Cave canem!
»EICHENSTEDT – In der Nacht zu Sonnabend hat es eine Durchsuchung in einem ehemaligen Einkaufspark im Südosten der Stadt gegeben. Wie die Polizei mitteilte, hatte ein anonymer Hinweis die Beamten auf zahlreiche Betrüger aufmerksam gemacht, die sich in dem leer stehenden Komplex versammelt hatten. Demnach konnten neben Beweismitteln auch drei Verdächtige festgenommen werden. Ihnen werde vorgeworfen, an sogenannten Enkeltricks beteiligt zu sein. Weitere Ermittlungen seien eingeleitet wurden, heißt es.
Groß Wiesenstedt – Der Eichenstedter Ortsteil darf sich über einen restaurierten Brunnen freuen. Nach dreieinhalb Jahren konnte heute Morgen der Friedensbrunnen auf dem Marktplatz –«
»Ne, heute keine Nachrichten mehr.« Tuyet hatte das Radioprogramm genervt abgeschaltet.
Der heutige Samstagnachmittag sollte ganz uns gehören. Oder besser gesagt, der Sonnabendnachmittag. Diese Typen von eichenstedt.fm bestanden hartnäckig darauf, die regionale Bezeichnung des Wochentags zu verwenden. Laut Tu-Tu würden wohl vor allem die älteren Menschen das westdeutsche Pendant meiden. So blieb auch der Nachrichtentante, dieser Maria Simoni nichts anderes übrig, als Sonnabend zu sagen, obwohl sie selbst vermutlich mit dem Wort Samstag groß geworden war.
»Du bist heute schon wieder so nachdenklich, Alexis«, riss Tuyet mich aus meinen Gedanken. Dabei war ich eigentlich ganz froh darüber, mal über etwas völlig Belangloses nachgedacht zu haben, nachdem mich die Top-Meldung in den heutigen Nachrichten schon wieder an gestern Abend erinnert hatte. Und an den bevorstehenden Dienstag.
»Ne, alles gut. Ich mag diese Nachrichtensprecherin bloß nicht. Bin froh, dass du ausgeschaltet hast«, redete ich mich fix heraus. Wobei, besonders angenehm finde ich Marias Stimme wirklich nicht. Aber das ist ja Geschmackssache.
»Aber sie ist erst seit ein paar Wochen dabei und braucht vielleicht nur noch etwas Übung, um ihre natürliche Stimmfarbe zu finden«, ergänzte ich, um mein längeres Grübeln zu rechtfertigen.
»Kannst ihr ja mal Unterricht geben«, kicherte Tu-Tu und stieß mir mit dem Ellenbogen in die Seite.
Ich war froh, dass ich, trotz allem, was passiert war, die Muße gefunden und Tuyets Einladung angenommen hatte. So kam ich auf andere Gedanken. Na gut, bis die Radionachrichten liefen, aber das Problem war ja nun erledigt.
»Mach lieber ein bisschen Musik an. Alles ist fröhlicher, als die Dramen dieser Welt«, schlug ich meiner Freundin vor und schon hatte sie ihre Playlist gestartet und die melancholische Stimme von Placebos Frontmann Brian Molko schmetterte durch ihre Dreizimmerwohnung.
In the shape of things to come
Too much poison come undone
'Cause there's nothing else to do
Every me and every you
Every me and every you
Every me
»Ich sagte, fröhlich!«, lachte ich. Aber mir war es recht. Ich mochte diese Band genauso gerne wie Tuyet und es sollten noch viele andere Titel folgen, die uns schon bald zum Tanzen verführten.
An diesem Abend ging ich früh ins Bett. Tuyets Eltern brachten klein Liem gegen 17:30 Uhr zu ihr zurück und dann war es vorbei mit unserer Privat-Party.
Allerdings war es auch mit meiner Energie bald zu Ende. Die letzten Tage zollten ihren Tribut und ich lag sage und schreibe um 21:00 Uhr im Bett und schlief glücklicherweise fast unverzüglich ein und wachte am nächsten Tag erst gegen 08:00 Uhr wieder auf. Das hatte ich wirklich bitternötig.
