Florēre, crescere, procedere / Part 1

»HALLO, SCHÖNER MANN!« Amüsiert betrachteten Saskia und ich die Bronzefigur des Heiligen Nikolaus, welche unbekleidet und höchst interessiert das muntere Treiben am Göbelbrunnen in Wernigerode beobachtete. Sein Körper war über und über mit Kreuzen verziert. Saskia setzte sich neben den wohl bekanntesten aller Nikoläuse, den man eigentlich eher mit Rauschebart und langem roten Mantel kannte. Sie legte den Arm um die Skulptur und zwinkerte ihm sehnsüchtige Blicke entgegen.

»Sas, du flirtest nicht ernsthaft mit dem Nikolaus, oder?« Momo schüttelte belustigt den Kopf, während er seine Geräte checkte.

»Wieso nicht? Es ist kein Monat mehr hin, bis wir wieder die Stiefel putzen müssen, damit er uns was Feines reinlegt. Vielleicht bekomme ich so ein paar Pluspunkte und das Parfüm, was ich mir schon so lange wünsche. Lex, mach mal ein Foto von uns beiden.«

Das tat ich sehr gern. Dank der Großzügigkeit der CF war ich technisch auf dem neuesten Stand. Glücklicherweise hatten meine Sim-Karte und die Speicherkarte die Selbstzerstörung meines alten Gerätes überlebt. Obwohl ich Letztere nun nicht mehr brauchte, war ich doch froh, dass meine Erinnerungen der vergangenen drei Jahre nicht zusammen mit den Vampiren zu Rauch und Asche zerfallen waren.

Wilhelm hatte uns noch am Abend meiner Quarantäne darüber informiert, dass keiner der Blutsauger den Angriff der CF-Spezialeinheit überlebt hatte. Vermutlich auch Dominik nicht, obwohl er noch gar kein Vampir war. Ich war mir nicht sicher, was ich von dieser Vorgehensweise zu halten hatte. Wilhelm versicherte mir allerdings, dass es keine Alternative gab. Gegen Vampirismus gebe es kein Heilmittel. Jedenfalls keines, dass uns zur Verfügung stünde. Alle weiteren Details, wie zum Beispiel eventuelle Vermisstenmeldungen, würden die Agenten individuell behandeln.

»Aber das ist nicht euer Brot«, sagte Wilhelm zu uns. »Wir haben ein Exempel statuiert. Die Vampire sind jetzt gewarnt und werden sich aus dieser Region zurückziehen. Haltet dennoch die Augen auf und ruft mich an, wenn euch etwas Verdächtiges auffällt. Nicht wieder entführen lassen.« Er warf mir einen liebevoll-strengen Blick zu. »Obwohl wir dir das nicht einmal vorwerfen können, Lexilein. Du hast dich wacker geschlagen und eigentlich alles richtig gemacht. Bis auf die Tatsache, dass du dazu nicht berechtigt warst.«

Wenn er uns eher über den Verdacht der CF, dass es Vampire in Eichenstedt gab, aufgeklärt hätte, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen. Dann hätte ich gewusst, worauf ich achten musste. Vielleicht hatte Ben recht und die CF nahm die Sache bislang nicht ernst genug. Hoffen wir, dass sich das nun geändert hatte. Zumindest gab es in den vergangenen anderthalb Wochen keinen weiteren Vorfall mehr in diese Richtung. Jedenfalls nicht, dass wir wüssten.

Ben und Saskia waren am 30. Oktober noch bis zum nächsten Morgen in meiner Wohnung geblieben. Um 3:30 Uhr hatte ich meine 24-Stunden-Vampirblut-Überwachung überstanden. Lebendig. Als Mensch. Mithilfe von Streamingdiensten und Gesellschaftsspielen. Für das Verhältnis zwischen mir und Saskia war das wie eine Therapie. Ich denke, dass nun auch die letzten Eisschollen so langsam schmolzen.

Was Ben betraf, haben wir einen Schritt zurückgemacht. Er igelte sich wieder genauso in sich ein, wie vorher. Aber wenigstens war er heute bei unserem neuesten Auftrag dabei. Immerhin will die CF, dass ich beziehungsweise meine Fähigkeiten unter Beobachtung blieben.

Am gestrigen Dienstag hatte die Creatura Fabularis uns über seltsame Sichtungen und Geräusche in Wernigerode informiert. Diese sollen demnach vor allem an den Brunnen in der Bunten Stadt im Harz auftauchen. Während man tagsüber fernes Kettenrasseln im Untergrund hören konnte, wurden nachts angeblich Menschen von einem zottigen vierbeinigen Tier attackiert.

