Extra ecclesiam nulla salus / Part 1

MORGEN WAR ES SO WEIT. Ich konnte oder besser gesagt sollte wieder schauspielern. Nur eben nicht so, wie ich es gewohnt war. Nicht auf einer Bühne und auch vor keiner Kamera. Sondern als verdeckte Ermittlerin.

Lukas Jarzombek, genannt Luke, hatte mich vorhin noch einmal angerufen und Details zu den Hinweisen übermittelt, die in ihrer Detektei eingegangen waren. Demnach sollen sich etliche Halunken in einer verlassenen Einkaufsmeile im Südosten Eichenstedts niedergelassen haben. Von dort aus würden unter anderem trickbetrügerische Aktivitäten gestartet werden. Wenngleich deren Auftraggeber in den meisten Fällen im Ausland oder in nahezu unerreichbarer Ferne ansässig waren, konnte man derlei Straftaten zumindest eindämmen, wenn man die Handlungskette an einer Stelle unterbrach, meinte Luke. Dazu bräuchte man Beweise und jemanden ohne Blaulicht und Uniform. Da kam ich ins Spiel.

Saskia Lembke, die wohl Sas genannt wurde, wie ich mitbekommen hatte, ließ außerdem ausrichten, dass es nett wäre, wenn ich ein paar Klamotten mitbringen könnte, die zu meiner Rolle als Betrügerin passten. Tatsächlich wusste ich, dass wir für eine geplante West-Side-Story-Aufführung bereits ein paar Kostüme herangeschafft hatten, die mich zumindest ein bisschen „unzivilisierter" aussehen lassen würden.

So geschah es also, dass ich heute Nachmittag noch einmal ins Schiller zurückkehrte. Es war ein seltsames Gefühl, allein dort zu sein. Und irgendwie war es auch ein bisschen unheimlich. Mir fiel erst jetzt auf, wie gruselig manche Requisiten im Halbschatten wirkten. Ein richtiges Kuriositätenkabinett. Wiederum war es genau das, was mich am Theaterleben faszinierte. Man war in der Lage, der Realität zu entfliehen und in jede magische Welt einzutauchen, die man sich nur vorstellen konnte. Dass ich eines Tages eine reale Zauberwelt betreten sollte, wäre mir nie im Traum eingefallen.

Unwillkürlich erwartete ich, dass hinter der nächsten Ecke wieder ein Fabelwesen hervorsprang, was aber nicht geschah. Stattdessen blickten mich die fröhlichen und optimistischen Gesichter meiner ehemaligen Schauspielkollegen von zahlreichen Fotos an den Wänden an. Ich musste lachen, als ich daran dachte, dass diese Zeit mittlerweile selbst wie eine alte Sage und Legende war. Es waren Bilder aus einer längst vergangenen Welt.

Natürlich hatte ich das Internet bemüht, um derlei Fotos auch von diesen kauzigen Detektiven zu finden. Deren Internetauftritt war jedoch schlicht und sachlich. Kein einziges Foto. Erst recht nicht von ihrem Boss, Michael B. P. Marlowe. Wobei mir der Name irgendetwas sagte. Ich wusste nur nicht, warum und woher. Aber Marlowe könnte ich schon einmal gehört oder gelesen haben. Da ich diesen Typen im besten Fall nicht kennenlernen musste, war es mir aber auch egal, um ehrlich zu sein. Ich wollte dieses sonderbare Kapitel einfach schnell hinter mich bringen und dann mein weiteres „normales" Leben planen.

Ich schnappte mir ein paar Klamotten, die so gar nichts mit meinem eigentlichen Kleidungsstil zu tun hatten, und ließ das Schiller zum zweiten Mal in dieser Woche hinter mich. Dieses Mal ging ich auf direktem Weg nach Hause. Sämtliche Pokémon-Arenen ignorierte ich konsequent. Manchmal lernte selbst ich aus meinen Fehlern.

Saskia werkelte wie eine Bildhauerin an mir herum. Es war Freitag, der 8. September 2017. Diesen Tag würde ich wohl nie im Leben wieder vergessen. Der Tag, an dem ich eine neue Nase bekam, und meine graugrünen Augen hinter rehbraunen Kontaktlinsen versteckt wurden. Dann noch ein paar künstliche Pickel zu den dreien, die ich ohnehin gerade zu bekämpfen hatte. Davon, meine Augenbrauen zu bearbeiten, konnte ich Sas glücklicherweise abhalten. Die „schmalen" 2000er-Jahre waren vorbei und sollten, zumindest in meinem Gesicht, auch nie wieder kommen.

Besonders redselig war diese blonde Schönheit nicht. War mir aber auch recht. Nach diesem Tag wollte ich mit allem hier nichts mehr zu tun haben und ihr ging es mit mir vermutlich ähnlich.

