Cave quicquam dicas, nisi quod scieris optime
DAS PENETRANTE KLINGELN meines Handys weckte mich aus einem unruhigen Schlaf. Nachdem ich es geschafft hatte, die Augen zu öffnen, fühlte sich zunächst alles an, wie immer. Erst allmählich kehrten die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück. Oder waren es gar keine Erinnerungen? Könnte es sein, dass ich alles nur geträumt hatte? Gut, vielleicht nicht alles. Dass ich gestern meine letzte Vorstellung im Schiller hatte, wusste ich mit trauriger Gewissheit. Bei allem, was sich abspielte, nachdem ich mich von meinen Freunden verabschiedet hatte, war ich mir nicht so sicher.
Da waren diese beiden verschrobenen Typen, das Fabeltier, die Detektei und der Vertrag, den ich unterzeichnen musste.
Je mehr ich nachdachte, desto klarer stellten sich die Bilder der vergangenen Stunden dar. Verfluchter Mist, das war kein Traum, dachte ich nach einer Weile. Nein. Das war es nicht. Ich hatte gestern ein paar wildfremden Leuten dabei geholfen, einen waschechten Rasselbock zu fangen. Einem Fabelwesen, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Jedoch spürte ich noch den blauen Fleck am Hintern, dort wo er mich ein paarmal attackiert hatte.
Das erneute Klingeln meines Handys ließ mich aus diesen Erinnerungen aufschrecken. Tuyets aufgeschlossenes Lächeln erschien auf dem Bildschirm. Was wollte sie denn in aller Früh? War etwas mit ihrem Sohn?
»Tu-Tu, was gibts? Ist etwas passiert?« Eine Weile lang blieb es am anderen Ende der Leitung still und meine Fragen unbeantwortet, was mir einen Stich ins Herz bescherte.
»Ähm, Lex. Das sollte ich wohl eher dich fragen. Wo steckst du denn? Ich habe vorhin bei dir geklingelt. Wir wollten heute zusammen frühstücken und, na ja. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Kleine.«
Verflucht noch einer! Richtig! Ich hatte heute Geburtstag. Es kam mir vor, als wäre das in Wirklichkeit ewig her gewesen. In Wahrheit hatte ich noch in der Nacht die ersten Glückwünsche in Empfang genommen. Bevor der Bock dazwischen rasselte.
»Ja! Ne! Also, danke. Tu-Tu, ich bin zu Hause. Ich muss dein Klingeln nicht gehört haben. Es ist spät geworden gestern, also heute Nacht. Ich bin eben erst aufgewacht.«
»Hatte ich mir schon fast gedacht«, konnte ich meine Nachbarin und Freundin schmunzeln hören. »Kein Ding. Kommt erst mal in Ruhe im Hier und Jetzt an. Soll ich uns was Schönes kochen und zum Mittag zu dir kommen oder bist du zu verkatert, um etwas zu essen?«
»Ich habe nichts getrunken. Na ja, ein – zwei Gläser Sekt, aber nichts Richtiges.« Als ich das sagte, war ich mir dessen gar nicht mehr so sicher, aber an etwas anderes konnte ich mich nicht erinnern und ich fühlte mich absolut nicht so, als hätte ich härteren Alkohol intus. »Mittagessen klingt gut. So gegen 13 Uhr? Kommt Liem auch mit?«
»Liem fragt schon den ganzen Tag, wann er Tante Lex sein Geschenk überreichen darf.«
»Oh, da bin ich aber gespannt. Richte ihm beste Grüße aus und, dass sich Tante Lex sehr auf ihn freut.«
»Werde ich machen. Bis nachher, Kleine!«
Liem ist Tuyets fünfjähriger Sohn aus ihrer Ehe mit Dennis Seyfarth. Der süße Fratz war mir sehr ans Herz gewachsen und ich musste gestehen, dass ich damals wirklich Angst hatte, dass Dennis den Jungen nach der Trennung von Tuyet mit sich nach Frankfurt am Main nimmt. Glücklicherweise hatte er eingesehen, dass es nicht gut für das Kind gewesen wäre, ihn aus seinem gewohnten Umfeld und seinem Freundes- und Familienkreis herauszureißen.