»Ich sag's euch. Das wird ein Bahkauv sein.« Momo richtete seine Brille und legte den Kopf schief, um unterhalb des Brunnens etwas hören zu können.

Die Beschreibungen passten tatsächlich auf das legendäre Bachkalb. Der Sage nach hauste das Bahkauv – oder eben Bachkalb – in einem Abwasserkanal in Aachen. Es soll ausgesehen haben wie ein großes Kalb mit einem zottigen Fell. Im Maul hatte es spitze Zähne, und seine Glupschaugen leuchteten im Dunkeln. Seine Pfoten sahen aus wie Bärentatzen mit scharfen Krallen, und sein Schweif war schuppig und schleifte wie bei einem Reptil am Boden. Das Bachkalb trug Ketten, die rasselten, wenn es sich bewegte.

Es soll auf seine Opfer aufgesprungen sein und ließ sich auf ihren Schultern bis zu ihrem Zuhause tragen. Es abzuschütteln war der Legende nach nicht möglich. Hatte der Träger sein Zuhause erreicht, sprang das Bahkauv ab und suchte sich sein nächstes Opfer. Darunter waren allerdings nie Frauen oder Kinder und es sei niemand von der Kreatur getötet worden. Das waren ja schon mal gute Nachrichten.

»Wir werden wohl bis heute Nacht warten müssen, wenn das Vieh erst dann rauskommt«, stellte Momo resigniert fest.

»Ja und diesmal musst du den Lockvogel spielen. Das Bachkalb fällt keine Frauen an«, sagte ich in Hinblick auf die Aachener Sage.

»Wir alle spielen Lockvogel«, machte der Technikfreak meine Hoffnungen sogleich wieder zunichte. »Saskia und ich mit technischer Hilfe, du und der Boss mit dir als, ähm, Medium oder was auch immer du bist.«

»Das werden wir übermorgen herausfinden.« Freitag, der 10. November war schneller ran, als erhofft. Momo und ich würden dann nach München fahren, um der Hauptzentrale der CF einen Besuch abzustatten. Danach konnte ich einen Strich unter die Sache machen. Meine Eltern hatten bereits eine kleine Wohnung für mich in Hamburg-Altona organisiert. Von dort aus würde ich von 0 starten. Mal wieder. Diesmal aber ohne übernatürliche Zwischenfälle. Hoffentlich.

Wir holten uns etwas vom Bäcker und blieben noch eine Weile am Göbelbrunnen sitzen. Dieser war wirklich interessant anzusehen. Genau das Richtige für Mystiker wie uns. Errichtet wurde er auf dem Nicolaiplatz, inmitten des historischen Stadtzentrums von Wernigerode. Früher stand dort eine Kirche. Sie wurde aber bereits im 19. Jahrhundert abgerissen.

Der Wasser spendende Bogen des Brunnens, der sich über eine große Steinkugel spannte, wurde mit drei Hexen verziert, die auf dem gemeinsamen Besen zum Brocken flogen. Eine vierte Hexe war moderner unterwegs und fuhr mit dem Motorrad. Auch Luther, Goethe und sogar Mephisto waren vertreten, ebenso wie Napoleon und weitere historische Personen.

Auf einer Tafel am Boden konnte ich neben der Jahreszahl 2003 die Worte »Blühe, Wachse, Gedeihe« lesen.

»Und wer ist das?«, fragte Saskia, die ebenfalls eine Runde um das Kunstwerk gemacht hatte. »Die Gründerin der Stadt mit dem ersten Bürgermeister?«

Sie deutete auf eine Skulptur, die zwei Menschen zeigte. Einer davon lag auf dem Schoß des anderen.

»Lebet wohl, ihr glatten Säle! Glatte Herren, glatte Frauen! Auf die Berge will ich steigen, lachend auf euch niederschauen«, las ich die Inschrift vor. »Das ist good old Heinrich Heine!«

»Und die Dame in seinem Schoß ist Prinzess Ilse«, ergänzte Momo, der im Internet weitere Informationen zu dem Brunnen herausgesucht hatte. »Merken wir uns die Statuen. Nicht, dass heute Nacht eine Weitere dazwischen hockt.«

»Deswegen sind wir doch hier«, kicherte Saskia, die sich von ihrem neuen Freund Nikolaus von Myra verabschiedete. Dann zogen wir weiter, um uns die anderen Brunnen in der Stadt anzuschauen.

