Exercitatio artem parat / Part 2
»EIN KIND?« Unsere Verwunderung hätte nicht größer sein können, als wir erkannt hatten, wem oder was wir gerade quer durch Leubingen gefolgt waren.
Vor uns, neben einer niedlichen Schwengelpumpe, kam eine zierliche kleine Gestalt zum Stehen. Sie hatte die Größe und das Aussehen eines neun- bis zehnjährigen Jungen. Sollte das unser Draugr sein?
»Vielleicht ist er irgendwo abgehauen und weiß jetzt nicht mehr, wohin er gehen oder an wen er sich wenden kann«, ergriff ich Partei für den kleinen Kerl. Unweigerlich musste ich an Liem denken.
»Lex, red keinen Unsinn«, fauchte Luke mich daraufhin an. »Guck ihn dir mal genauer an. Er hat eine ganz und gar nicht natürliche Hautfarbe und was noch viel schlimmer ist ...«
Lukas musste gar nicht weitersprechen. Als sich die kindliche Gestalt umdrehte, konnte ich erkennen, dass ihr beide Unterarme fehlten. Ihre Augen hatten zudem ein seltsames Glimmen.
»Also ist es kein normales Kind, sondern ein – ähm, ein Fabelwesen oder ein Dämon? Was meint ihr?« Ich betrachtete das Geschöpf mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel. Es bewegte sich ganz eigenartig, so schlurfend und ruckartig. Die beiden Stummel, die wohl mal seine Arme gewesen sind, baumelten unbeholfen an seiner Seite herum.
»Es könnte ein Draugr sein«, murmelte Momo und checkte ein weiteres Mal seine technischen Geräte. »Ich bin gerade dabei, eine Software zu entwickeln, die nicht nur bei Anomalien zwischen unserer beider Welten anschlägt, sondern auch bei den Kreaturen selbst. Letztens beim Rasselbock hat es schon ein wenig funktioniert. Wollen mal sehen, was passiert – neeee!«
Als Momo sein Handy in Richtung des kleinen Störenfrieds hielt, wurde dieser durch den Lichtschein des Bildschirms aufgeschreckt. Er starrte eine Weile regungslos zu uns rüber, dann schlurfte er schneller davon, als wir ihm zugetraut hätten.
»Menschenskind, Momo! Du versaubeutelst es schon wieder«, motzte Luke und sprintete dem vermeintlichen Dämon hinterher.
Mohammad und ich nahmen ebenfalls die Beine in die Hand und hechteten ihm nach. Wir hatten mittlerweile Ecken und Winkel des Dorfes erreicht, in denen nur wenig Licht zur Verfügung stand. Von dort aus war es fast unmöglich, das Geschöpf mit seiner dunkelgrünlichen Färbung aufzuspüren.
»Lex, jetzt versuch doch noch einmal, ob du irgendwas merkst«, wollte mich Momo erneut als Wünschelrute für sonderbare Kreaturen missbrauchen.
»Ich sagte doch, das funktioniert so nicht. Aber ich kann gerne wieder einen auf unbeteiligt machen und gucken, ob sich das Kind an mich heranschleicht, wie der Rasselbock damals.«
»Kommt nicht infrage«, rief Luke dazwischen. »Das ist kein Kind, verflucht noch mal. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Wenn er dich erwischt, sehen wir dich nie wieder.«
»Machst dir wohl doch Sorgen um mich, was?«, neckte ich mich mit dem großen Blonden und stieß ihn mit meinem Ellenbogen in die Seite.
»Keine Ahnung, warum der Boss dir den Job gegeben hat, aber ich bin ja kein Unmensch«, nuschelte er sich im Bart.
»Leute, wir haben keine Zeit für so was«, unterbrach uns Momo und hob den rechten Zeigefinger in die Höhe. »Ich glaube, ich habe ein Signal. Mein Programm registriert eine Bewegung, die von einem übernatürlichen Wesen stammt. Ich fasse es nicht. Wie genial ist das denn?« Momo hüpfte kurz in die Luft und winkte uns dann zu, ihm zu folgen.