13 Uhr wollten die beiden zu mir kommen? Okay, wie spät war es denn jetzt überhaupt? 11:23 Uhr?! Da war ich ja wirklich noch mal ordentlich weggeratzt, nachdem ich mich gegen 4 Uhr in die Pfanne gehauen hatte.
Ja, so lange war ich noch in der ominösen Detektei. Nachdem wir den Rasselbock versorgt hatten, ging es ums Geschäftliche. Momo und Luke hatten eine Kopie von meinem Personalausweis angefertigt, nachdem ich sie davon abhalten konnte, ihn tatsächlich zu konfiszieren. Widerwillig unterzeichnete ich einen Probearbeitsvertrag, damit ich bei meinem Sondereinsatz am Freitag auch versichert war. Immerhin etwas.
Anschließend boten sie mir etwas zu trinken an und ich konnte auf dem Weg zur Toilette, ein paare Blicke durch die alte Autowerkstatt werfen.
An den Wänden hingen zahlreiche Urkunden, Zertifikate und Auszeichnungen. Ihr Boss, ein Michael irgendwas Marlowe stammte offenbar aus England und war ausgebildeter Polizist. Was um alles in der Welt hatte ihn dann ausgerechnet nach Eichenstedt verschlagen? Auch die anderen Ermittler und Fabeltierjäger stammten nicht aus der Region. Von Dresden bis Ägypten war alles vertreten.
Irgendwie war mein Interesse an dieser illustren Truppe geweckt worden. Vor allem daran, welche Viecher sie noch so retten würden. Darüber jedoch, stand an keiner der Wände, unter deren abplatzendem Putz roter Backstein zum Vorschein kam, etwas geschrieben. Keine Urkunden für die Verdienste im Kampf für die Erhaltung seltener Arten oder Ähnliches.
»Jetzt weiß die nicht nur von dem Vieh, sondern auch, dass unsere Detektei etwas damit zu tun hat.« Das hatte diese schnippische Saskia gesagt. Offenbar fuhr dieses Büro zweigleisig.
Momo und Luke hatten mir ebenfalls nicht viel Auskünfte gegeben. Stattdessen legten sie mir die Salvatorische Klausel unter die Nase. Ich unterzeichnete, niemandem auch nur das klitzekleinste Wörtchen über das zu sagen, was ich in jener Nacht gesehen und erfahren hatte.
Erneut machte Momo mich darauf aufmerksam, dass es dabei nicht um die Detektei an sich ginge, sondern vor allem um die Sicherheit der Fabelwesen.
Ich verstand das und gab meinen Schwur, nichts und niemanden etwas zu sagen. Es würde mir ohnehin keiner glauben und wenn doch, dann Gnade Gott für den armen Rasselbock!
Zudem wüsste ich nicht mal, was ich eigentlich erzählen würde. Rede nicht über etwas, was du nicht genau kennst, lautet ein altes lateinisches Sprichwort. Daran wollte ich mich halten.
Es war mittlerweile kurz vor 13 Uhr. Ich hatte mich geduscht und chic gemacht. Haufenweise Geburtstagsgrüße entgegengenommen oder beantwortet und wartete nun voller Vorfreude auf meine Freundin Tuyet und ihren kleinen Lütte.
Es dauert nicht lange, da hörte ich Liems aufgeregte Stimme bereits im Treppenhaus. Ich wartete, bis der Bub geklingelt hatte und sich über das Ding-Dong freute. Dann öffnete ich die Tür und schon schlang er seine patschigen Händchen und meine Hüften.
»Tante Lex! Herzlichen Glückwunsch zum Burtstag!«
»Danke schön, Liem«, antwortete ich und zog den Jungen in eine feste Umarmung.
