Annum novum faustum! / Part 2
ICH HATTE DAS ZWEITE OBERGESCHOSS erreicht, nachdem ich Ben in der ersten Etage nicht finden konnte. Ich versuchte gar nicht mehr, ihn über Funk zu erreichen. Vielleicht war er nicht in der Lage, zu sprechen, ohne dabei entdeckt zu werden. Aber warum sagte er mir das dann nicht einfach, anstatt mich in den Feierabend zu entlassen – was dachte ich? – endgültig zu entlassen, ohne mir zu sagen, was passiert war und ob er Hilfe brauchte? Ich verfluchte ihn innerlich. Gleichzeitig machte ich mir große Sorgen um diesen Sonderling. Auf diese Weise sollte mein letzter Arbeitstag eigentlich nicht enden.
»Ben?«, rief ich in ein offenstehendes Zimmer gleich neben der Treppe. Keine Antwort. Ich hatte alle infrage kommenden Räume abgesucht, dabei immer wieder höflich ein paar Leuten zugenickt, die an mir vorbeigingen. Ich ging noch mal runter ins erste Obergeschoss. Hatte ich dort einen Raum übersehen? »Wo soll der denn sein, zum Henker? Mit seinen über 1 Meter 80 kann er sich doch nicht so einfach versteckt haben.«
Während ich so vor mich hin fluchte und mich immer wieder umblickte, rempelte ich beinahe eine Marmorsäule um, auf der eine Schale mit getrockneten Pflanzen stand. Darunter Sonnenblumen und die Köpfe des indischen Lotus. Ich konnte das trostlose Bouquet gerade noch festhalten, bevor es herunterkrachte. Das hätte ja gerade noch gefehlt! Wobei den Lärm, durch die vielen Böller, vermutlich ohnehin keiner gehört hätte.
Die Uhr schlug 23 Uhr 40, als mir ein Zimmer ins Auge fiel, dessen Tür als Einzige nicht offenstand. Dieses hatte ich zuvor nicht weiter beachtet und gedacht, es wäre abgeschlossen. Vorsichtig drückte ich die Klinke runter und hörte, wie das Schloss aufsprang. Ich steckte den Kopf durch den Türspalt und erwartete einen weiteren leeren Raum. Doch ich sollte mich irren.
Da hockte er! Ben Marlowe. Einsam und allein auf einem Podest in einem gemütlichen Zimmer, an dessen Ende die halbrunde Form des Türmchens zu erkennen war, welcher sich an der Ostseite des Schlosshotels befand. Innerhalb dieses Rondells sah ich einen runden Tisch, um den sechs sesselartige Stühle standen. Bodenlange gold- und champagnerfarbene Tücher waren darüber drapiert worden. Die oberen Bereiche der Wände waren in dem gleichen warmen Gelbton gestrichen, wie der Eingangsbereich. Auf den Holzvertäfelungen standen mehrere edel aussehende Teller. Ein Kronleuchter sorgte für schummriges Licht, die dunkelblau und goldfarbenen Vorhänge waren zugezogen. Das Parkett knarzte leise, als ich hereinkam. Ben, der seinen Kopf zwischen den Knien vergruben und sich die Ohren zugehalten hatte, schreckte auf und sah mich mit einem Blick an, der durch Mark und Bein ging.
»Ben, was ist denn los?«, sprach ich ihn behutsam an und kam vorsichtig näher. »Ich habe dich überall gesucht. Es ist gleich Mitternacht. Was machst du hier oben so allein?«
Ein weiterer Böller durchschnitt die Stille. Ben zuckte zusammen.
»Ich hatte dir gesagt, du kannst gehen«, sagte er mit zitternder Stimme und wendete seinen Blick von mir ab. Er hatte seine Krawatte gelockert und die obersten Knöpfe seines weißen Hemdes geöffnet.
»Nein, tu ich nicht. Dir geht es schlecht. Da kann ich doch nicht einfach abhauen.«
»Es ist nichts!«, rief er unvermittelt aus und erhob sich. Er flüchtete regelrecht vor mir und stand nun hilflos vor den zugehangenen Fenstern.
»Und ob was ist«, widersprach ich ihm und versuchte, den Abstand zwischen uns wieder zu verringern. »Du bist ja nicht wiederzuerkennen. War das ein Vampir?«
Ben schüttelte den Kopf, verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln. »Wenn es nur so wäre.« Er vergrub sein schweißnasses bleiches Gesicht in seinen zitternden Händen und drehte mir den Rücken zu.
»Hattest du das schon öfter?« So langsam kam mir der Verdacht, dass mein Boss eine Art Panikattacke durchleiden musste. »Liegt es an den Silvesterknallern?« Bereits vorhin hat er ziemlich stark auf den Lärm der Böller reagiert.
»Please, Lex. Leave me alone. There is nothing you can do. That's my fault. It is always my fault.« Seine Stimme klang gebrochen.
»Was ist deine Schuld? Ben, ich lass dich in diesem Zustand nicht allein. Was denkst du denn von mir?« Wieder wagte ich mich ein paar Schritte näher zu ihm hin.
Reflexartig wendete Ben sich erneut von mir weg und wollte weggehen. Dann hörten wir jedoch Stimmen auf dem Flur. Jemand war dem Anschein nach genau auf dem Weg zu diesem Raum. Wir schauten uns erschrocken an, dann schweiften unsere Blicke zur Tür. Die Stimmen kamen immer näher.
