Alqm insequi / Part 1

»NEIN! DAS KANN NICHT SEIN!«

Wilhelms donnernder Schrei ließ uns alle zusammenzucken.

»Ist nicht wahr? Er hat was?« Der stämmige ältere Ex-Polizist stützte sich im Sitzen mit der linken Hand auf seinen Oberschenkel ab und wischte sich mit der rechten eine Träne aus dem Gesicht.

»Er hat gesagt: Verdammt, jetzt hast du ihn verscheucht. Ich wollte ihn fotografieren. Ein Prachtkerl. Beautiful.

Prachtkerl? Wie bitte? Marlowe, was reden Sie denn da?, antwortete ich ins Dunkel hinein. Ihr lacht jetzt, aber mir war überhaupt nicht wohl bei der Sache. Es war finster, es war kalt und ich hatte keine Ahnung, was da gerade für ein Wesen mit uns zusammen in dieser Villa war.«

»Ich schon.« Marlowe stand unerwartet neben uns und schenkte sich einen Pott Kaffee ein. »Ich hatte ihn bereits gesehen, als du noch Geisterantenne gespielt hast«, schmunzelte er und verschwand, so schnell, wie er aufgetaucht war, wieder in sein Büro.

»Der ist ja heute mal richtig gut drauf«, wunderte sich Luke über unseren zu Späßen aufgelegten Boss.

»Ihr habt ja gar keine Ahnung, wer er eigentlich ist«, gab Saskia einen schnippischen Kommentar ab, bevor sie stumm einen Schluck Tee aus ihrer Wrestling-Tasse schlürfte.

»Na, du musst es ja wissen«, gab Luke gemurmelt zur Antwort. »Aber was war es denn nun?«, lenkte er das Thema wieder auf die Nacht zum vergangenen Freitag, der auch noch der 13. des Oktobers war. »Wir haben euch da oben rumquieken gehört und hätten beinahe die CF benachrichtigt. Und dann kommt ihr kichernd runter und sagt uns nur, dass kein Geist und kein Mothman zu finden wäre. Hä?«

Saskias Gesicht nahm eine rötliche Farbe an, als sie Lukes Schilderungen der Ereignisse wortlos verfolgte.

»Ich denke, das war so etwas wie eine Feuerprobe. Ein letzter Einstellungstest, um zu sehen, wie ich mich in solchen Situationen so mache«, versuchte ich, die Story ein wenig professioneller erscheinen zu lassen. Eine Saskia, die mich nicht mochte, war schon genug. Eine, die unbegründet eifersüchtig auf mich war, wäre zu viel des Guten.

»Ja, und? Was-war-es!«, konnte auch Momo seine Neugierde nicht mehr unter Kontrolle halten.

»Ein grauenerregendes Nachtgespenst, dass sich lautlos aber zielsicher an seine Opfer heranpirscht und sie mit schrecklichen Klauen und einem scharfen Schnabel geschwind zur Strecke bringt.« Ich genoss diese aufgerissenen Augen um mich herum ein bisschen. Ich fühlte mich wie eine Kindergärtnerin, die den Kleinen ein Märchen erzählte.

»Oh, nicht euer Ernst!«, schlug sich Luke auf einmal gegen die Stirn. »Natürlich. Ein ganz fürchterlicher Bubo bubo. Das Brutalste, was unsere heimischen Wälder zu bieten haben.«

»Ja«, war meine kurze und bedeutungsschwangere Antwort, auf die erst Stille und dann wieherndes Gelächter folgte.

»Ein Uhu? Ich werd' nicht mehr!« Wilhelm klatschte in die Hände und grunzte regelrecht beim Lachen.

»Ich hatte echt Panik«, gab ich ebenfalls lachend zu. »Aber so langsam gewöhne ich mich an den Gedanken, immer mal wieder etwas Geisterhaftes zu treffen.«

»Das wird schon sehr bald Alltag für dich sein, Alexis«, kam Wilhelm allmählich zur Ruhe. »Aber behalte dir ein bisschen von dem Staunen und Schaudern. Sonst bist du bald so abgestumpft, wie viele bei der Polizei und das ist eigentlich etwas Trauriges.«

Wilhelm hatte in seiner Zeit als Polizeidirektor bestimmt einiges gesehen und erlebt. Seine Nebentätigkeit bei der Creatura Fabularis hatte es ihm in seinem Leben sicher auch nicht einfacher gemacht. Menschliche und übernatürliche Abgründe gleichermaßen zu ertragen, war nicht beneidenswert. Was mich allerdings zu einer Frage drängte, die mich seit Längerem belastete.

»Sag mal, Wilhelm, wie ist eigentlich die Sache mit dem Poltergeist aus Leubingen ausgegangen?«, erkundigte ich mich nach dem früheren Fall in Nordthüringen.

