Exercitatio artem parat / Part 1

»SIND WIR BALD DA?« Lukes Fahrstil machte mich noch wahnsinnig.

»Alter, verträgst du kein Autofahren, Lex? Bist ja schlimmer als ein kleines Kind.«

»Du fährst einfach wie eine gesengte Wildsau, Lukas.« Und ja, ich hatte auf kurvigen Strecken schon immer meine Schwierigkeiten gehabt, aber das musste der Lulatsch am Steuer ja nicht wissen.

Ich saß auf der Rückbank seines alten Corsas, dessen Stoßdämpfer zu allem Übel auch nicht mehr die Neuesten waren. Vor mir, auf dem Beifahrersitz saß Momo und war wie sooft in seine Technik vertieft.

Gestern, an meinem ersten Arbeitstag in der Detektei hatten wir mehrere Meldungen über ungewöhnliche Aktivitäten in Leubingen erhalten. Am heutigen Montag waren wir drei losgeschickt worden, uns in dem Ortsteil von Sömmerda in Thüringen einmal umzusehen.

»Kannst du schon irgendwas erkennen?«, hakte ich bei unserem Computernerd nach, als wir die Stadtgrenzen erreicht hatten.

»Ich kann bislang keine Anomalien verzeichnen. Vielleicht ist es wieder nur eine Falschmeldung.« Das kam öfter vor, als ich dachte, erklärte Mohammad.

Nicht selten zog der Genuss mystischer Serien und Filme entsprechende Sichtungen nach sich. So etwas sei schon tausendmal vorgekommen, zum Beispiel auch, als damals Krieg der Welten von Orson Welles im Radio ausgestrahlt worden war. Dennoch war die Creatura Fabularis und damit ebenso wir, dazu verpflichtet, diesen Hinweisen nachzugehen. Immerhin könnte es sein, dass ein weiteres Fabelwesen gerettet werden musste.

Gegen 17 Uhr hatten wir einen abgelegenen Parkplatz gefunden, auf dem wir unsere „Station" aufbauten. Diese bestand allerdings nur aus einem Campingtisch, auf dem Momo sein Equipment ausbreitete und drei Klappstühlen. Wir hatten zwar eingeplant, über Nacht zu bleiben, ein Hotelzimmer benötigten wir aber ganz bestimmt nicht. Vielmehr rechneten wir damit, den Schlaf frühestens morgen nachholen zu können.

»Gut, lasst uns strategisch vorgehen«, begann Momo seinen Plan vorzutragen.

»Das sagt er jedes Mal«, amüsierte sich Luke über seinen Kollegen.

»Wie auch immer«, ließ dieser sich nicht ärgern. »Meine Geräte schlagen nicht aus. Demnach können wir ein Fabelwesen aus der Parallelwelt als Ursache für die gemeldeten Vorkommnisse zu 90 Prozent ausschließen. Es sei denn, du spürst irgendwas, Lex«, wandte er sich mir zu und hob erwartungsfroh die Augenbrauen.

»Ich denke nicht, dass das so funktioniert«, musste ich Momo enttäuschen. »Wenn es überhaupt so ist, dass ich gewisse Präsenzen spüren kann, dann nur, wenn das Tier oder der Mensch ganz in meiner Nähe ist. Als lebende Wünschelrute werde ich euch nicht dienen können.«

Tatsächlich hatte ich in Lukes Fachbüchern einen Abschnitt darüber gelesen, dass es Menschen gab, die empfänglich für übernatürliche Schwingungen waren. Man kannte sie aus dem Fernsehen als Medium oder Geisterseher. Gut, Geister hatte ich bislang noch nicht gesehen und auch diese anderen Gefühlsregungen würde ich zunächst unter Stresssymptom abbuchen. Dennoch musste ich mich zumindest damit auseinandersetzen, dass ich eine gewisse Sensibilität besitzen könnte, nachdem ich Teil dieser Gruppe geworden war.

»Mo, deine Technik ist Schrott«, spuckte Luke trocken seine Meinung heraus. »Die hat schon bei dem Rasselbock nicht richtig funktioniert.«

»Nicht so pessimistisch, mein hochgewachsener Freund«, blieb der Ägypter optimistisch und tatschte mittlerweile wild auf seinem Smartphone herum. »Lasst und erst einmal zu dem Grabhügel gehen und nachschauen, ob wir da irgendwas finden können.«

Leubingen war überregional bekannt für das größte noch erhaltene frühbronzezeitliche Fürstengrab der sogenannten Aunjetitzer Kultur. Es wurde ungefähr um 1940 vor Christus errichtet und 1877 bei Ausgrabungen entdeckt.

