Fortunam fautricem nactum esse
»ES WAR DEINE IDEE, Momo. Hättest du sie damals nicht unbedingt mit in die Garage nehmen wollen, würden wir jetzt nicht in der Scheiße sitzen.«
Als ich wach wurde, befand ich mich wieder auf der Rückbank von Lukes kleinem Opel. Draußen stieg die Sonne bereits empor. Wie lange war ich weg gewesen? Und was war überhaupt passiert? Ein pochender Kopfschmerz hielt mich davon ab, diese Fragen laut auszusprechen. Stattdessen belauschte ich meine beiden Kompagnons noch eine Weile, die weiterhin im Glauben waren, ich würde schlafen.
»Jetzt hör aber mal auf, Lukas«, begann Momo, sich endlich mal gegen den großen Kerl durchzusetzen. »Nicht nur einmal habe ich gesagt, dass wir von dem Fall ablassen und dem Boss Bescheid sagen sollten. Du warst es, der bis zum Schluss nicht daran geglaubt hatte, dass es sich um einen Dämon handelt.«
»Du hörst mal zu«, konterte Luke lautstark, wodurch meine Kopfschmerzen noch schlimmer wurden. »Als ich den Ernst der Lage erkannt hatte, wollte ich den Fall der CF übergeben. Aber Madame da hinten musste ja unbedingt die große Dämonenflüsterin spielen.« Er zeigte mit dem Daumen in meine Richtung. Ich konnte erkennen, dass eine Menge Schmutz daran hing. Was in aller Welt hatte ich verpasst?
»Ja, sie hat sich unprofessionell verhalten«, gab Mohammad schließlich zu und seufzte. »Aber sie ist erst seit drei Tagen im Team. Sie muss sich in die ganze Thematik noch mehr einfuchsen.«
»Sie hatte einen kompletten Monat Zeit«, donnerte Luke zurück. »Das Mädel ist dermaßen überheblich, nachdem Wilhelm, dieser Armleuchter, ihr so viel Honig um den Mund geschmiert hat. Ich verstehe bloß nicht, warum sich Marlowe von ihm hat einwickeln lassen. Er hätte besser wissen müssen, dass eine Möchtegern-Schauspielerin nichts in der Detektei zu suchen hat.«
Luke drückte ordentlich aufs Gaspedal, sodass ich in die Rückenlehnen seines Autos gepresst wurde. Das Dröhnen und Vibrieren war kaum auszuhalten. Nur mit Mühe und tiefem Durchatmen konnte ich es verhindern, den Corsa vollzureihern.
»Denkst du, Marlowe wird sie feuern?«, fragte Momo und wurstelte an seiner Brille herum.
»Und uns gleich mit, wenn wir keine gute Ausrede parat haben.« Luke legte sich rasant in die nächste Kurve. Beinahe wäre ich von den Sitzen gerollt. Ich wollte aber nicht riskieren, dass er noch wütender wurde, und stellte mich weiterhin ohnmächtig. Wobei mich brennend interessierte, was letzten Endes mit dem kleinen Draugr passiert war.
Wir erreichten die Garage mit Müh und Not. Mittlerweile hatte ich mich als wach zu erkennen gegeben und saß stocksteif auf meinem Sitz. Das letzte Stuckern, als Luke über eine Bodenschwelle in der Einfahrt rumpelte, brachte das Fass jedoch buchstäblich zum Überlaufen. Noch ehe das Auto zum Stehen gekommen war, riss ich die Hintertür auf und übergab mich im hohen Schwall.
Luke, der sich aus seinem für ihn eigentlich viel zu kleinem Fahrzeug quälte, winkte nur ab. »Das hat ja gerade noch gefehlt«, hörte ich ihn murmeln, als er Richtung Eingang stampfte.
Als er die Tür zur Detektei öffnete, sprang bereits Charles, der kleine Corgi schwanzwedelnd heraus. Zielsicher steuerte er meine Pfütze an.
»Aus! Weg da, Karlchen! Das ist ieh!« Momo sprang zwischen dem Hund und meinem Malheur auf und ab. Schließlich tippelte der Vierbeiner mit dem royalen Namen wieder nach drinnen.
»Lass dich nicht runterziehen«, sprach Momo mir auf dem Weg über den Parkplatz Mut zu.
»Luke hat recht. Ich habs vermasselt. Ich kann verstehen, wenn Marlowe mich feuert. Aber es war ein Kind. Ich, ich konnte nicht anders, als zu versuchen, ihm zu helfen.«
»Ich weiß«, nickte Momo, als er mir die Tür aufhielt. »Wir werden sehen, was passiert. Komm erst einmal wieder ein bisschen zu Kräften. Ich mache dir einen Tee und geb dir ne Aspirin.«
»Danke, Mo. Aber was ist denn nun eigentlich mit dem Draugr passiert, nachdem er mich ausgeknocked hat?«
»Er ist in ein Wohnhaus eingedrungen und hat ein älteres Ehepaar bedroht!«, kam die Antwort schallend aus einer anderen Richtung als erwartet.