»Was hast du denn da für'n Jupdich an?«, feixte Luke, als er mich in der etwas zu groß geratenen, zerschlissenen 80er-Jahre-Lederjacke sah.

»Ein bitte was?«, starrte ich ihn verwirrt an.

»Hab ich von meinem Vater. Der kommt ursprünglich aus der Ecke hier. Wusste hinten in Dresden auch keiner was mit anzufangen«, redete Luke um den heißen Brei herum.

»Und was ist nun ein Jupdich?« Ich konnte mir denken, dass er die Jacke meinte, dennoch wusste ich mit diesem Wort nichts anzufangen.

»Kommt von Jope oder Juppe«, mischte sich überraschend Saskia in die Unterhaltung ein. »Bezeichnet eine schlecht sitzende, zu große Oberbekleidung.«

Luke gab ihr stumm recht. »Passt aber ganz gut zu deinem Vorhaben. Dann fehlt nur noch die oskarreife Vorstellung.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich vielleicht etwas zu sehr nach Streetkid aussah. Ein Blick in den Spiegel überzeugte mich aber vom Gegenteil.

»Krass! Danke Saskia. Du hast wirklich Talent. Dich hätten wir im Theater gebrauchen können«, versuchte ich, doch noch das Eis zwischen uns zu brechen.

»War mal mein Plan«, antwortete sie, ohne von ihren Aufräumarbeiten aufzuschauen. »Dann habe ich etwas Besseres gefunden.«

Was das war, ließ sie offen. »Seltene Wörter?«, fragte ich und bezog mich dabei auf den Jupdich von eben.

»Sie knackt jeden Code und jedes Rätsel«, verkündete Mohammad Badawi, den ich als Momo kennengelernt hatte, als er sich zu uns gesellte. Wie immer war seine Nase in ein technisches Gerät vertieft. Heute tippte er wie ein Irrer auf der Tastatur seines Notebooks herum.

»Bis auf Cicada 3301. Daran hat sie sich die Hirnzellen zerbrochen«, ergänzte Luke, der sich einen Pott Kaffee gemacht hatte und neugierig unserem Treiben zuschaute.

»Gar nicht wahr!«, verteidigte sich Saskia postwendend. »Viele der Rätsel habe ich geknackt. Sonst hätten wir uns vermutlich gar nicht kennengelernt.«

»Ihr kennt euch aus dem Internet?«, fragte ich schneller, als ich nachdenken konnte. Ich hatte keine Ahnung von solchen Dingen, von dieser Geheimorganisation namens Cicada 3301 hatte aber selbst eine Alexis Emmerich gehört.

»Aus dem Darknet, um ehrlich zu sein«, sagte Momo trocken. Auf seinen Brillengläsern spiegelten sich die schnell wechselnden Oberflächen seines Bildschirms.

Ich nahm diese Information kommentarlos zur Kenntnis. Zu sehr wollte ich die Sache nicht vertiefen. Immerhin ging es mich nichts an, wie und warum sich dieser Haufen einst zusammengefunden hatte.

Nach all dem Small Talk ging es schließlich ans Eingemachte. Ich wurde wenigstens noch mit einem Funkempfänger ausgestattet, damit ich im schlimmsten Fall Hilfe ordern konnte. Dieser wurde unter einer rotbraunen Echthaarperücke versteckt, die seit einer Weile keinen Kamm mehr gesehen hatte, aber dennoch ordentlich genug aussah, um nicht aufzufallen. Meine Verwandlung war nun endgültig abgeschlossen. Für die kommenden Stunden lautete mein Name Helen Kaufmann. Arbeits- und obdachlos und auf der Suche nach einer Möglichkeit, schnell und unkompliziert an Geld zu kommen. Arglose Rentner in Angst und Schrecken zu versetzen kam dieser Person gerade recht.

Es war 19:40 Uhr, als mich Luke ein paar Straßen vor meinem Ziel absetzte. Er war mit einem normalen blauen Opel Corsa unterwegs, in zivil also. Mich wunderte ohnehin, dass die Detektei ein Firmenfahrzeug hatte. Vielleicht diente es nur zu Werbezwecken.

»Verhalte dich unauffällig«, unterbrach Lukas meine Gedanken. »Sprich nur das Nötigste. Höre vor allem zu und präge dir jedes noch so kleine Detail ein. Kannst du dir gut Gesichter merken? Wir müssen möglicherweise Phantombilder anfertigen.«

»Gibt es nicht mittlerweile Kameras in Kugelschreibern, Knopflöchern und so?«

»Das Problem ist, dass diese Kerle das auch wissen. Wir müssen so vorsichtig wie möglich vorgehen.« Dennoch kramte Luke etwas aus seiner Jackentasche.

