Creatura Fabularis / Part 1
»HE, MARLOWE, ALTES HAUS!«, ein älterer Mann mit deutlichem Bauchansatz unter dem karierten Hemd polterte in Marlowes Büro, gerade in dem Augenblick, als ich etwas über den Kerl mit dem Tattoo auf dem Hinterkopf sagen wollte. Von Anklopfen hatte der Bursche wohl noch nie etwas gehört? Dabei störten sich die älteren Menschen doch immer an dem schlechten Benehmen der jüngeren Generationen.
»Wilhelm, nice to see you«, lautete Marlowes weit weniger euphorische Antwort auf diesen Überfall, der mir beinahe einen Herzstillstand beschert hatte.
»Alles Gute nachträglich zum Geburtstag. Hattest du eine schöne Zeit bei deiner Familie?« Wilhelm schüttelte Marlowes Hand, die zuvor gerade noch die Schachfigur in Sicherheit bringen konnte.
»Das hatte ich. Ich danke dir, Wilhelm.« Da prallten Gegensätze aufeinander. Dieser Wilhelm strotzte nur so von Energie, war laut und präsent. Marlowe konnte sich immerhin von seinem Drehsessel erheben und seinem Bekannten ein höfliches Lächeln schenken.
Auch während meiner Befragung hatte er kaum seine Mimik verändert. Seine müde wirkenden Augen ruhten die ganze Zeit über auf mir, indessen ich mich um Kopf und Kragen quasselte. Hin und wieder kritzelte Marlowe Notizen in seinen Block, was mich erneut an Inspektor Columbo denken ließ.
»Du warst zuerst in London, ja? Hast du da deinen – oh! Verzeihung. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast. Oder ist das die ...?« Wilhelm hatte mich endlich auch entdeckt und schon befand sich meine rechte Hand auf dem besten Weg zu einem Schleudertrauma. Und einen festen Handschlag hatte der Kerl. Der könnte mir mal etwas von seiner Energie und seinem Selbstbewusstsein abgeben.
»Ich bin Alexis Emmerich. Ich war am Freitag, also. Ähm ...« Unsicher blickte ich zu Marlowe. Ich war mir bei all den Geheimhaltungsklauseln nicht sicher, was ich sagen durfte.
»Miss Emmerich war bei der besagten Versammlung anwesend«, sprang Marlowe für mich ein. Offenbar war dieser Wilhelm jemand aus dem inneren Kreis. »Sie hat für uns gearbeitet und konnte uns wichtige Hinweise liefern.«
Marlowe sprach fließend deutsch. Sein englischer Akzent war aber deutlich zu erkennen. Klang irgendwie schön. Er sollte öfter mal was erzählen, und nicht nur stumm zuhören.
»Eine neue Mitarbeiterin! Wunderprächtig! Es freut mich, dich kennenzulernen, Alexa.« Alexis. »Ich bin der Wilhelm. Wilhelm Burmeister. Ein alter Freund und Weggenosse von ihm hier«, warf er Marlowe ein Grinsen zu. Zum zweiten Mal wurde meine rechte Hand einer Belastungsprobe ausgesetzt. Wilhelm schloss schnell Freundschaften, aber auch voreilige Rückschlüsse, die ich klarstellen wollte.
»Ich bin keine Mitarbeiterin, ich habe nur –«
»Los, erzählt mir alles. Haben sich unsere Vermutungen bestätigt?« Ohne weiter auf mich einzugehen, schob Wilhelm einen zweiten Stuhl heran, platzierte sich neben mich und sprach mit dem Detektiv.
Marlowe warf mir einen fragenden und prüfenden Blick zu. Ich war bereits dabei, aufzustehen, da ich damit rechnete, nun den Raum verlassen zu müssen. Ein Nicken und eine Geste mit der Hand des Bosses signalisierte mir, dass ich der Ermittlergruppe weiterhin beiwohnen durfte.
Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich das gut oder schlecht fand.
Erneut musste ich erzählen, was ich am Freitag alles gesehen und gehört hatte. Marlowe ergänzte manchmal seine Notizen, hörte ansonsten wieder nur stumm zu. Wilhelm glänzte mit Dutzenden Zwischenfragen, Ausrufen des Erstaunens, Händeklatschens und Ah- sowie Oh-sagens. Dabei bildeten sich winzige Schweißperlen auf seiner Halbglatze. Am Ende erstellten wir eine Liste mit sämtlichen Täterprofilen, die wir durch meine Berichte zusammengetragen hatten.