Saskia stand mit verschränkten Armen vorm Empfangstresen und stierte mich bösartig an. Der Blick könnte ebenfalls dämonischen Ursprungs sein. Fehlte nur noch das geisterhafte Glimmen.
»Er hat was?«, fragte ich, meine Stimme war vom Kotzen noch angegriffen.
»Es ist der Worst Case eingetroffen, nach deiner hirnrissigen Aktion«, sprach Luke weiter, während Saskia es sichtlich genoss, wie ich meine Abreibung bekam.
»Nachdem du deinem kleinen Freund klargemacht hattest, dass es keine Hoffnung für ihn und seine fehlenden Arme geben würde, ist er komplett ausgetickt. Er hat wie blöde herumgeschrien, dich mit seinen kalten, toten Händen angegriffen, wodurch du das Bewusstsein verloren hast, und ist dann zurück nach Leubingen gestratzt.« Luke redete sich in Rage. Sein rundes Gesicht lief rot an. Im Hintergrund hörte ich Saskia leise kichern.
»Komm mal runter, Lukas«, sagte Momo mit zitternder Stimme, als er mir einen Tee und eine Kopfschmerztablette reichte.
»Runter kommen?«, wurde Lukas daraufhin noch lauter. Charles nahm mit seinen kurzen Beinen, so schnell er konnte, Reißaus und versteckte sich hinter dem Tresen. Da wäre ich in dem Moment auch lieber gewesen.
»What's this terrible noise?« Marlowe kam eilenden Schrittes aus seinem Büro. Er sah not amused aus.
»Wir sind zurück, Boss«, stand Luke stramm, wie ein Soldat.
»Das ist nicht zu überhören, Lukas. In mein Büro, alle nacheinander.« Marlowe gab Luke stumm zu verstehen, dass er der Erste von uns sein würde, der sich vor ihm zu rechtfertigen hatte.
»Das tut mir so leid. Meinetwegen kriegt ihr jetzt Anschiss«, bemühte ich mich um Schadensbegrenzung bei Mohammad. »Er hätte mich zuerst in sein Büro vorladen sollen. Dann hätte ich ihm klarmachen können, dass euch keine Schuld trifft.«
»Darüber hättest du dir Gedanken machen sollen, bevor du solche Alleingänge unternimmst, Marilyn.« Saskia sprang auf den Zug auf, mich wegen meiner Schauspielausbildung aufzuziehen.
Ich hatte es ja begriffen. In der Detektei und vor allem in der Creatura Fabularis hatte ich nichts verloren. Die Konsequenzen aus der vergangenen Nacht würde ich mit Fassung tragen und meine sieben Sachen packen.
»Als ob jeder von uns von Anfang an alles richtig gemacht hätte«, hörte ich Momo neben mir murmeln. »Dann soll die CF eben keine Leute rekrutieren, sondern selbst welche erschaffen oder was weiß ich.«
Der junge Ägypter kaute auf seiner Unterlippe herum und schob seine Brille öfter als nötig auf seiner Nase zurecht. An seinem Hals konnte ich die Hauptschlagadern heftig puckern sehen. Armer Kerl. Alles nur, weil ich sentimental geworden bin.
»Ist den Menschen in Leubingen denn etwas passiert, bei dem Angriff?«, erkundigte ich mich noch einmal nach dem gestrigen Desaster.
»Sie wurden schwer verletzt und liegen auf der Intensivstation«, spuckte Saskia die Antwort aus. »Die CF wird einige Tricks anwenden müssen, um ihnen den Vorfall als Tierangriff zu verkaufen.«
»Scheiße«
»Ja, deine Scheiße.«
»Saskia, ist doch gut.« Wieder war es Momo, der als Schlichter in dem Streit hervortrat. Die Blondine verdrehte nur die Augen und wandte sich einem Stapel alter Schriften zu.
»Was ist mit dem Draugr?«, flüsterte ich Momo zu, um Saskia nicht erneut in Alarmbereitschaft zu versetzen.
»Nachdem wir es geschafft hatten, ihn von dem älteren Ehepaar abzulenken, hat er wieder die Flucht ergriffen und hat uns querfeldein durch die Gegend gehetzt. Dabei ist Luke noch über eine Wurzel in den Dreck gefallen.«
»Ihr habt die Leute also gerettet?«, verstand ich erst allmählich den eben geschilderten Sachverhalt. »Wow.«
»Ja, was blieb uns anderes übrig? Die CF hatten wir zwar zuvor alarmiert, aber ehe sie in Leubingen sein würde, wären noch Stunden vergangen. Wir mussten handeln, damit nicht – oh, Luke kommt raus.«
Lukas ging wortlos an uns vorbei, stieg in sein Auto und fuhr los. Momo und ich schauten uns nur fragend an.
»Mohammad, come in, please.« Marlowe rief den nächsten von uns in sein Büro. Etwa fünf Minuten später kam Momo wieder raus, sah aber auffallend erleichtert aus.