Es war 21:44 Uhr und die hübsche Harzstadt lag im Schein der Laternen. Die entzückenden Fachwerkhäuser versetzten uns in uralte Zeiten zurück. Ein wundersamer Ort. Mit oder ohne Fabelwesen. Wir hatten uns am Wohltäterbrunnen auf dem Marktplatz versammelt. Direkt vor dem hübschen Rathaus. Ein Prachtstück, ohne Frage. Ein wenig erinnerte der Brunnen mich an eine Weihnachtspyramide oder eine Etagère für Gebäck. Verziert war er mit zahlreichen Wappenschildern, auf denen Menschen gewürdigt wurden, die sich für Wernigerode verdient gemacht hatten. Gefertigt wurde er 1848 in der Eisengießerei Ilsenburg aus Grauguss. Auf der zentralen Brunnensäule befanden sich kleineren Kränze. Auf der Spitze prangte eine Fiale mit einer Kreuzblume.

»Hier ist nichts«, setzte uns Mohammad über die Ergebnisse seiner Analyse in Kenntnis. Seine eigens entwickelte Technik, welche Fabelwesen aufspüren soll, zeigte keine Anhaltspunkte für eine Anwesenheit des Bachkalbes. »Das kann ja was werden am Freitag in München. Der berühmte Vorführeffekt.«

»Oder hier ist einfach nichts. Die Menschen haben vielleicht nur einen streunenden Hund gesehen«, mutmaßte Saskia und blickte sich auf dem Marktplatz um, den nun auch der letzte Tourist verlassen hatte.

»Einer, der jemanden auf den Buckel springt? Ich denke, da steckt etwas anderes dahinter.« Momo überprüfte die offizielle App der CF, welche Instabilitäten zwischen unserer und der Fabeltierwelt anzeigen konnte. »Es könnte am Sonntag einen Übertritt in der Nähe des Kaiserturms südlich von Wernigerode gegeben haben.«

»Aber ist dieses Bachkalb nicht eine Aachener Legende? Ist es möglich, dass es sich dennoch hierher in den Harz verirrt hat?«, fragte ich nach, ob eine Bachkalb-Sichtung in unserer Region überhaupt denkbar war.

»Hm, eigentlich bleiben die Wesen in ihren angestammten Revieren. Aber hin und wieder kann es zu weiten Wanderungen kommen. Der griechische Hippokamp hatte hier auch nicht unbedingt etwas verloren.« Da hatte Momo recht.

»Und wie sieht's mit Bigfoot aus?«, überkam mich die Neugierde.

»Der lebt auf einem anderen Kontinent. Das würde selbst in der Parallelwelt schwierig zu bewältigen sein. Aber nicht unmöglich.«

Vor allem dann nicht, wenn es Schwachstellen zwischen unseren beiden Welten gab, dachte ich mir und warf Ben einen Blick zu. Er erwiderte ihn kurz und schien ebenfalls über etwas nachzudenken.

Ich hatte bis heute nicht verstanden, warum er mir all diese Details zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Parallelwelt erzählt hat, wo ich doch deutlich meinen Austritt aus seiner Detektei und der CF angekündigt hatte. Und er meinte ja selbst, dass, je mehr man wusste, desto schwerer es werden würde, loszulassen. Auf der einen Seite wünschte er sich sogar, dass die anderen und ich gehen würden, um nicht weiter in Gefahr zu sein. Andererseits zählte er auf uns und war trotz zahlreicher Fehler von unseren Begabungen und Fähigkeiten überzeugt. Mochte er uns oder nicht? Oder wollte er uns nicht mögen, nicht zu sehr, um es Freundschaft zu nennen?

»Hey, Lex! Bist du noch unter uns? Worüber denkst du denn so angestrengt nach?« Saskia stupste mich an und machte mich darauf aufmerksam, dass wir uns in zwei Gruppen aufteilten.