Da wäre der Typ in dem dunkelgrauen Hyundai Sonata älteren Baujahrs. Blasse Haut, rote Schirmmütze, etwa Ende dreißig Anfang vierzig.
Der Bursche am Eingang, der Zopfmann und seine beiden Türstehertypen, die Frauen, der Pole, ein Kerl namens Florian, mit einer großen krummen Nase, der etwas dümmlich aus der Wäsche guckte. Dann war da dieser putzige Spanier, der so gar nicht so dem Rest der finsteren Gruppe passen wollte. Er unterhielt sich mit einem gewissen Jakob, der ihm aufmerksam zuhörte. Außerdem fiel mir ein großer Blonder auf, der immer dicht hinter dem Kerl mit dem Tattoo am Hinterkopf herlief.
»Generell kam es mir so vor, dass der Tattoomann irgendwie überall war. Ich habe ihn in der Zeit, in der ich in der Halle war, bestimmt mit über der Hälfte der Anwesenden mindestens einmal reden sehen.« Marlowe und Wilhelm warfen sich intensive Blicke zu.
»Und das war auch der, der dich verfolgt hat?«, hakte Wilhelm nach.
»Richtig. Plötzlich stand er wie aus dem Nichts vor mir und genauso schnell war er auch wieder verschwunden.«
»Könntest du ihn noch genauer beschreiben? Und das Tattoo?« Wilhelm reichte mir ein Blatt Papier.
»Uff, also ob ich das so hinkriege, kann ich nicht versprechen«, murmelte ich und begann, die Linien aufzuzeichnen, die ich aus meinem Gedächtnis wachrufen konnte. »Irgend so ein Geschnörkel. Vielleicht kann Saskia etwas dazu sagen.«
Marlowe sah überrascht aus, dass ich über Saskias Fähigkeiten Bescheid wusste.
»Die knackt doch jedes Rätsel«, schallte Wilhelm durch das kleine Zimmer. »Danke, Alexa. Du bist uns eine große Hilfe.«
»Erstens: Alexis. Zweitens: Ich war eine große Hilfe. Für mich ist die Sache ab jetzt gegessen«, warf ich ein, woraufhin Wilhelm traurig aus der Wäsche guckte. »Mister Marlowe, ähm, alles Weitere klären wir dann, wenn Sie Zeit haben. Ihre Mitarbeiter haben meine Kontaktdaten. Rufen Sie mich einfach an.« Ich nickte dem Boss noch einmal zu und befand mich dann schneller an der Tür, als mir selbst bewusst war.
Ich hatte es so eilig, endlich in mein altes Leben zurückzukehren, dass ich dabei nicht auf meine Umgebung achtete und prompt in jemanden hineinpolterte, der offenbar gerade auf dem Weg zu Marlowe war.
»Oh, Verzeihung!«, entschuldigte ich mich sofort bei dem jungen Mann, der vor mir stand.
»Kein Ding«, winkte der Kerl mit den hellbraunen Haaren und graublauen Augen ab. »Ist Marlowe in seinem Büro?«, fragte er mich anschließend.
»Ja, aber er hat noch Besuch«, gab ich zurück, als bereits die Tür zu Marlowes Büro aufsprang und Wilhelm im Flur erschien.
»Ah, René. Da bist du ja endlich«, begrüßte er den Burschen neben mir, den er offensichtlich gut kannte.
René schien weniger erfreut zu sein, den älteren Mann zu sehen. Nachdem sich sein Blick ganz kurz verfinstert hatte, trat er lächelnd an ihn heran.
»Ich kümmere mich um alles. Es ist alles vorbereitet.« René deutete mit dem Kopf Richtung Hinterausgang. Dorthin, wo der Rasselbock untergebracht war.
»Das hat Zeit, mein Junge. Komm, wir müssen noch über etwas anderes sprechen.« Wilhelm wedelte mit meiner Zeichnung von diesem Tattoo herum und stiefelte Richtung Eingangsbereich.
»Ähm, ich geh dann mal«, sagte ich auf dem Weg dorthin, aber Wilhelm hatte andere Pläne.
»Nein, nein. Bleib noch ein bisschen«, sagte er und schob mich sanft vor sich her.
»Wirklich, ich habe alles gesagt, damit ist mein Versprechen eingehalten und ich – oh!«
Als wir im Eingangsbereich ankamen, bot sich mir ein Anblick, den ich nicht erwartet hätte. Der ganze Raum war mit Girlanden und Luftballons geschmückt und auf dem Tisch standen zahlreiche Speisen, Kuchen und Getränke. Darüber wehte eine Fahne mit einer goldenen 32. Stimmt! Wilhelm hatte Marlowe vorhin zum Geburtstag gratuliert. 32. Damit lag ich mit einer Schätzung bezüglich seines Alters goldrichtig.
