Annum novum faustum! / Part 1

»WOW! ICH HABE NICHT GEWUSST, dass es in Eichenstedt solche Anwesen gibt.« Staunend stieg ich aus Bens Mondeo, der etwas abseits eines großen gusseisernen Eingangstores parkte. Dahinter erstreckte sich ein unglaublich weites parkähnliches Gelände mit einem liebevoll angelegten Teich, auf dem Enten und Gänse schwammen. Oberhalb der an einem Hang gelegenen Anlage ragte ein wahres Schloss empor. Solide Stein-auf-Stein-Fassade, Stufengiebel, ein kleiner Turm an der Ostseite. Die sogenannte „Villa am Osthang" war ein traditionsreiches Hotel, welches seit einer Weile aber keinen Besitzer mehr hatte.

»Ich bin auch zum ersten Mal hier draußen«, gestand Ben, der sein Auto verriegelte und sich nicht minder verblüfft neben mich stellte, um das herrschaftliche Anwesen zu bewundern. »Kein Wunder, dass das leer steht. Wer kann sich denn so einen Palast leisten?«

»Vielleicht jemand von denen da?«, ich machte meinen Boss auf eine Gruppe elegant gekleideter Männer aufmerksam, die schnurstracks durch das Tor marschierten und dabei angeregte Gespräche führten.

»Das ist Bernhard Hagen, der Bürgermeister von Eichenstedt.« Ben deutete auf den dicklichen Kerl an der Spitze der Formation. »Unser Auftraggeber.«

Die Stadt hatte in den vergangenen drei Jahren vergeblich versucht, das Schlosshotel an einen privaten Betreiber zu verkaufen. Am heutigen Silvesterabend wollte man endlich Nägel mit Köpfen machen. Zu einer luxuriösen Gala-Veranstaltung wurden namhafte Größen der Region und darüber hinaus eingeladen. Alle Branchen waren vertreten. Es ging ums Sehen und Gesehenwerden. Auf diese Weise wollte man auf die Attraktivität der Villa aufmerksam machen, mit möglichen Investoren ins Gespräch kommen und Eichenstedt als Tourismusstandort anpreisen.

Aber auch die Einwohner der Stadt waren zu dieser Veranstaltung herzlich eingeladen worden. Man wolle sich schließlich bürgernah zeigen. Dabei wurden jedoch gewisse Urängste der Oberschicht geweckt. Wenn man schon gemeinsam mit dem Pöbel feierte, sollte wenigstens für die Sicherheit der Bonzen gesorgt sein. Neben einem klassischen Security-Dienst, dessen Mitarbeiter durch beschriftete Jacken auch als solche zu erkennen waren, engagierte die Stadtverwaltung noch eine private Detektei. Verdeckte Ermittler sollten ein Auge auf mögliche Taschendiebe und andere Spitzbuben werfen.

»Offensichtlich hast du dir in Eichenstedt bereits einen Namen gemacht.« Anerkennend klopfte ich Ben auf die Schulter. »Dann wollen wir die feine Gesellschaft mal nicht warten lassen. Ich hoffe, wir sehen unauffällig genug aus.«

Ich hatte mich in ein schlichtes dunkelblaues, etwa knöchellanges Kleid geworfen, welches sich allerdings noch unter einem dicken hellgrauen Wintermantel versteckte. Meine Haare hatte ich zu einer Hochsteckfrisur gebunden. Was ohne Hilfe gar nicht so einfach war. Ich trug dezenten Silberschmuck und passendes Abend-Make-up. Dazu schwarze Pumps. Damit sah ich der heutigen Durchschnittsbesucherin hoffentlich ähnlich.

Was Ben anging, hatte ich so meine Schwierigkeiten, ihn mit dem Wort unauffällig in Verbindung zu bringen. Er gab in seinem schwarzen Anzug mit grauer Krawatte und dem ebenfalls langen schwarzen Wollmantel den perfekten englischen Gentleman ab. Allerdings wirkte er heute ein wenig blass um die Nase.

»My Lady. May I take you to this feast?« Galant bot mein Boss mir seinen rechten Arm an.

