit der Schauspielerei nicht klappen sollte, wäre eine eigene Geisterjäger-TV-Show eine Option. Dann jedoch bräuchte ich mich bei meiner Familie wohl nicht mehr blicken zu lassen.

»Ich vermute, dass du bereits die Tage zählst, bis ich endlich die Detektei verlassen habe«, sprach ich Saskia unverblümt auf unser schwieriges Verhältnis zueinander an. Sie war in letzter Zeit zwar um Besserung bemüht, dennoch traute ich dem Frieden nur bedingt.

»Ist das so?« Sas rutschte unbehaglich auf dem Fahrersitz unseres Firmenwagens hin und her. »Es lag nicht an dir. Vielmehr hat es mit meiner Schulzeit zu tun«, sagte sie nach einer Weile und presste die Lippen aufeinander.

Es hatte zu schneien begonnen. Die hohen Lagen des Harzes waren bereits seit ein paar Tagen unter einer Schneeschicht begraben.

»Deine Schulzeit?« Ich erinnerte mich an Saskias Reaktion, als uns Michel in Wernigerode von seinen Erfahrungen mit seinen Mitschülern berichtet hatte. Das Thema Mobbing schien der hübschen Blondine nahezugehen, obwohl sie sich anfangs mir gegenüber selbst alles andere als freundschaftlich verhalten hatte.

»Ich habe drei ältere Brüder aus der ersten Ehe meines Vaters«, begann Sas zu erzählen und drehte die Musik im Radio runter. Der Empfang war in diesen Höhen ohnehin manchmal gestört. »Sie hatten natürlich einen großen Einfluss auf meine Interessen. Und die waren alles andere als pink und funkelnd.«

»Ich erinnere mich an die Wrestling-Motive auf deinem Kaffeebecher, aus dem ich damals getrunken habe.« Damals. Wie das klang. Unbegreiflich, was seitdem alles passiert war.

»Ja, Wrestling war in den 1980er- und 90er-Jahren ein großes Thema. Meine Brüder waren da voll drin und wir haben zusammen immer die Shows angesehen, als ich noch ganz klein war.« Diese Erinnerungen brachten meine Kollegin zum Lachen. »In der Schule traf ich damit allerdings auf taube Ohren. Zu dieser Zeit war die große Wrestling-Welle bereits vorbei. Die Jungs mochten eher Fuß- oder Basketball, die Mädchen Barbie und My little Pony. Ich konnte mit Hulk Hogen, André the Giant und dem Undertaker bleiben, wo der Pfeffer wuchs.«

»Kann ich mir vorstellen.« In meiner Klasse gab es auch diese auferlegten No-Gos und Must-haves. Wenn man nicht dem Trend der „Coolen" gefolgt war, wurde man sehr schnell links liegen gelassen.

»Später gab es mal eine Zeit, als einige das ganz geil fanden«, sprach Saskia weiter. »Wir haben uns im Sportunterricht auf den Matten gewälzt. Ich habe heute noch eine kleine Narbe auf der Stirn, an der Stelle, wo ich mit meiner Freundin zusammengestoßen bin.« Sie hob ihr Haar an der rechten Schläfe etwas an und ich konnte dort die Spuren der früheren Verletzung erkennen.

»Aber dann wurde es wieder schlimmer?«, zeigte ich weiterhin Interesse an ihrer Geschichte. Ich fand es toll, dass Saskia und ich uns mittlerweile so gut verstanden, dass sie mir das erzählte. So konnte ich ihr anfängliches Verhalten mir gegenüber vielleicht besser verstehen.

»Dann kam die Pubertät«, sagte Saskia und pustete abwertend Luft auf. »Bei den Mädels wurden Schminke, Mode und Jungs wichtig und bei den Kerlen Gaming, Saufen und, na, du weißt schon.«

Ich nickte schmunzelnd. Meine eigene Schulzeit war mir noch sehr lebendig in Erinnerung geblieben.

»Ich wollte natürlich nicht länger eine Außenstehende sein. Also begann ich, mich ebenfalls mit Make-up zu befassen. Doch ich war stolz genug, um es nicht bei einfachem Mascara und Lippenstift zu belassen.«

»Du wolltest Maskenbildnerin werden.« Das wusste ich ja bereits.

»Genau. Und ich war gut darin. Zum Karneval war ich plötzlich sehr gefragt.« Stolz schwang in ihrer Stimme mit. »Allerdings wurde ich dadurch auch immer hübscher. Das schmuddelige brünette Mädchen, das sich mit seinen Brüdern im Dreck wälzte, war verschwunden.«

»Und du wurdest als Konkurrenz im Kampf um die süßesten Jungs angesehen.«

»Was sonst?«, lachte Saskia und rieb sich die Nase. »Aber nicht nur deswegen. Ich war ein wahres Mathe- und Physik-Ass. Auch damit konnte ich bei vielen Jungs landen. Später habe ich sogar Mathematik studiert und mich mit komplizierten Formeln beschäftigt. Das führte mich schließlich in die Welt der Codes und Verschlüsselungen und letztlich zur Creatura Fabularis

»Und dort hast du endlich die Anerkennung erhalten, die du verdienst.« Ich klopfte Saskia auf die Schulter.