Die Tage darauf verbrachte ich oft mit Stift und Zettel, um noch mal alles aufzuschreiben, was mir zum Freitagabend einfiel. Auch verfolgte ich weiterhin die Nachrichten. Ich hoffte, dass sie durchsickern ließen, wen sie festgenommen hatten. Es waren so viele Leute dort gewesen. Sehr enttäuschend, dass es der Polizei gelungen war, lediglich drei von ihnen dingfest zu machen. Und ob der Zopfträger oder sogar der mysteriöse Tattoomann unter ihnen war, wurde mit keinem Wort erwähnt. Tja, im Zweifel für den Angeklagten, vermutete ich. Sie wollten niemanden an den Pranger stellen, solange die Ermittlungen noch liefen. Vielleicht würde ich am Dienstag mehr erfahren, wenn ich mit dem Boss der Detektive darüber sprach und diesem Wilhelm, wer auch immer das nun wieder war. Unweigerlich musste ich erneut an Team Rocket aus den Pokémon-Spielen und Serien denken. Vor meinem geistigen Auge festigte sich das Bild von einem Giovanni-ähnlichen Kerl, der mich in der Garage zur Rede stellen würde. Mit einer Siamkatze neben seinem Schreibtisch.
Abgesehen von der Tatsache, dass die Pummeleinhorn-Kuscheldecke Lukas gehörte und die Wrestling-Tasse Saskia und nicht umgekehrt, ließ das unweigerlich ein klitzekleines Vorfreudegefühl in mir aufkeimen. Ich ärgerte mich selbst darüber, aber ja. Ein bisschen freute ich mich auf Dienstag.
Besagter Dienstag, der 12. September 2017, kam und ich machte mich auf die Strümpfe, die Detektei in der alten Autowerkstatt unweit des Eichenstedter Gewerbegebiets aufzusuchen.
Da ich zeitig dran war, hatte ich diesmal Gelegenheit, mir alles in Ruhe anzugucken. Man erreichte die Detektei erst, nachdem man durch ein Tor ging und auf den Hinterhof unbeteiligter Häuserreihen gelangt war. Hier und da waren noch verblichene Hinweisschilder der früheren Werkstätte zu erkennen. Wenn man weiterging, erreichte man den kleinen Parkplatz, der von drei großen Garagen gesäumt war und dem ehemaligen Hauptgebäude der Werkstatt, indem sich jetzt die Zentrale der Privatdetektive befand. Auf das Areal dahinter wiederum gelangte man nur, wenn man durch das Gebäude ging. Aus gutem Grund, wie ich wusste. Denn dort war unser Rasselbock untergebracht. Den sollte selbstverständlich kein verirrter Besucher oder Spaziergänger finden.
Wuff-wuff-wuff-wuff!
Hektisches Kläffen holte mich ins Hier und Jetzt zurück. Ein kleiner kurzbeiniger Hund sprang an meinen Beinen hoch, gerade in dem Augenblick, in dem ich das lateinische Hinweisschild mit der Aufschrift Cave Canem – was Hüte dich vor dem Hund! bedeutete – neben der Eingangstür entdeckt hatte. Das kannte ich aus dem Geschichtsbuch. Also das Original, welches im antiken Römischen Reich vor mehr als zweitausend Jahren weit verbreitet war.
»Karlchen, komm her!«, dröhnte Lukes Stimme zu mir. Er schien den kleinen Kerl zu kennen, welcher auf ihn hörte und sogleich von mir abließ.
»Die Frau Emmerich«, begrüßte mich der große Blonde mit den schwarzen Schuhen, als ich näherkam. »Du bist also wirklich gekommen.«
»Natürlich. Mitgefangen, mitgehangen«, scherzte ich, wobei mir das Herz bereits wieder in die Hose rutschte, jetzt, wo ich dort war.
»Richtig. Wir haben dich und den Bock gefangen. Vielleicht bist du ja in Wahrheit ebenfalls ein Fabeltier.« Auch Luke schien mittlerweile besser auf mich zu sprechen zu sein, als noch zu Anfang.