Wir flitzten erneut quer durch das nächtliche Leubingen. Von dem kindlichen Dämon war aber weit und breit nichts zu sehen. Irgendwann hielt Momo vor einer verfallenen Fachwerkmühle an.
»Das Signal bleibt hier stehen«, grübelte der dunkelhaarige Technikfreak und blickte sich suchend um. »Passt bloß auf, er könnte überall sein und uns aus dem Hinterhalt angreifen.«
»Aber er ist doch so klein und zierlich, außerdem fehlen ihm beide Arme. Was kann er schon groß ausrichten?«, konnte ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, vor einem Kind Angst zu haben, auch wenn ich wusste, dass es eigentlich keines war.
»Da oben!« Luke lenkte unsere Aufmerksamkeit auf das löcherige Dach des Fachwerkhauses. Von dort polterten auf einmal lose Dachziegel auf uns herab. »Geht in Deckung!«
Das musste er uns nicht zweimal sagen. Mit etwas Abstand zum Gebäude richteten wir unsere Blicke erneut nach oben und konnten dort die schmächtige Silhouette des Mini-Draugars erkennen. Mit Füßen und Gesäß rubbelte und schabte er über den Firstbalken des Daches, genauso, wie es über diese Art der Untoten berichtet wurde.
»Da hätten wir den Beweis«, erkannte auch Luke den Ernst der Lage. »Wir müssen ihn fangen und köpfen. Aber wie kriegen wir ihn da herunter?«
»Köpfen? Wollen wir uns wirklich an die Anleitung halten oder gibt es noch eine andere Möglichkeit, ihn von seinen nächtlichen Spukattacken abzuhalten?« Der Gedanke, einem Kind etwas anzutun war noch grauenvoller, als Angst vor ihm haben zu müssen.
»Gott, ich wusste, dass es in die Hose geht, wenn Weiber bei so was dabei sind«, wurde Luke mal wieder ungehobelt. »Dieses Kerlchen spukt bereits seit Tausenden von Jahren herum. Es gibt keine Rettung für ihn, nur Erlösung.«
»Leute, ich glaube, ich habe etwas herausgefunden.« Während Luke und ich einen Geschlechterkampf austrugen, hatte Momo seinen Wissensstand erweitert. Er schob seine Brille etwas höher und stellte sich mit gespannten Schultern vor uns hin, wie immer, wenn er einen klugen Vortrag zum Besten gab.
»Passt auf, was hier zum Fürstengrab von Leubingen steht«, begann er, auch uns zu erleuchten. »Nach den Aufzeichnungen von Friedrich Klopfleisch barg die Grabkammer eine Doppelbestattung, wobei die Hauptbestattung ein älterer männlicher Erwachsener mit Altersgicht und abgenutzten Zähnen war.«
»Das kann schon mal nicht unser kleiner Freund da oben sein«, grummelte Luke dazwischen.
»Lass mich doch ausreden! Also«, fuhr Momo fort. »Als quer über den Hüften des Toten liegend wurde das Skelett eines etwa zehnjährigen Kindes beschrieben. Es waren nur zwei Röhrenknochen der Arme erhalten, bei denen das Alter bestimmt werden konnte; andere Knochen des Kinderskeletts wurden nicht gefunden.«
Betretenes Schweigen machte sich breit und wurde erst unterbrochen, als ein weiterer Dachziegel auf dem Boden zerschellte.
»Das ist er«, sagte ich erstickt. Mir stiegen Tränen in die Augen. Der Untote war tatsächlich ein als Dämon wiedergekehrter kleiner Junge.
»Ach, Scheiße«, ließ es Luke dann doch nicht so kalt, wie er mir weismachen sollte. »Aber es nützt nichts. Er ist ruhelos und stellt hier alles auf den Kopf. Wir müssen ihn, ähm, ach, keine Ahnung. Jedenfalls ist es unsere Aufgabe, dass der Spuk endlich aufhört.«
»Aber er hat bislang keinen Menschen angegriffen, sondern eher eine Karriere als Poltergeist gestartet, nicht wahr?«, fragte ich nach näheren Details zu den Meldungen über unseren Draugr.