»It would be an honour, Sir.« Gemeinsam betraten wir das Gelände der „Villa am Osthang". Wir flanierten an dem hübschen Teich entlang, der im Schein der niedrigen Laternen schimmerte. Es war erst 19 Uhr 40, dennoch waren von Weitem her immer wieder Silvesterknaller und Raketen zu hören. Im Rahmen dieser Veranstaltung sollte es um Punkt Mitternacht ein professionelles Feuerwerk für alle Gäste geben. Die vermutlich beste Gelegenheit für eventuelle Diebstähle. Dann durften wir uns nicht ablenken lassen.

»Vielen Dank noch mal, dass du deinen Arbeitsvertrag bis zur buchstäblich letzten Minute einhältst, Lex.« Ben und ich stiegen die lange steinerne Treppe zum Hauptgebäude des Hotels hinauf. Hin und wieder grüßte uns jemand, den wir nicht kannten. »Rein rechtlich könntest du um null Uhr abhauen.«

»Tu ich aber nicht«, antwortete ich achselzuckend. »Ich sehe das nicht als Arbeit an. Ich meine, guck dir mal an, wo wir hier sind! Es gäbe wohl keinen prunkvolleren Ort, um mich von Eichenstedt zu verabschieden.«

Ben nickte stumm und gab am Ende der Treppe einem Butler unsere Mäntel und zeigte die Einladung des Oberbürgermeisters vor. Der brav gescheitelte dunkelhaarige Mann band uns daraufhin ein Papier-Armbändchen um die Handgelenke, mit denen wir jeder Zeit wieder in die Villa hereinkommen konnten, falls wir mal das Gelände verließen.

Meine Familie verbrachte die Feiertage in Südtirol. Sie hatten diese Reise bereits im Sommer gebucht, ohne mich. Wir alle gingen zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, dass das Schiller Theater in der Ferienzeit vor vollzähligem Publikum spielen würde. Mein Vater wollte mir nachträglich einen Platz reservieren, doch ich lehnte ab. Ich schob eine Abschiedsfeier mit meiner Freundin Tuyet vor. In Wahrheit verbrachten Tuyet und ihr Sohn Liem den Jahreswechsel in Frankfurt bei Dennis, ihrem Ex und Vater des Kindes. Mein Mietvertrag lief bis Ende Februar, sodass ich mir mit dem Umzug ebenfalls noch etwas Zeit lassen konnte. Momo, Luke und Saskia hatten Urlaub und somit hatte ich eigentlich keinen Grund, mich an diesem Tag ein allerletztes Mal in den Dienst der Detektei zu stellen.

»Holla die Waldfee!«, konnte ich einen Ausruf des Staunens nicht unterdrücken. Das schlossähnliche Hotel sah von innen mindestens genauso prachtvoll aus, wie von außen.

Die Ausstattung war allerhöchster Güte. Verzierte aber massive Treppengeländer machten einen edlen und zugleich soliden Eindruck. Die Treppenstufen waren mit einem roten Teppich ausgelegt. Die Wände waren in einem hellen und warmen Gelbton gestrichen. An den Decken konnte ich weißen Stuck und Bögen erkennen. Eine teilweise Holzvertäfelung sorgte für ein gemütliches Ambiente, ebenso die kunstvollen Lampen und Laternen. Ausstaffiert waren die Gänge und Säle mit allerhand feinstem Krimskrams, von deren Wert wohl eher Kunsthändler Ahnung haben dürften.

»Frau Mahler würde sich hier bestimmt wohlfühlen und alles umdekorieren«, merkte ich an, als wir den großen Festsaal betraten, der bereits voller hochkarätiger Besucher war.

»Who? Ach, die Frau mit dem Puck auf dem Dachboden!« Ben verzog leicht gequält das Gesicht bei der Erinnerung an unseren letzten Fall in Klein Wiesenstedt.

»Wenn sie dich heute in deinem schicken Anzug sehen könnte, würde sie dir gar nicht mehr von der Seite weichen«, zwinkerte ich meinem Boss zu, der nur die Augen verdrehte und sich ein Glas Sekt von einem Tablett nahm, das uns eine junge Kellnerin anbot.

»Auch ein Glas?«, fragte er mich, hatte aber bereits ein zweites Gläschen in der Hand, bevor ich ablehnen konnte.