»Duck dich«, stieß ich rasch aus und hockte mich hinter den Tisch mit den sechs Stühlen. Ich zog Ben an seinem rechten Arm behutsam zu mir runter. Das Ensemble war groß genug, um uns beide zu verbergen. Vor allem die glänzenden Abdeckungen ließen keinen Blick auf das zu, was sich hinter ihnen verbarg.
Ben schaute mich kopfschüttelnd und flehend an, doch ich blieb. Ich drückte ihn sanft an den Schultern zu Boden, wo er in halber Embryonalstellung zum Liegen kam. Ich legte mich neben ihn und keinen Atemzug später hatten die unbekannten Stimmen den Raum betreten. Wobei zumindest eine der beiden Stimmen uns sehr wohl bekannt war.
»Bleiben Sie noch lange in Eichenstedt, Frau Ziegler?«, fragte Oberbürgermeister Bernhard Hagen eine Frau, die seine Frage mit einem aufgesetzten Lachen erwiderte.
»Nein, nein«, sagte sie dann. Ihrer Stimme nach musste es eine etwas ältere Frau sein. »Ich war nur in der Nähe und habe die Plakate von dieser Veranstaltung gesehen. Eine kurzentschlossene Sache. Nicht mal meine Familie weiß, dass ich heute hier bin. Mein Mann ist derzeit im Krankenhaus und ich wollte nicht allein zu Hause rumsitzen. Dummer Zeitraum, nicht war?«
»Allerdings«, lachte der Bürgermeister und schien danach etwas zu trinken. »Ich hoffe, dem Gatten geht es den Umständen entsprechend gut.«
»Doch doch! Ist beim Säubern seines Taubenschlags von der Leiter gefallen. Konnte sich abstützen. Die Elle hat es allerdings erwischt. OP. Ruhigstellung. Eventuell noch eine Kur nächstes Jahr.« Auch Frau Ziegler nahm einen Schluck. Kurz schwiegen beide.
Ich hatte ein seltsames Gefühl. Allerdings konnte ich nicht sagen, was es war oder woran es lag. War es eine Aura oder nur das Adrenalin in meinem Blut? Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Mein Blick hing an meinem Boss, der wie ein Bündel Elend neben mir lag, schnell atmend und kaltschweißig. Seine dunklen Augen wirkten unstet, sein Blick verzweifelt. Als ich meine Hand zu seinem Gesicht ausstreckte, schüttelte er abwehrend den Kopf. Dann senkte er seine zuckenden Lider und versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen.
»Sie züchten Tauben?«, fragte Herr Hagen nach einer Weile die fremde Person.
»Mein Mann, ja«, bestätigte Frau Ziegler kichernd. »Was soll man machen? Ist seine Leidenschaft. So kommt er auch mal raus unter Leute.«
»Ist das eine große Sache in Clausthal-Zellerfeld?«, gab sich der OB weiterhin interessiert.
»Bei einigen schon, aber lassen Sie uns langsam runtergehen. Es ist bald Mitternacht.« Ich konnte nur hoffen, dass unsere ungebetenen Gäste ihren Worten schnell Taten folgen lassen würden. Doch diese Frau Ziegler holte erneut Luft. »Ich werde mein Versprechen halten, Herr Hagen, und meine Kontakte spielen lassen. In New Orleans gibt es eine wohlhabende Familie, die gerne einen Ortswechsel vornehmen und neue Horizonte erobern möchte. Ich werde dafür sorgen, dass sie von diesem Schlösschen erfahren, und bin überzeugt, dass sie die beste Wahl für Eichenstedt sind. Sie werden neuen Schwung in die Region bringen.«
»Das würde mir ausgesprochen gut gefallen«, lachte Hagen dröhnend. »Frau Ziegler«, bat das Stadtoberhaupt die Dame höflich, den Raum als Erste zu verlassen. Ich hörte sie aus der Tür gehen, der Bürgermeister folgte ihr auf dem Fuße.
Dann waren wir allein. Ben. Ich. Und seine Angst.
Er hatte seine Augen wieder aufgeschlagen und eine endlos scheinende Zeit lang schauten wir uns einfach nur an. Vor dem Schloss hörten wir die Menschen von zehn rückwärts zählen. Dann jubelten sie und die ersten Raketen stiegen mit Getöse gen Himmel.
Ich rückte ein Stückchen näher an meinen nun ehemaligen Boss heran. Er wehrte mich diesmal nicht ab, ließ zu, dass ich meinen rechten Arm um ihn legte.
Die Raketen heulten und knallten. Ben atmete ruhiger, während mein Puls immer schneller raste. So lagen wir da. Minutenlang, ohne etwas zu sagen. Wir schauten uns einfach nur an, die Nasenspitzen wenige Millimeter voneinander entfernt.
Nach ungefähr zwanzig Minuten hatte das Feuerwerk nachgelassen, ebenso Bens desolater Zustand. Er rollte sich auf den Rücken. Seine Brust hob und senkte sich kräftig aber ruhig. Ich hätte aufstehen und nachsehen können, ob die Luft rein war, aber ich wollte nicht. Ich wollte in diesem Moment nirgendwo anders sein.
»Happy new year, Alexis Emmerich«, brachte Ben irgendwann leise hervor und konnte schon wieder etwas lächeln.
»Frohes neues Jahr, Michael Benedict Philip Marlowe.«
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