»Und ich habe nur mit Männern zusammengearbeitet.« Saskia kniff die Lippen zusammen. »Ein Traum, nach all den Jahren weiblicher Missgunst. Den Männerüberschuss fand ich bereits während des Studiums genial. Viel angenehmer.«

»Bis ich dann aus dem Nichts auftauchte«, hob ich schuldbewusst die Hände.

»Eine Schauspielerin. Na hör mal! Schlimmer konnte es doch gar nicht kommen«, gab sich Saskia gekünstelt brüskiert und verlor auf der winterglatten kurvigen Fahrbahn beinahe die Kontrolle über den Kleintransporter. Sie konnte aber schnell wieder in die Spur zurückfinden.

»Alles okay bei euch da vorne?«, meldete sich Momo sofort per Funkgerät. Er und Marlowe fuhren im Wagen des Bosses hinter uns her.

»Ja, alles bestens!«, gab ich Entwarnung. »War trotzdem ein ganz schöner Schrecken, was?«

»Ich bin auch froh, wenn wir endlich da sind. Das liegt ja völlig am Arsch der Welt. Den Rest müssen wir wandern. Wird sicher sehr gemütlich bei dem Wetter.«

Saskia hatte recht. Das Gasthaus Königsruhe war mit dem Auto nicht erreichbar. Doch unsere heutigen Fabeltiere sollten sich genau in dessen Umgebung aufhalten. Hanghühner wurden an den Klippen rund um die Roßtrappe gesichtet. Beziehungsweise haben die Menschen diese sonderbaren Kerlchen für entlaufene Haushühner gehalten. Die CF konnte allerdings einen Übertritt aus der Parallelwelt an dieser Stelle ausmachen. Esmeralda Feuille de Trèfle hatte Erfahrung mit diesen Geschöpfen und würde uns beim Einfangen mit Rat und Tat zur Seite stehen.

»Ist dir die Geschichte von Michel deshalb so nahegegangen, weil du es selbst nicht immer einfach hattest in der Schule?«, fragte ich Saskia nach ihrer Reaktion dem jungen Mann gegenüber.

»Ja, ich konnte sofort nachvollziehen, wie er sich gefühlt haben muss. Richtig klasse, dass er jetzt ein Teil der CF werden soll. Wenn man sich gebraucht fühlt, gibt einem das viel zurück.«

»Finde ich auch knorke.« Tatsächlich hatten Agenten der Creatura Fabularis den talentierten Mann mehrfach aufgesucht und mit ihm ähnlich verfahren, wie mit mir damals. Etliche Verschwiegenheitsklauseln und so weiter. Dennoch blieb sein Bachkalb-Kostüm nicht unbeachtet. Selbst hochrangige Agenten hätten anhand des Videos und sogar Fotos nicht auf den ersten Blick sagen können, ob es sich dabei um ein echtes Fabelwesen handelte oder nicht. Michel wurde angeboten, Nachbildungen von Fabeltieren für die CF anzufertigen. Diese sollen später als Lockpuppen zum Einsatz kommen, um die echten Wesen anzulocken. Für mein Ersatz wurde also schon mal gesorgt.

Die Sonne sank bereits am Horizont, als wir an einer Jugendherberge ankamen, die sich kurz hinter dem Ortsausgang von Thale im Bodetal befand. Wir stellten unsere Autos ab, packten die nötigsten Geräte in die Rucksäcke, mummelten uns in dicke Winterklamotten und marschierten durch den schneebedeckten Harz.

»Schön ist es hier. Kalt aber ein wahrer Augenöffner, keine Frage«, stellte ich während unserer der Bode folgenden Wanderung fest. Der Fluss schlängelte sich links von uns durch das tiefe Tal. Um uns herum türmten sich die verschneiten Hügel des Harzes auf.

»Man nennt diesen Ort auch den Grand Canyon Mitteldeutschlands«, erklärte Momo, der sich mehrfach die Nase putzte. Nicht ganz so kahl und felsig wie das Original, aber eine Ähnlichkeit war durchaus nicht von der Hand zu weisen.

Auf unserem Weg kamen wir auch am sagenumwobenen Goethefelsen vorbei. Die markanten Formen des Gesteins inspirierten viele Menschen, welche die unterschiedlichsten Gestalten darin erkannt hatten. So wurden unter anderem ein sitzender Mops, ein liegendes Schaf, die Büste eines Bischofs mit Mütze, zwei sich beißende Wölfe oder auch der Oberkörper eines Fuchses beschrieben. Wir hatten leider keine Zeit, unseren eigenen Beitrag dazu zu leisten. Es wurde bereits dunkel und wir wollten diese Esmeralda nicht mitten in der Nacht suchen müssen.