»Das ist zumindest der einzige Berührungspunkt zu einer möglichen spirituellen Kraft im näheren Umkreis«, fuhr Momo mit seinen Gedanken fort.

»Was genau wurde uns denn gemeldet?«, wollte ich mehr Details zu unserem Fall erhalten. Da ich gestern damit beschäftigt war, zahlreiche Formulare auszufüllen und Erklärungen zu unterzeichnen, hatte ich an der entsprechenden Dienstbesprechung nicht teilnehmen können.

»Schon seit längerem erzählt man sich in diesem Neunhundert-Seelen-Dorf, dass sich nachts auf den Dächern sonderbare Laute und Bewegungen abspielten«, sprach Mohammad mit gesenkter Stimme, was ungewöhnlich für ihn war. »In letzter Zeit soll sich dies massiv verstärkt haben. Mittlerweile seien sogar Schäden an den Firstbalken nachzuweisen.«

»Was genauso gut Waschbären verursacht haben können«, nahm Lukas den Fall nach wie vor nicht wirklich ernst.

»Genau das müssen wir ja bestätigen oder eben widerlegen. Möglicherweise steckt doch etwas dahinter, was wir den Einwohnern nicht länger zumuten wollen.«

»Ein Draugr«, sagte ich tonlos.

»Ein was?«, starrte Momo mich an und schüttelte überrascht den Kopf.

»Ich habe etwas darüber in einem von Lukes Büchern gelesen. Ein Draugr war in alten Volksglauben ein Toter, der in seinem Grabhügel „weiterlebt" und eine große Bedrohung für die Menschen seiner Umgebung darstellte. Unter anderem stand da auch etwas darüber, dass er nachts auf Dächern Radau machte.«

»Aber ein Draugr ist kein Fabelwesen von der guten Art«, kratze sich Luke an seinem von hellem Flaum gesäumten Kinn.

»Ein Dämon also?« Momo blickte sich automatisch suchend um. »Ich bin nicht sicher, ob wir dafür ausreichend ausgestattet sind.«

»Wir sind hier, um die Lage zu checken. Hast du selbst gesagt. Alles andere sehen wir, wenn wir etwas entdeckt haben. Sofern deine Technik überhaupt was findet«, spielte Luke die Ängste seines Kollegen runter.

»Das wird sie. Vertraut mir. Aber ich sehe, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, Frau Emmerich.« Mohammad grinste mich anerkennend an.

»Wenn ich schon so verrückt bin und diesen Job annehme, dann möchte ich nicht komplett blöd dastehen und am Ende jammern, dass ich gar nichts über die Gefahren gewusst habe. Obwohl ich nicht abstreiten kann, dass mich das alles ziemlich nervös macht.«

Auch Luke schien sich über meinen Lerneifer zu freuen, behielt seine Gedanken dazu aber für sich.

Nach einer Weile hatten wir den Grabhügel erreicht. Es sah dort beschaulicher aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Eher wir eine abgespeckte Version des Auenlandes aus der Herr der Ringe.

»Ist dieser Draugr so etwas Ähnliches wie die Grabunholde in Tolkiens Herr der Ringe?«, fragte Momo und ich musste beinahe laut loslachen. Konnte der Kerl Gedankenlesen oder was? Erst der Zufall mit dem Stargate letztens und jetzt das?

»Ja, so könnte man das vergleichen. Aber ich denke, ein Draugr ist noch ein ganzes Stück bösartiger«, erklärte Luke und begann dabei, die mit Gras überwachsene Erhebung zu erklimmen. »Hoffen wir, dass sich der Verdacht nicht bestätigt.«

So langsam wurde mir doch etwas mulmig. Mir war bewusst, dass es mehr gab, als niedliche Rasselböcke. Aber dass ich bereits an meinem ersten richtigen Arbeitstag mit einem Dämon zusammentreffen könnte, war dann doch heftig für den Anfang. Ein Sprung ins kalte Wasser.

»Da die Störungen in der Nacht passieren, schlage ich vor, dass wir erst einmal zum Auto zurückkehren und unsere Suche fortsetzen, wenn es dunkel ist. Bislang schlägt meine Technik jedenfalls nicht aus.« Wir folgten Momo zurück zum Parkplatz, wo wir zunächst etwas aßen und uns für alle Fälle über Draugar schlaumachten.