»Alles gut, Lex. Jetzt bist du dran.« Zwar hatte er deutlich erkennbare rote Flecken am Hals, dennoch schien das Gespräch nicht so fatal ausgefallen zu sein, wie befürchtet.
Ich klopfte an Marlowes Bürotür an, obwohl diese offen stand. »Setzt dich, Alexis«, bot er mir den Stuhl an, auf dem ich bereits des Öfteren gesessen hatte.
»Das war ganz schön aufregend, was?«, begann der Boss das Gespräch.
»Allerdings«, gab ich zurück und meine Stimme zitterte leicht. »Ich möchte mich in aller Form für mein Fehlverhalten entschuldigen, Mr Marlowe. Lukas und Mohammad trifft keine Schuld an dem, was gestern Nacht passiert ist. Es war mein Hirngespinst, dass mich zu dieser törichten Tat trieb. Ich hatte mich nach der Sache mit dem Rasselbock überschätzt und nahm an, ich könnte den Draugr ebenfalls beruhigen und – na ja, retten.«
»Es war kein Draugr.« Ich wollte bereits den nächsten entschuldigenden Satz beginnen, als ich begriff, was Marlowe gesagt hatte.
»Wie, kein Draugr? A-aber er hat doch auf dem Dach herumgepoltert und zuletzt sogar Menschen angegriffen. Alles sprach dafür, dass wir es mit dieser Art Dämon zu tun hatten. Luke hat mich gewarnt, dass er gefährlich ist. Ich habe dennoch ...«
»Kein Draugr«, wiederholte Marlowe und sein rechter Mundwinkel zuckte kurz zu etwas Ähnlichem wie ein Lächeln nach oben. »Der kleine Junge ist ein, sagen wir es mal so, ein entarteter Poltergeist. Poltergeister treiben mit den Menschen ihren Schabernack. Meistens haben sie dabei keine bösen Absichten, sondern einfach nur Fun. Je nach Todesumstand können sie dennoch zur Bedrohung werden.«
Ich nickte stumm. »Die Todesumstände des Kindes waren alles andere als einfach. Als ich in seiner Nähe war, habe ich wieder etwas gespürt. Angst, Enttäuschung, Trauen, Einsamkeit.«
»Diese negativen Emotions können aus einem harmlosen Geist eine heimtückische Präsenz machen. Was aber nicht heißt, dass er wirklich bösartig ist. Ein Draugr hat rot leuchtende Augen und kein weißes Schimmern. Luke hätte das erkennen müssen.«
»Und was tun?«, hakte ich nach und rutschte auf meinem Stuhl etwas weiter vor.
»Auf jeden Fall nicht köpfen und verbrennen. Das ist grausam und würde bei einem Geist ohnehin nicht funktionieren. Stattdessen können die Experts von der CF dem Poltergeist helfen, seinen Frieden zu finden.«
»Also doch!«, rief ich dazwischen, was mir schnell wieder peinlich war.
»Luke hat bereits gesagt, dass du das vorhattest«, schmunzelte Marlowe nun tatsächlich. »Er sollte sich öfter auf deinen Instinkt verlassen. Wiederum müsst ihr alle lernen, besser als Team zusammenzuarbeiten. Es hilft nichts, wenn einer es besser wissen will und am Ende jeder einen anderen Plan verfolgt. Achtet auf alle Details und ruft im Zweifel mich oder die CF an. Eine kurze Rücksprache hätte euch und allen Beteiligten eine Menge Ärger erspart.«
Wieder nickte ich, ohne etwas zu sagen.
»Die CF hat Experten auf dem Gebiet Geister nach Sömmerda entsandt. Sicher beruhigt es dich, zu wissen, dass dem Jungen geholfen werden kann.«
»Oh, ja! Das tut es!« Ich konnte meine Freude nicht verbergen. Wie schlimm musste es für das Kind gewesen sein, qualvoll verstümmelt und hingerichtet worden zu sein und dann Tausende Jahre lang als unglücklicher Geist herumzuirren?
»Aber er war kein böser Poltergeist«, musste ich einfach noch einmal klarstellen. »Er wollte den Menschen nichts antun. Der Junge hat nur Kontakt gesucht. Er war so allein. Zuletzt hat er vor lauter Angst und Trauer wohl überreagiert und dann die beiden älteren Leute attackiert.«
»Was passiert ist, ist passiert.« Marlowe stand von seinem Stuhl auf und ging zur Tür. »Du wirst dich schon in deine neue Rolle einarbeiten, Alexis. Vertraue weiterhin auf deine Gefühle und Intuitionen. Luke war noch nie der beste Teamplayer. Auch er hat noch eine Menge zu lernen. Nimm dir heute frei und verarbeite das alles. Bye.«
Marlowe zog die Tür hinter mir zu und ich war nach wie vor verwirrt. Ich hatte in der Tat einiges zu verdauen und vieles zu verstehen. Doch eins nahm ich mir fest vor: Ich würde mich von diesem Rückschlag nicht entmutigen lassen. Auf dem Weg nach draußen warf ich Saskia einen besonders freundlichen Blick zu, welchen sie grimmig erwiderte.
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