»Wir sind im Einsatz. Dürfen wir da überhaupt Alkohol trinken?«

»Solange dein Boss nichts dagegen hat«, antwortete Ben, grinste frech und reichte mir den Sprudelwein. »Auf deinen letzten Arbeitstag, die vergangenen Monate und auf deine weitere Zukunft«, sprach er einen Toast aus und stieß sein Glas gegen meines.

»Wie war deine Abschiedsfeier?«, befragte er mich anschließend nach der kleinen Weihnachtsfeier in der Detektei, die am 20. Dezember stattfand.

»Schön. Wirklich«, antwortete ich und trank einen Schluck Sekt. »Wilhelm war auch dabei. Alle haben mir eine Kleinigkeit geschenkt. Luke sogar eines seiner alten Fabeltierbücher.« Ich musste mir eingestehen, dass mir der Abschied schwerer fiel, als ich erwartet hätte. Auch jetzt hatte ich beim Gedanken daran noch einen Kloß im Hals. »Wir haben Monopoly gespielt und Luke ist ein klasse DJ. Saskia war auch nett.« Shit, das wollte ich gar nicht laut sagen!

In letzter Zeit hatte ich kaum Kontakt zu der Code-Knackerin gehabt. Ich konnte somit nicht wirklich einschätzen, ob sie mir die Freundlichkeit zuletzt nur vormachte. Jedoch hatte ich keinen Grund zur Klage und wollte sie auf keinen Fall vor Ben schlecht dastehen lassen. Dieser musterte mich eindringlich, als würde er meine Gedanken lesen können, sagte aber nichts.

Unser Exil-Brite schien bei Frauen, deren Vorname mit S anfing und auf a endete, eine recht anziehende Wirkung zu haben, schoss es mir in den Sinn.

»Was ist so lustig?«, fragte Ben mich, als ich in mein Sektglas schmunzelte.

»Ach, nichts«, schüttelte ich amüsiert den Kopf. »Ich wünsche dir nur auch alles Gute für die Zukunft.«

»Thank you«, toastete er mir zu und schaute mich mit seiner üblichen distanzierten Melancholie an.

Ich schaute zurück. Ein wenig zu lange. Zu intensiv. Mein Herz schlug auf einmal viel zu schnell. War etwas in diesem Saal? Ein Fabelwesen? Doch hoffentlich nicht wieder irgendwelche Vampire! Laut Wilhelm habe es keine Anzeichen mehr für Blutsauger in Eichenstedt gegeben, seit wir ihr Versteck an Halloween haben hochgehen lassen. Aber bei meinem Glück würde es mich nicht wundern, wenn unser harmloser Auftrag am Ende doch noch eskalieren würde.

Ein lauter Knall ließ uns aufschrecken. Jemand hatte in der unmittelbaren Nähe der Villa einen Chinaböller hochgehen lassen. Während die meisten der Anwesenden über diesen Schreckmoment lachen konnten, sah Ben sich mit aufgerissenen Augen nervös um. Die Hand, die sein Sektglas festhielt, zitterte.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich ihn und hielt seinen bebenden Arm fest.

»It's all right. I just hate this shit«, versuchte er, mich zu beruhigen. »Wir sollten uns so langsam positionieren. Ist dein Funkgerät einsatzbereit?« Ben tippte sich gegen sein rechtes Ohr.

»Ist bereit«, bestätigte ich die Funktion meines Pendants.

Schließlich teilten wir uns auf, um mehrere Orte gleichzeitig überblicken zu können. Ich verließ den großen Saal und schlenderte durch die Gänge und kleineren Räume im Untergeschoss des Hotels. Ben blieb in der Nähe des Bürgermeisters und seiner erlesenen Gäste.

Ein älterer, etwas gebückt gehender Mann mit Mikrofon in der Hand wuselte zwischen den Leuten herum. eichenstedt.fm war also auch zugegen. Ich erkannte auch Joachim Weingard, einen Reporter vom Eichenstedter Wochenblatt. Er machte Fotos von der illustren Gesellschaft und führte das ein oder andere Interview mit potenziellen Käufern des Hotels. Eine ältere Dame ging an mir vorbei und warf mir einen überraschten Blick zu. Ich überlegte, woher ich sie eventuell kennen könnte und rempelte dabei einen steifen Frackträger an, der sich sofort über mein schlechtes Benehmen beschwerte. Was für ein Snob!