»Den Kopf abtrennen, diesen auf seinen Arsch legen und alles zusammen verbrennen. Na, wenn es weiter nichts ist!« Luke hatte herausgefunden, was getan werden musste, falls wir es wirklich mit einem dieser Untoten zu tun bekämen.

»Wir fangen ihn also nicht ein und bringen ihn in die Parallelwelt zurück?«, wollte ich wissen, warum wir bereits Mordpläne schmiedeten.

»Nicht bei dieser Art von Kreatur.« Lukas schüttelte den Kopf und kratzte sich am Hinterkopf, »Wir können froh sein, wenn er uns nicht als Erster erwischt.«

»Aber da steht, dass normale Waffen keine Wirkung bei einem Draugr zeigen und, dass sich ihr aussehen nach Art ihres Todes richtet. Wenn er nun enthauptet wurde und gar keinen Kopf mehr hat?« Die Jungs sahen mich fragend an.

»Uff, sie stellt gute Fragen. Verdammt, Luke. Wir steuern auf eine weitere Katastrophe zu. Wenn es wirklich ein Draugr ist, sind wir aufgeschmissen.« Momo nahm seine Brille ab und fuhr sich mit der linken Hand übers Gesicht. »Wir sollten Marlowe anrufen und das weitere Vorgehen mit ihm absprechen. Die Geschichte hier könnte eine Nummer zu groß für uns sein.«

»Sei kein Frosch, Mo! Du kannst keine Übertritte aus der Parallelwelt registrieren«, Luke deutete mit einem Kopfnicken auf Momos Laptop. »Also besteht die Hoffnung, dass es auch keine gab und wir nachher einen fetten Waschbären oder Baummarder finden, der auf den Dächern nach Vogelnestern sucht.«

Ich konnte nur hoffen, dass Luke recht behalten sollte.

Kurz nach 21 Uhr machten wir uns wieder auf die Strümpfe und zogen durch Leubingen. Der Ort war wie leer gefegt. Das Gerücht, es könnte sich eine Schreckgestalt im Dorf herumtreiben, hatte alle Bewohner in Alarmbereitschaft versetzt.

»Wie oft sollen wir noch dieselbe Straße hoch und runter gehen«, beklagte sich Luke über unsere ziellose Nachtwanderung. »Irgendwann denken die Einwohner, wir seien die Verursacher der nächtlichen Störungen.«

Irgendwo hatte er recht. Ich würde drei dunkel gekleidete fremde Leute, die nach Sonnenuntergang mehrmals an meinem Haus vorbeigehen auch verdächtig finden. Ich musste schmunzeln, als ich mich daran erinnerte, dass ich vor ein paar Wochen bei Trickbetrügern anheuern wollte. Dabei fiel mir auch wieder ein, dass diese Leute eventuell noch die Jacke aus dem Theaterfundus hatten. Wilhelm hatte mir versichert, dass die Polizei keine braune zerschlissene Lederjacke bei der Durchsuchung und Beweisaufnahme entdeckt hatte. Nachdem ich das von den Hexen erfahren hatte, von denen es nicht nur Gute gab, hatte ich manchmal Angst, dass sie mich mithilfe des Kleidungsstückes auffinden könnten. Darüber hatte ich bislang mit niemandem gesprochen. Vielleicht lotste sie der Jupdich ja auch zu seinem früheren Besitzer. Immerhin hatte die Jacke rund vierzig Jahre auf dem Buckel.

Ein heftiger Stoß riss mich aus meinen Gedanken. Luke schubste Momo und mich in eine Seitenstraße, in der keine Laterne stand.

»Was ist denn los?«, flüsterte ich.

»Da war was! Da hinten, zwischen den beiden Häusern. Eine Gestalt, die sich merkwürdig ungelenk bewegt.«

Mein Herz fuhr Formel 1 in meiner Brust. Sollte Luke tatsächlich ein nichtmenschliches Wesen entdeckt haben?

»Momo, was sagt deine Software?«, erkundigte sich Lukas nach verdächtigen Ausschlägen auf Momos Handy.

»Nichts. Es wurde nach wie vor kein Durchgang in unsere Welt geöffnet. Was auch immer du gesehen hast – es ist entweder kein Fabelwesen oder hat niemals in der Parallelwelt gelebt.« Momos Stimme wurde wieder etwas schriller, obwohl er so leise wie möglich sprach.

»Was meinst du damit? Wurden nicht alle Fabelwesen in die andere Welt gebracht?« Ich konnte vor Angst kaum folgen, was Momo zu erklären versuchte.

»Das kommt auf die Art des Wesens an und bei dem hier habe ich ein ganz mieses Gefühl.«


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