Auf Saskia schien das nicht zuzutreffen. Ihre Augen verengten sich augenblicklich, als sie mich hereinkommen sah.
»Ich habe gehört, dass du es versemmelt hast«, kam sie gleich auf den Punkt. »Die Echthaarperücke und das Funkgerät zieh'n wir von deinem Lohn ab.«
Als ob wir keine anderen Sorgen hatten! Davon abgesehen, dass die Jacke aus dem Theaterfundus auch futsch war und ich noch immer nicht wusste, ob da irgendein Aufnäher vom Schiller Theater drin war.
»Sas, komm mal klar. Lex hat die Sache gut gemacht, dafür, dass sie keine Ermittlerin ist. Ohne ihre Hinweise und Beobachtungen, hätten wir nichts in der Hand«, verteidigte mich Momo, der mit einem Teller Schawarma aus der kleinen Küche im hinteren Bereich der Detektei kam und sich die Finger ableckte.
»Auch was?«, fragte er höflich. Ich lehnte jedoch dankend ab. Nach Saskias Begrüßungszeremonie wollte ich die ganze Sache dann doch schnell hinter mich bringen, völlig egal, wie viel Geld ich am Ende für meinen Einsatz bekam.
»Wo steckt M?«, fragte Luke bei seinen Kollegen nach.
Mit M meinte er offenbar diesen Marlowe. Den Boss der Truppe. Den Team-Rocket-Giovanni aus meiner Fantasie.
»Er wollte noch mal mit dem Prinzen raus und gleich wieder da sein«, gab Saskia zur Antwort, warf mir einen letzten zerstörerischen Blick zu und wand sich ihrem Tagesgeschäft zu.
»Mach dir nichts draus«, trat Momo neben mich. »Saskia hat heute schon ihr Fett wegbekommen vom Boss, dass sie die Idee hatte, eine wildfremde Person für uns arbeiten zu lassen. Wir alle haben das.« Momo kaute müßig auf einem kleinen Stück Fleisch herum und blickte zu Boden.
»Wir kommen schon klar. Wenn du maßgeblich zur Aufklärung des Falles beitragen wirst, dann hat der Boss ruckzuck wieder gute Laune.« Luke schaute mich voller Optimismus an. Etwas, das ich nicht mit ihm teilen konnte.
»Ich kann nur erzählen, was Freitag passiert ist und was ich alles gesehen habe. Den Fall lösen müsst ihr oder die Polizei. Ich bin danach raus.«
»So was von raus«, hörte ich Saskia vor sich hin murmeln.
»Sie ist nur angepisst, weil sie keine zweite Blondine neben sich duldet. Nicht wahr, Sas?«, zog Luke seine Kollegin auf.
»Die ist höchstens straßenköterblond«, kam das Echo der Wasserstoffblondine zurück, die dem Haaransatz zufolge in Wahrheit alles andere als blond war.
»Ähm, und wer ist der Prinz?«, wollte ich noch wissen, als die Eingangstür aufsprang und ein Mann, etwa Mitte dreißig mit dunkelbraunen Haaren, Fünftagebart, einer dunklen Sonnenbrille und beigefarbenen Trenchcoat hereinkam. Der kleine Hund, der ein Corgi sein musste, wenn ich mich nicht irrte, sprang sofort zu dem Kerl und wedelte fröhlich mit dem Schwänzchen.
»Good boy, Charles«, hörte ich den Mann mit deutlich englischem Akzent zu dem Vierbeiner sagen.
»Karlchen, Prinz oder Charles? Wie heißt das gute Tier denn nun?«, flüsterte ich den schmatzenden Momo zu.
»Charles Philip Arthur George, wenn du es genau wissen willst.«
»Wie der britische Thronfolger? Prince Charles? Och, das arme Viech«, sagte ich, bereute es aber sogleich wieder, als der Mann mit dem Trenchcoat zu mir rüber sah.
»Der Boss ist Engländer. Da sieht man das eventuell ein bisschen anders«, tuschelte Luke.