»Nasenspray?«

»Du ahnst nicht, wie viele Menschen von dem Zeug abhängig sind«, erklärte mir Luke, als er mir das vermeintliche Schnupfenmittel reichte. »Tu dir aber selbst einen Gefallen und strietz es dir niemals in die Nase. Da ist Pfefferspray drin. Für alle Fälle. Ansonsten, funk uns an. Sitzt der Ohrring noch?«

Ein klobiger Fake-Ohrring sollte neben der Perücke dafür sorgen, dass das Mini-Funkgerät unentdeckt blieb.

»Hoffen wir, dass diese Kerle das nicht auch wissen.«

»Fällt weniger auf, als wenn du mit 'nem Kuli vor ihnen herumfuchteln würdest. Zumal du den Jupdich da ohnehin ausziehen musst, vermute ich.«

Damit hatte Luke bestimmt recht. Was verstand ich schon von solchen Dingen? Schlimm genug, dass ich dennoch den Geheimagenten spielen musste.

»Also dann, ich gebe mein Bestes«, verabschiedete ich mich und öffnete mit meinen schmutzig geschminkten Fingern die Autotür. Bei einem Blick zurück, konnte ich Luke beim Daumendrücken erkennen. Dann fuhr er los und ich stand allein da. Na ja, fast. In meinem Ohr erklang plötzlich Momos Stimme.

»Lex, alles klar bei dir?«

»Alles Roger, denke ich.«

»Du schaffst das schon. Es sind nur Betrüger, keine Mörder. Wenn es dir zu heiß wird, hau ab.«

»Mach ich.« Der hatte vielleicht Nerven. Verbrecher war Verbrecher. Wenn die sich ertappt oder in die Enge getrieben fühlten, wusste man nie, wozu die fähig sein konnten.

Einen Moment lang dachte ich darüber nach, einfach abzuhauen. Das wäre wohl das Vernünftigste gewesen. Aber immerhin winkte mir ein Belohnungsgeld, nachdem ich das hinter mich gebracht hatte. Und was noch wichtiger war, ich konnte meinen Ausflug ins Spionagegeschäft ad acta legen. Also dann, Augen zu und durch!

Die Sonne war gerade untergegangen, als ich den Parkplatz des früheren Einkaufsparks erreicht hatte. Ich kannte diesen Ort nicht. Die Geschäfte müssen lange vor meiner Ankunft in Eichenstedt geschlossen haben. Dennoch standen Autos davor. Die meisten hatten ihre besten Jahre hinter sich, es waren aber auch zahlreiche neue Fahrzeuge dabei. Sogar richtig teure Modelle. Diese passten so gar nicht zu dem Ambiente, welches sich mir bot.

Die leer stehenden Gebäude waren von zerschlagenen Scheiben und unzähligen hässlichen Graffitis geprägt. Also das hätte man auch hübscher machen können, aber mehr als irgendwelche kryptischen Schriftzüge konnte ich nicht finden. Vielleicht hätte Saskia diese entschlüsseln können?

Sogar ein paar Einkaufswagen standen noch in den dafür vorgesehenen Unterständen auf dem Parkplatz. Ich konnte gerade in einen solchen reinspringen, als ein dunkelgrauer Hyundai Sonata an mir vorbeiraste. Der bleiche Kerl mit der roten Schirmmütze, der am Steuer saß, beachtete mich gar nicht und erfüllte damit schon einmal das Klischee eines rücksichtslosen Schurken.

»Und davon würde ich gleich haufenweise treffen«, dachte ich, als mir klar wurde, dass an den anonymen Hinweisen tatsächlich etwas Wahres dran war.

Ich atmete tief ein und ging in mich. So, wie ich es immer vor einem Auftritt getan hatte. Ich verinnerlichte meine Rolle als Helen Kaufmann und betrat schließlich die Höhle der Löwen.

Zu meiner Freude und Verwunderung fiel ich mit meinem ledernen Jupdich und dem allgemeinen Stil der jungen Obdachlosen wirklich nicht auf. Das Bild auf dem Parkplatz spiegelte sich in dieser Gesellschaft eins zu eins wider. Vom adretten Lebemann bis hin zum Möchtegern-Punk war alles vertreten, was man sich vorstellen konnte.

Ich gab mich dessen unbeeindruckt und stiefelte sicheren Schrittes voran. Der frühere Supermarkt war dem Gebäude noch immer anzusehen. Die Regale standen nach wie vor darin und sogar die Kassen, deren Geldschatullen natürlich alle herausgerissen wurden. Als ob der Betreiber das ganze Bargeld dringelassen hätte, als er die Pforten geschlossen hatte. Zwischen den Regalen waren rege, jedoch gedämpfte Unterhaltungen zu hören. Ich beschloss, unauffällig daran vorbeizugehen, um ein paar Stichpunkte aufschnappen zu können.

»Hey, du!«, machte eine kratzige Stimme meinem Vorhaben den Garaus. »Schön hiergeblieben, junge Dame. Dich kenn' ich nicht. Wer bist'n du, he? Jacke ausziehen, sofort!«

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