»Eine Sage erzählt von sieben Prinzen, die die Schätze der Königstochter Brunhilde begehrten und deswegen von sieben Riesen im Bodetal getötet wurden«, zitierte Mohammad eine der zahlreichen Legenden rund um diesen Ort. »Daraufhin reisten sieben Prinzessinnen zu den Gräbern der Prinzen, um deren Tod zu beweinen. Aus den Tränen sei der Siebenbrüderfels gewachsen.«

»Mir war nie bewusst, wie viele Sagen und Mythen es hier im Harz gibt. In Hamburg haben wir kaum über die Existenz dieser Region gesprochen, geschweige denn darüber.« Ich hatte mir fest vorgenommen, eines Tages noch mehr Orte in Deutschland zu besuchen, von denen ich bisher nicht so viel wusste.

Unsere Wanderung endete nach etwa einer viertel Stunde. Endlich hatten wir den Gasthof Königsruhe erreicht. Viel mehr als diesen gab es dort auch nicht, sodass wir ihn nicht verfehlen konnten.

»Und wo ist jetzt die Hexenmamsell?«, blickte sich Saskia suchend nach Esmeralda um und zog ihre graue Bommelmütze tiefer ins Gesicht.

»Gute Frage«, murmelte Momo und legte die Hand über seine Augen, während er Ausschau nach der Schweizerin hielt.

»Lasst uns noch ein Stück weiter in die Wildnis gehen. Vielleicht hat sie diese Hühnchen bereits entdeckt«, schlug Saskia vor und ging voran.

Ich rieb mir die Oberarme, damit mir etwas wärmer wurde, und bedachte Ben mit einem enttäuschten Blick. »Schon wieder so schweigsam?«, sagte ich leise zu ihm, nachdem ich mich zu ihm zurückfallen gelassen hatte.

»Morgen wird mein monatliches Wörterkonto wieder aufgefüllt«, antwortete er und rang sich immerhin ein leichtes Schmunzeln ab.

»Ich nehme dich beim Wort.« Ich ließ ihn in seinem Kokon des Schweigens und schloss wieder zu den anderen auf.

»Ruhig mal!« Momo hob die rechte Hand und bedeutete uns, stehen zu bleiben. »Hört ihr das?«

Wir befreiten unsere Ohren von den Krempen der Mützen und lauschten in die klare kühle Winterluft. Dann hörten wir ein seltsames Singen. Eher ein Singsang. Oder ein Jammern? Jaulen? Heulen?

»Sind das die Hanghühner?«, fragte ich und musste niesen.

»Wohlsein!«, rief mir Momo entgegen. »Nein, Hanghühner klingen nicht so. Meine Geräte zeigen auch noch nichts an. Spürst du etwas?«

Diesmal konnte ich nicht motzen. Mein Febeltier-Medium-Status war amtlich bestätigt worden. Also versuchte ich, mich zu konzentrieren. Auf irgendeine Präsenz. »Ähm, nun. Ich würde sagen, da ist nichts. Aber wie immer sind meine Angaben ohne Gewähr.«

»Dann lasst uns mal nachsehen, woher diese befremdlichen Geräusche kommen und wer sie verursacht.« Saskia schlich in die Richtung der Gesänge und wir schlossen dicht zu ihr auf.

Zahlreiche Fichten und Felsen standen uns im Weg, doch mitten im Wald, auf einer Anhöhe, konnten wir schon bald Licht sehen. Jemand hatte ein Lagerfeuer gemacht.

»Ist das hier nicht verboten?«, flüsterte ich meinen Kameraden zu.

Ben nickte stumm und übernahm die Führung. Wir blieben alle dicht hinter ihm, während die sonderbaren Laute immer näherkamen. Die Bäume lichteten sich und machten den Blick frei auf eine höchst eigenartige Szenerie.

Um die Feuerstelle herum waren in etwa drei Metern Abstand zahlreiche Steine, Kristalle, Figuren aus Holz und anderen Materialien sowie Laternen aufgestellt worden. Innerhalb des Kreises hob und senkte sich eine farbenfrohe Gestalt. Eine dunkelhäutige Frau unbestimmten Alters mit schwarzen Dreadlocks und langen Röcken tänzelte ums Feuer. Sie warf dabei immer wieder die Hände in die Luft und stieß weltfremde Töne aus. Zahlreiche Ketten und Amulette um ihren Hals klimperten dazu im Takt. Sie trug trotz der niedrigen Temperaturen lediglich Jesuslatschen und um ihre Schultern hing bloß ein fransiges Tuch mit Blumenmustern. Ein Hippie, wie er im Buche stand.

»Grüezi! Hoi! Gueten Aabet!«, tirilierte die schrille Person, nachdem sie uns entdeckt hatte. »Nachem zBerg gha gits nüt bessers als es Blätzli. Nachem Znacht sueche wir d Güggel.«

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