Marlowe selbst schien das Brimborium um seine Person nicht so berauschend zu finden. Er fiel beinahe rückwärts um, als er das Aufgebot sah.
»Alles Gute nachträglich, Boss«, traute sich Momo als Erster, etwas zu sagen. »Und sorry noch mal, dass wir die Sache mit dem anonymen Hinweis nicht mit dir abgesprochen haben.« Verlegen blickte er auf den Boden und schob seine Brille zurecht.
»Das Geschenk ist von uns allen«, warf Saskia ein, die stolz neben einer großen bunt verpackten Kiste stand.
Marlowe blieb wortkarg.
»Das ist ja herzerfrischend!« Dröhnte dafür Wilhelm und lachte, als hätte man ihm diese Party gewidmet. Möglicherweise freute er sich auf die zahlreichen Köstlichkeiten.
»Danke, Leute. Aber ihr wisst, dass das nicht nötig war«, meldete sich Marlowe doch noch zu Wort. Es war schwer zu sagen, ob er sich freute, verlegen oder sauer war. Ein Buch mit sieben Siegeln, dieser Brite.
»Doch, war es!«, rief Luke aus der hintersten Ecke und hatte ein weiteres Geschenk in der Hand. »Und zwar im doppelten Sinne.«
Ein bisschen schüchtern kam Luke auf mich zu. »Alexis, danke noch mal für deinen Einsatz und entschuldige uns, dass wir das von dir verlangt haben. Und, nun ja. Wir haben leider erst am Sonntag gesehen, dass du am Mittwoch Geburtstag hattest. Also alles Gute nachträglich auch für dich.«
»Das wird ja immer niedlicher!« Lautes Lachen verließ Wilhelms Schlund. »Von mir auch die besten Wünsche, Alexis.« Meinen Namen betonte er besonders stark. Immerhin war es diesmal der Richtige.
»Vielen lieben Dank. Damit hätte ich nicht gerechnet«, sagte ich und spürte, dass ich rot wurde.
»Das ist nach alledem, was wir verbockt haben, wohl das Mindeste.« Momo sprang mir um den Hals und drückte mich ganz fest. »Wir wünschen dir für die Zukunft alles Gute. Ich hoffe, dass du schnell wieder als Schauspielerin arbeiten kannst.«
Wem sagst du das?
Auch Luke hatte eine kurze Umarmung für mich übrig. Saskia blieb bei einem flüchtigen Handschlag, was immerhin mehr war, als das knappe Nicken von Mr Marlowe. Dafür ließ es sich Wilhelm nicht nehmen, mich einmal halb durch die Halle zu wirbeln. Langsam wurde der Kerl anstrengend.
René stand etwas abseits der Runde und blickte ungeduldig auf die Uhr. »Wann kann ich den Bock holen?«, fragte er.
»Jetzt wird erst mal gegessen«, dämpfte Momo seinen Tatendrang und deutete auf das reiche Buffet.
Schließlich ließen sich alle Anwesenden zu dieser kleinen Feier überreden. An der Tür stand ein Schild mit „Geschlossene Gesellschaft" und drinnen versuchte sich Luke als DJ.
Ich erfuhr, dass Momo zusammen mit seinen Eltern vor 16 Jahren nach Deutschland kam. Er flog nur selten zu seinen Verwandten nach Kairo, obwohl er eine große Schwäche für die ägyptische Antike und Mythologie habe.
»Und so bist du auf die anderen gestoßen?«, fragte ich nach, als er mir von Chatforen zum Thema Sagen und Mythen erzählte.
»Genau! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was hier in Deutschland los ist. Gerade der Harz steckt voller Legenden und, ja, Fabelwesen. Eines Tages hat mich die Creatura Fabularis angeschrieben und gefragt, ob ich ihnen technisch zur Seite stehen wolle. So bin ich dann Teil dieser besonderen Detektei geworden.«
»Creatura Fabularis?«, fragte ich nach und merkte, wie sich Renés Schulter anspannten.
»Sie gehört nicht zu uns, Momo. Halt dich zurück«, schnitt Saskia ihrem Kollegen das Wort ab.
»Nach allem, was ich erfahren habe, hat diese junge Dame einen ganz großen Anteil daran, dass der Rasselbock gerettet werden konnte«, ergriff Wilhelm Partei für mich. »Ich denke, Alexis sollte hören, was und für wen sie das getan hat.«
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