»Nun ja. Er verlässt demnach wohl nachts die Hügel, um mit den Menschen Schabernack zu treiben. Angegriffen hat er noch niemanden. Sonst hätte die CF längst andere Geschütze aufgefahren«, bestätigte mich Momo.
»Was hast du vor?«, bemerkte Luke, dass es in meinem Köpfchen nur so ratterte.
»Vielleicht müssen wir ihn doch nicht köpfen und verbrennen«, begann ich meine Ideen auszuformulieren. »Ich versuche, mit ihm in Kontakt zu treten.«
»Bist du irre? Nein! Alexis, ich habe dir bereits gesagt, dass das gefährlich ist. Diesmal macht der Boss wirklich Hackfleisch aus uns.« Luke schlug die Hände über den Kopf zusammen und lief kleine Kreise.
»Wilhelm meinte doch, dass ich einen Draht zu Fabelwesen habe. Ich glaube zwar selbst nicht dran, aber was wäre, wenn er recht hat und ich den Jungen irgendwie, hm, keine Ahnung. Wenn ich ihn ins Licht führen könnte oder so.«
»Lex, wir sind nicht bei Ghost Wisperer. Wilhelm, der alte Wunderknabe erzählt viel, wenn der Tag lang ist. Es könnte wirklich sein, dass du Kontakt zu dem Dämon aufnehmen kannst. Aber wir können nicht abschätzen, was dann passiert. Luke hat recht. Wir sollten das melden und uns vorerst aus Leubingen zurückziehen.« Momo legte seine Hand auf meine Schulter und nickte mir aufmunternd zu. »Ich weiß dein Mitgefühl für den Kleinen zu schätzen. Aber er ist nicht das, wofür du ihn hältst. Lass gut sein.«
Ich nickte und atmete tief durch. »Ihr habt recht. Was weiß ich schon von solchen Dingen, nur weil ich ein paar Bücher gewälzt habe? Ihr seid die Experten. Lasst uns nach Hause fahren.«
»Zu spä-ä-ät!« Luke geriet völlig aus der Fassung, als er sah, dass unser Draugr erneut auf der Flucht war.
Er muss vom Dach gestiegen sein, als wir uns gestritten hatten. Nun humpelte er wieder Richtung Dorfmitte.
»Wir müssen ihn wenigstens für heute Nacht von weiterem Ärger abhalten«, keuchte Luke hinter uns. »Ab morgen obliegt es der CF, was mit ihm passiert. Lasst ihn nicht aus den Augen!«
Als hätten wir das vorgehabt. Im Gegenteil. Rennen war ich ja mittlerweile gewöhnt. In dieser Nacht mussten meine Beine wieder zeigen, was sie konnten.
»Er rennt aus dem Ort raus«, jubilierte Momo, als klar wurde, dass der Dämon die Menschennähe verließ.
»Hoffentlich hat ihn keiner der Einwohner gesehen«, schnaufte Luke.
»Dann könnten sie ihn auch für ein Kind gehalten haben bei dem schlechten Licht«, blieb Momo gewohnt optimistisch.
»Er rennt zum Grabhügel«, stellte ich atemlos fest.
Ich sollte recht behalten. Der kleine sonderbare Kerl erklomm das Hügelgrab, aus dem er vermutlich stammte, und blickte zu uns herab. Wir drei mussten zunächst wieder zu Atem kommen, bevor wir uns über das weitere Vorgehen unterhalten konnten.
»Ich glaube, er will uns etwas sagen«, meinte ich wenige Augenblicke später. »Er guckt so flehend.«
»Hör auf, dich in was hineinzusteigern, Lex. Er will uns höchstens fressen.« Luke blieb bei seiner ablehnenden Haltung dem Kind gegenüber.
Ich hatte ein anderes Gefühl und ich wollte dieses nicht unbeachtet lassen. Allen Warnungen zum Trotz machte ich mich an den Aufstieg zum Gipfel des Grabhügels. Der kleine Dämon blieb erwartungsvoll stehen, seine glimmenden Augen auf mich gerichtet.