Aber recht hatte er. Für solche Anlässe war ich nicht wirklich geeignet. Ein Wunder, dass ich noch nie von der Theaterbühne gefallen war. Aber spätestens vor der Oscar-Verleihung hätte ich einen Zusatzkurs für elegantes Auftreten auf dem roten Teppich gebraucht.

Mit einem Schmunzeln auf den Lippen setzte ich meine Wanderung durch die Villa fort. Als ich mich umdrehte, konnte ich Ben sehen, der die Treppe in die oberen Etagen nahm und mir mit einem erhobenen Daumen signalisierte, dass es bei ihm bisher keine Auffälligkeiten gab.

»Sind Sie auch an diesem Hotel interessiert?«, sprach mich ein junger Mann an und breitete einladend seinen rechten Arm um mich aus.

Meine Sinne waren sofort geschärft. Ich achtete auf alles, jede seiner Bewegungen wurde analysiert und seine Aura überprüft. Aber es schien kein Vampir zu sein.

Oh, man, Alexis! Wenn du dir das nicht abgewöhnst, wirst du nie wieder mit jemanden flirten können.

Tatsächlich schien der geschniegelte Kerl mehr an meiner Person als an meinen Intentionen interessiert zu sein. Ich wechselte höflichkeitshalber noch ein paar Banalitäten mit ihm und empfahl mich dann freundlich.

Ich stellte mich an eins der großen Fenster und warf einen Blick auf den Hinterhof des Hotels. Dort konnte ich noch weitere modernere Anbauten sehen. Und eine kleine Außengastronomie. Wer auch immer den Zuschlag für dieses Anwesen bekommen würde, hätte die besten Voraussetzungen für einen florierenden Gastronomie- und Hotelbetrieb, dachte ich mir. Kurz darauf schloss ich mich einer kleineren Gruppe an, die sich gerade durch die Zimmer führen ließ.

Es war 23 Uhr 10 als der Bürgermeister eine tönende Rede beendet und das Mitternachtsbuffet eröffnet hatte. Die Leute, ob reich oder nicht, stürzten sich auf die Häppchen und Desserts, als hätten sie das ganze Jahr nichts zu Essen bekommen. Ich blieb dem hungrigen Treiben fern, spitzte dafür die Ohren und schärfte meinen Blick. In dem Gedränge hatten mögliche Taschenräuber leichtes Spiel. Aber ich konnte nichts Verdächtiges beobachten.

Ich entschied, mich mal bei meinem Boss zu erkundigen, wie es bei ihm lief und wo er überhaupt steckte. Ich hatte vor einer dreiviertel Stunde das letzte Mal etwas von ihm gehört.

»Ben? Hey, Ben! Hier unten ist alles okay«, funkte ich ihn in einer Ecke des großen Saals an, erhielt allerdings keine Rückmeldung. »Ben? Wo steckst du? Komm runter. Hier gibts was Leckeres und bald gehen alle raus zum Feuerwerk. Ben?« Die Funkverbindung blieb still.

Draußen knallten nun immer mehr Böller, aber jeder hatte sich mittlerweile daran gewöhnt und niemand zuckte noch zusammen. Mir ließ die Funkstille zu Ben keine Ruhe. Schließlich ging ich ebenfalls nach oben, um nachzusehen, wo er sich aufhielt und was ihn vom Antworten abhielt. Hoffentlich war diesmal nicht er entführt worden. Als Rache oder so.

»Ben! Melde dich endlich! Ich mache mir langsam Sorgen«, funkte ich ihn in einem leeren Zimmer erneut an. Nach einer Weile raschelte es in meinem rechten Ohr.

»Alles in Ordnung«, ertönte Marlowes Stimme. Er klang irgendwie seltsam, so atemlos, gehetzt. »Mach ruhig Feierabend. Geh mit den anderen nach draußen. Bestell dir nachher ein Taxi auf meine Kosten.«

»Ben, was laberst du? Wo bist du denn? Sind hier Vampire?«, fragte ich so leise wie möglich, doch mein Boss gab keine Antwort mehr.

»Verdammte Scheiße, Marlowe! Was ist denn auf einmal los mit dir?«, fluchte ich vor mich hin und setzte meine Suche fort.

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