»Das ist euer Boss? Dieser Marlowe?« Ich hatte auf der Homepage gelesen, dass er aus England kam. Da dort aber keine Fotos von ihm zu finden waren, hatte ich null Ahnung, wer oder was mich erwarten würde. Außer meiner Wahnvorstellung von Giovanni, dem Anführer von Team Rocket, was ich diesem Kerl mit dem Zopf zu verdanken hatte. Die Wahrheit lag irgendwo zwischen Columbo und Men in Black.
Nachdem der vierbeinige Prinz ein paar Leckerlis und Streicheleinheiten abgeholt hatte, tippelte er in sein Körbchen, welches neben dem Empfangstresen stand. Sogleich kraulte Saskia den Corgi hinter den spitzen Ohren und warf ihrem Boss unsichere, aber sehr intensive Blicke zu.
»Komm mit«, sagte Marlowe, als er an mir vorbeiging und dabei seine Sonnenbrille abnahm und in die Tasche seines Mantels steckte.
Plötzlich fiel mir das Wort Jupdich wieder ein. Verdammt, Alexis. Du musst jetzt ernst bleiben und all deine Gedanken beisammen halten!
Momo und Luke zeigten mir ihre gedrückten Daumen, während Saskia einen auf desinteressiert machte, genau so wie Charles. Ich nickte einmal in die Runde und folgte Mr Marlowe in sein Büro am Ende des Flures, der links neben der großen Eingangshalle lag.
»Setz dich«, bot Marlowe mir den Stuhl an seinem Schreibtisch an. Er selbst war noch dabei, seine Sachen an einen Kleiderhaken zu hängen, den Kalender auf den aktuellen Tag umzustellen und zu kontrollieren, ob alles noch dort lag, wo er es vor seiner Abreise verlassen hatte. Das musste am 21. August gewesen sein. Denn sein Kalender stand zuvor noch auf dem 20.
Während Marlowe beschäftigt war, ließ ich meinen Blick durch sein Büro streifen. Es war eine ordentliche Unordnung. Eigentlich genauso, wie ich mir das Domizil eines Privatdetektivs vorgestellt hatte. Nur nicht ganz so düster und der Zigarettengeruch fehlte zum Glück auch, obwohl ein Aschenbecher zumindest da war.
Auf dem Schreibtisch lagen zahlreiche Hefter und Mappen herum. Ein Stadtplan von Eichenstedt und Unmengen handgeschriebener Zettel, die ich nicht entziffern konnte. Aus einem der Mappen guckten Zeitungsartikel hervor. Es ging um die beiden Amerikaner mit dem italienischen Nachnamen, Salvatore oder so, die sich eine alte verfallene Hütte unten am Fluss in Eichenstedt gekauft hatten. Waren die etwa Bestandteil seiner Ermittlungen? Verdammt, darüber sollte ich mir keine Gedanken machen. Schnell wand ich den Blick ab, doch es war zu spät. Marlowe hatte meine Neugierde bemerkt. Kommentarlos nahm er die Mappe vom Tisch, steckte die Artikel ordentlich hinein und packte sie in die oberste Schublade seines Schreibtisches. Dann setzte er sich mir gegenüber hin und schaute mich stumm an.
Ohne Sonnenbrille musste ich meine Einschätzung revidieren. Er schien eher Anfang als Mitte dreißig zu sein. Eine lockere Haarsträhne, die sich aus seinem nach hinten gestylten Haaren gelöst hatte, verdeckte spärlich eine Narbe über seinem linken Auge. Unter dem Trenchcoat trug er ein normales dunkles Shirt. Kein schwarzer Anzug. Kein Giovanni. Irgendwie beruhigte es mich, dass der Boss dann doch ganz anders war, als ich mir ausgemalt hatte. Jedenfalls vom Äußeren her. Alles andere würde das folgende Gespräch zeigen.
»Du musst Alexis sein«, eröffnete Marlowe die Partie und nahm nebenbei den weißen König von einem Schachbrett, welches neben ihm stand. »Warum bist du hier?« Ohne sich überhaupt vorgestellt zu haben, kam er gleich auf den Punkt.
Ich schluckte einmal, holte Luft und erzählte meine Geschichte. Marlowe lehnte sich zurück, seine dunklen Augen rückten keinen Zentimeter von mir ab.
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