»Lex, komm da runter!« Ich ignorierte Momos Rufe und ging vor dem vermeintlichen Monster in die Hocke.
Der Junge legte den hageren Kopf schief. Ich konnte nun erkennen, dass er wirklich aussah, wie eine lebende Leiche. Die grün-schwarze Haut hing ihm teilweise in Fetzen vom Schädel, seine Haare hatten einen eigenartigen Kupferton und die Augen sahen aus wie weit entfernte Gaslaternen, die aus seinen tiefen Augenhöhlen leuchteten. Er trug zerfetzte und stark verwitterte Kleidung aus Naturstoffen. Deren Farben konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen. Die Arme des Jungen waren unterhalb des Ellenbogens abgetrennt worden. Schuhe trug er nicht und an seinen Füßen guckten die Knochen unter der dünnen Haut hervor.
»Hey, du«, sprach ich ihn an, nachdem von dem Jungen keine Interaktion ausgegangen war. Ich hatte null Ahnung, ob er mich verstand oder was ich sagen sollte. Wann erzählte man denn schon mit einem untoten Kind? Aber: Exercitatio artem parat – Übung macht den Meister, heißt es schließlich. Demnach sprach ich mit ihm darüber, was ich über seinen Tod erfahren hatte.
»Ich weiß, wer du bist. Du wurdest hier mit diesem alten Mann bestattet, stimmts? Und seitdem kannst du keine Ruhe finden. Hat man dir was Schlimmes angetan?«
Der Junge blieb stumm. Etwas anderes hatte ich eigentlich auch nicht erwartet, dennoch sprach ich weiter mit ihm. Nach einer Weile schien sich der kleine Dämon beruhigt zu haben. Er nahm eine entspanntere Körperhaltung an und kam ein paar Schritte auf mich zu.
Da war es wieder! Ich hatte in diesem Moment abermals so ein unerklärliches Gefühl verspürt. Diesmal war es weder eindeutig gut noch böse. Es war vielmehr Angst, Enttäuschung und Einsamkeit, die mich durchströmten. Ich musste weinen, obwohl ich nicht wusste, weshalb. Es war, als würden die emotionalen Erinnerungen des Kindes auf mich übertragen werden. Was auch immer dem Jungen damals angetan wurde, er hatte es bis heute nicht verarbeitet. Diese traumatische Belastung hatte ihn zu dieser Kreatur werden lassen. Wie tragisch konnte ein Tod bitte sein?
»Arme«, kam plötzlich ein kaum hörbares Wort aus ihm heraus. Dabei wackelte er mit seinen Stummeln vor mir herum.
»Hast du gerade Arme gesagt?«, fragte ich ihn und wunderte mich, dass er dieses Wort kannte. Womöglich hatte er in all der Zeit immer wieder unsere modernen Sprachen gelernt, während er auf den Dächern der Menschen hockte.
Er wollte ihnen niemals etwas Böses. Er wollte nur zu ihnen gehören. Wieder Teil von etwas sein. Mein Herz schmerzte bei dieser Erkenntnis. Vor allem als ich begriff, worum es dem Kind am meisten ging.
»Er will seine Arme zurück!«, rief ich meinen Kumpanen zu, die mittlerweile selbst so bleich wie Leichen aussahen. »Erinnert ihr euch an den Fund der beiden Röhrenknochen? Er kann ohne sie keinen Frieden finden.«
»Komm jetzt runter da, verdammt!«, hörte ich Luke fluchen. »Wir haben die Knochen nicht. Keiner hier hat sie. Die liegen in irgendeinem Museum.«
»Hörst du? Wir können dir nicht geben, was du suchst. Aber die Menschen im Dorf auch nicht. Deswegen musst du sie in Ruhe lassen, ja. Du darfst nicht mehr auf ihren Dächern herumspringen und ihnen Angst machen.«
Was dann geschah, kam einem Horrorfilm gleich. Das eben noch so friedliche und tieftraurige Dämonenkind wurde wütend. Ein schriller, ohrenbetäubender Schrei hallte durch die kühle Herbstnacht. Mir wurde schlecht dadurch und kurze Zeit später sah und hörte ich nichts mehr.
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