»Von mir auch alles Gute und vor allem ganz viel Erfolg weiterhin.« Tuyet knuddelte mich und zerquetschte dabei beinahe den kunterbunten Strauß aus Gerbera, Lisianthus, Rosen, Inkalilien und Strandflieder. »Die sind für dich. Passt wunderbar in die vietnamesische Vase, die ich dir letztes Jahr geschenkt habe.«
Es war großartig, mit Tu-Tu eine derartige Konstante in meinem Leben zu haben. Sie hat mich bereits kurz nach meinem Einzug vor anderthalb Jahren mit kulinarischen Spezialitäten aus dem Herkunftsland ihrer Eltern verwöhnt und ihr Sohn Liem ließ uns ohnehin keine andere Wahl, als Freundinnen zu werden. Während ihrer Trennung von Dennis stand ich ihr zur Seite. Nach dem bevorstehenden Aus des Schiller Theaters hatte sie mir das tausendmal zurückgegeben.
»Guck mal!« Liems zarte Stimme holte mich aus meinen Gedanken zurück. Er streckte seine kleine Hand aus, in der ein gelbes Figürchen lag. »Hab ich 'macht. Das ist 'son komisches Tier, das du immer fangen tust.«
Bei dem Satz rutschte mir das Herz dermaßen in die Hose. Tuyet rette mich aus meiner Schockstarre.
»Lasst uns erst mal reingehen, damit ich das Essen fertigmachen kann«, sprach sie und verschwand in meine Küche.
Ich schloss die Tür, atmete tief ein und betrachtete endlich, was Liem mir da gerade in die Hand gedrückt hatte.
»Das ist Pikamschuh«, ergänzte er selbst und auch mir fiel schließlich die Ähnlichkeit zwischen dem kleinen gelben Männekieken und einem Pikachu auf.
»Vielen lieben Dank, Liem. Das hast du toll gemacht.« Wieder knuddelte ich den Knaben und kitzelte ihn anschließend kräftig aus. Das herzhafte Kinderlachen ließ meine Ohren klingeln, aber was gab es Schöneres?
Am Nachmittag fläzten wir drei Pappenheimer uns auf mein giftgrünes Sofa, das ich damals aus einem Secondhand-Shop ergattert hatte. Ich wollte es längst auswechseln, aber es hatte mittlerweile so was wie Kultstatus erreicht, also erhielt es eine Gnadenfrist. Bei einem Glas Rotwein mit Schokoladenaroma sprachen wir über das Ende des Schiller Theaters. Tu-Tu war ein paar Tage zuvor in der Nachmittagsvorstellung von Maria Stuart gewesen. Nur sie. Eine Privatvorstellung sozusagen, nur unfreiwillig.
»Und du verlässt Eichenstedt, wenn du ans Nordharzer wechselst?«, fragte sie, noch immer im Glauben, ich würde Teil des Ensembles in Halberstadt werden.
»Vorerst nicht. Ähm, es ist erst mal nur ein Probevertrag. Warten wir ab, was daraus wird. Bis Januar ist es noch eine Weile hin. Bis dahin können wir zwei Herzblätter noch eine Menge Unsinn starten.« Anfang des Jahres musste ich dann eine andere Ausrede parat haben. Zumindest einen Probearbeitsvertrag besaß ich neuerdings wirklich. Wenn auch nicht den, über den ich eben sprach.
»Klingt super«, zwinkerte mir Tuyet zu und schlürfte den letzten Schluck Rotwein. »Ich habe noch ein paar Tage frei. Darf ich dich am Freitag irgendwohin entführen?«
»Freitag!«, rief ich lauter aus, als beabsichtigt. »Ähm, nein. Also, diese Woche ist schlecht.« Ich musste mein Versprechen gegenüber diesen Detektiv-Fuzzis einhalten und in erreichbarer Nähe bleiben, um zu beweisen, dass man mir vertrauen konnte.
»Was hast du denn vor?« Tu-Tu hob ihre Augenbraue und rutschte etwas näher an mich heran. »Zelebrierst du den Abschied von Timo doch noch ein bisschen länger?«
Timo! An so was Profanes hatte ich schon gar nicht mehr gedacht. Wir hatten ein paar Monate was laufen, aber das war eine ganze Weile her und nie was Ernstes.