»Saskia und ich gehen noch einmal zum Nicolaiplatz und ihr beiden nehmt euch den Brunnenhof vor«, wies Momo jeder Gruppe ein Ziel zu. »Wir gehen absichtlich ein paar Umwege. Das Vieh könnte überall jemanden auflauern. Ob es erst an Brunnen auftaucht, wissen wir nicht. Also dann, viel Glück.«

»Wir bräuchten so ein eigenes Motto«, begann Saskia zu grübeln und rückte ihre stylishe dunkelrote Baskenmütze zurecht, die perfekt zu ihrem grauen Kurzmantel passte. »Irgendwas, womit wir uns Glück wünschen.«

»Wie Hals- und Beinbruch oder Mast- und Schotbruch?«, hakte Momo nach und zupfte an seiner Brille herum. »Ich denke mal darüber nach.«

»Lasst den Bock rasseln«, warf ich spontan in die Runde.

»Zum Beispiel!«, ulkte Saskia. Dann trennten wir uns und begannen mit der Suche nach dem Bachkalb oder was auch immer die Menschen in Wernigerode erschreckt hatte.

Momo und Saskia gingen die Gustav-Petri-Straße rauf, während Ben und ich uns der Breiten Straße über die Oberengengasse nähern wollten und somit die Marktstraße hinab gingen.

»Wehe, du fragst mich wieder, ob ich etwas spüre«, brach ich nach ein paar Metern die Stille zwischen meinem Boss und mir. »Ach, nein. Ich vergaß, dass du für dieses Jahr alle deine Wörter aufgebraucht hast. Jedenfalls hast du seit anderthalb Wochen kaum mehr etwas gesagt.«

»Ich habe alles Wissenswerte erklärt. Wenn du weitere Fragen hast, dann hindere ich dich nicht daran, sie zu stellen.« Ben hatte den Blick starr auf unsere Umgebung gerichtet, als er sprach.

»Wenn wir uns sonst nichts zu sagen haben, dann kann ich Sie ja auch wieder Mr Marlowe nennen, Mr Marlowe.« Ich wartete vergebens auf eine Antwort.

»Ist vielleicht besser so«, murmelte er nach einer Weile vor sich hin.

»Piesepampel«, antwortete ich darauf, ebenfalls, ohne ihm eines Blickes zu würdigen.

»Hauen Sie bloß ab!« Ein aufgeregter junger Mann kam uns entgegen und wedelte wie verrückt mit den Armen. »Was machen Sie so spät noch auf der Straße? Wollen Sie, dass das Viech Sie angreift?«

Der schlaksige Bursche mit dem pickligen Gesicht und den hellblonden kurzen Haaren schaute uns aus aufgerissenen rehbraunen Augen an. Dann guckte er sich nervös in alle Richtungen um. »Ich werde gleich mit dem Auto abgeholt. Sollen wir Sie irgendwo absetzen? Glauben Sie mir, das, was ich erlebt habe, wollen Sie nicht mitmachen.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Marlowe und stellte sich dumm. Natürlich ahnten wir beide, was diesen Kerl dermaßen in Angst und Schrecken versetzt hatte.

»Kann ich Ihnen zeigen«, er wühlte in seiner Tragetasche herum, auf der das Logo eines Restaurants abgebildet war, welches sich in dieser Straße befand. »Es war Montag Abend. Ich hatte wie heute Feierabend. Ich arbeite dort vorne in dem Gasthaus. Ich ging über den Marktplatz und plötzlich hörte ich ein Rasseln, wie schwere Ketten. Ich dachte, da wäre irgendwo ein Wachhund, der abgehauen ist. Ich holte mein Handy raus und machte ein Video, falls er mir entwischen würde, damit ich Beweise hätte und so.« Der junge Mann zog sein Smartphone aus der Tasche und tippte mit zitternden Fingern darauf herum. »Hier. Schauen Sie sich das Monster mal an. Es ist mich angesprungen. Hat sich um meinen Hals geklammert und ich konnte machen, was ich wollte, es hat nicht losgelassen. Dann hat es ganz fürchterlich gelacht und gestunken hat es, nach rohem Fisch oder was weiß ich. Es hat mich erst in Ruhe gelassen, als ich zu Hause war. Mir tut heute noch alles weh. Die Polizei hat mir nicht geglaubt. Wüsste angeblich nicht, wonach sie fahnden müsste. Scheiß Verein!«

Fluchend reichte der Mann uns das Telefon, auf dessen Bildschirm ein verrauschtes und verwackeltes Video lief. Wir konnten den Wohltäterbrunnen erkennen und dann –

»Ach, du Scheiße!« Ich konnte den Schreck nicht unterdrücken. Auf dem Video war kurz und undeutlich eine gebückte zottige Gestalt zu erkennen. In ihrer Fratze mit den langen spitzen Fangzähnen leuchteten zwei riesige Glupschaugen.

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