»Der ist bereits abgereist. Er nimmt an einem erweiterten Schauspielkurs in München teil. Du weißt doch, er will zum Film.«
»Das schafft er sicher, mit seinem hübschen Gesicht«, nickte Tuyet.
»Als Schauspieler braucht man mehr als das«, warf ich ein.
»Ich weiß. Er ist auch nicht mein Typ, um ehrlich zu sein, und zu dir hat er eigentlich auch nicht gepasst.«
»Ach, woher kommt den diese Erkenntnis so plötzlich?«
Tu-Tu und ich lachten herzlich und gossen uns den letzten Rest der Rotweinflasche ein.
»Also, was hast du so Wichtiges vor, dass du deine Lieblings-Tuyet versetzt?«, hakte meine Freundin nach und erneut war ich gezwungen, die Fantasie spielen zu lassen.
»Ach, ich muss noch eins zwei Dinge erledigen. Behördenkram und so was. Aber dann stehe ich dir voll und ganz zur Verfügung.« Der letzte Satz war keine Lüge, sondern eine Hoffnung.
»Ist notiert. Also kein Date oder so was?«
Tuyet war manchmal sehr direkt, was ich nicht immer an ihr schätzte.
»Nein, kein Date. Dafür habe ich zurzeit wirklich keinen Kopf. Und bei dir so?«
Tu-Tu schnaubte aus, trank den Rotwein leer und stellte das leere Glas auf den Tisch. Dann beobachtete sie ihren Sohn Liem, der auf meinem künstlichen Schaffell mit ein paar meiner alten Kuscheltiere spielte, dass sie auf einer Wolke saßen.
»Nein«, sagte Tuyet schließlich deutlich leiser als gewohnt und fuhr sich mit der linken Hand durch ihre kurzen ebenholzschwarzen Haare. »Nach der Trennung und der Scheidung habe ich erst mal die Schnauze voll. Ich genieße die Zeit mit Liem jetzt aus vollen Zügen. Das ist alles, was ich brauche. Aber wenn du mal einen oder eine hübsche Blonde triffst, sag mir sicherheitshalber Bescheid. Vielleicht kann ich mir was warmhalten.«
Wieder lachten wir – Tu-Tu aus vollem Herzen, ich nur gekünstelt. Zwei Blonde hätte ich im Angebot, darf es dir aber nicht sagen.
Wir fanden im Laufe des Nachmittags glücklicherweise noch zahlreiche Themen, die mich nicht an die vergangene Nacht erinnerten. Es war ein wunderschöner Geburtstag, den mir Tuyet und ihr Knirps beschert hatten. Dankbar aber auch erleichtert verabschiedete ich sie kurz nach 18 Uhr, nachdem Liem zu quengeln begonnen hatte.
»Machs gut, Kleine«, sagte Tu-Tu zum Abschied und umarmte mich noch einmal. »Und schlaf mal ordentlich. Siehst müde aus.«
»Mach ich. Und du musst auch ins Bett, kleiner Spatz!« Liem gähnte, dass man denken könnte, er würde einen verschlingen. Dennoch behauptete er, nicht müde zu sein.
Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, fing ich auf einmal an, zu weinen. Ich wusste nicht genau, warum. War es, weil ich meiner besten Freundin nicht die Wahrheit gesagt hatte? Über mich, meiner beruflichen Laufbahn, meinem Erlebnis heute Nacht? War es der Schreck, der mir nach Letzterem noch in den Knochen saß? Der Vertrag und kommende Spionageauftrag? Das Ende des Schiller Theater? Alles zusammen vermutlich.
Irgendetwas in mir schrie danach, wieder nach Hamburg zurückzukehren. Vielleicht sollte ich das tun. Vielleicht musste ich das tun, um ein neues Leben beginnen zu können. Ausgehend vom Ursprung.
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