Wilhelm kratzte sich am Kinn, dann nickte er mir zu. »Deinem kleinen Geisterfreund wird es bald besser gehen. Die CF hat sich mit dem Museum für Ur- und Frühgeschichte in Weimar in Verbindung gesetzt, um die echten Armknochen zu finden, die in dem Grab entdeckt wurden. Wir werden diese dann offiziell nach Spuren untersuchen, die auf mögliche Krankheiten des Jungen als Todesursache hindeuten könnten. In Wahrheit bringen wir die Knochen zum Geist des Kleinen und hoffen, dass er dadurch wieder heil wird und letztendlich seinen Frieden findet.«

»Das wäre ihm zu wünschen«, atmete ich erleichtert aus. »War das Entfernen der Knochen aus dem Grabhügel ein Grund, warum er sich so entwickelt hat?«, hakte ich weiter nach.

»Da spielen viele Faktoren eine Rolle«, überlegte Wilhelm. »Dennoch ist es höchst selten und ungewöhnlich, dass ein Poltergeist sich derart manifestiert. Die CF untersucht den Fall weiter. Aber wo wir gerade von Fall sprechen«, setzte Wilhelm sofort ein neues Thema an. »Ich habe etwas für euch.«

Es war ein kühler Abend an diesem Mittwoch, den 18. Oktober 2017. Am Montag hatte uns Wilhelm davon erzählt, dass mithilfe der Hinweise, die ich über die Trickbetrügerbanden gesammelt hatte, umfangreiche Überwachungen stattfinden konnten. Die allermeisten Leute, die ich dort gesehen und beschrieben hatte, seien zwar wie vom Erdboden verschluckt – darunter auch der Kerl mit der Tätowierung am Hinterkopf – dennoch war man einzelnen Übeltätern auf die Schliche gekommen.

So zum Beispiel den zwei Frauen, die ich bei meiner Flucht gesehen hatte. Diese befänden sich laut Polizei an diesem Abend auf dem Weg zu einer älteren Dame in der Lavendelgasse. Sie hatte am Morgen einen Anruf bekommen, der vermeintlich von einem Anwalt kam, der sie über eine hohe Gewinnsumme informierte, die sie angeblich gewonnen hätte. Um diese zu erhalten, müsse die Frau zuvor jedoch fünftausend Euro an eine Bank im Ausland überweisen.

Was die Täter nicht ahnten: Die Polizei wusste bereits, dass die Rentnerin diesen Anruf erhalten würde, und konnte somit eine Fangschaltung einrichten.

Die Seniorin sollte sich gespielt auf die Bedingungen der Betrüger einlassen. Jedoch sah der Plan der Ermittler eine Bargeldübernahme vor, sodass die Frau dem Anrufer weismachen musste, dass Überweisungen ihrerseits derzeit nicht möglich wären. Der Anrufer willigte ein und kündigte an, zwei Mitarbeiterinnen gegen 18 Uhr vorbeizuschicken.

Die Polizei konnte den Anruf nach Jugoslawien zurückverfolgen. Gruseligerweise wurde auf dem Telefon des Opfers dennoch eine deutsche Vorwahlnummer angezeigt. Man kann nicht oft genug davor warnen, unbekannten Menschen sein Geld zu geben!

Bei der Übergabe am Abend kamen dann wir ins Spiel. Saskia und ich. Jep, ausgerechnet uns beiden wurde dieser Fall anvertraut. Wilhelm war der Meinung, dass zwei junge Weibsen unauffälliger wären. Tja, das hatte man bei meinem Alleingang ja bereits bestens unter Beweis gestellt. Nichtsdestotrotz kramten wir den ganzen Dienstag lang Perücken und Klamotten zurecht und standen nun bis zur Unkenntlichkeit zurechtgemacht hinter einem riesigen Buchsbaum in einer Einfahrt der Lavendelgasse, einer schicken Einfamilienhaussiedlung mitten in Eichenstedt.

»Ich begreife nicht, wie man wirklich denken kann, dass man zuerst Geld abgeben muss, um welches zu erhalten«, sprach Saskia ihre Verwunderung über die zahlreichen Erfolge solcher Betrugsmaschen aus.

»Ich habe auch mal so eine E-Mail bekommen«, antwortete ich kopfschüttelnd. »Ein Verwandter von mir sei in Afrika mit dem Flugzeug abgestürzt. Um sein Erbe von Sechsmillionen Euro erhalten zu können, hätte ich zunächst eine fünfstellige Summe an den Anwalt zahlen sollen, der den Fall betreut hatte. Die schreiben dir so überzeugend, dass du im ersten Moment wirklich überlegst, welcher Großonkel 5. Grades das denn sein könnte. Bis dir die zahlreichen Rechtschreibfehler und Ungereimtheiten auffallen. Ältere Menschen können das manchmal gar nicht alles erfassen. Vor allem am Telefon nicht, wenn auch noch Druck auf sie ausgeübt wird.«

Tatsächlich hatte die Dame aus unserem Fall ein Ultimatum gestellt bekommen. Wenn das Geld nicht bis morgen eingegangen sei, würde sie ihren Dreimillionen Euro Gewinn nicht erhalten können. Begründet wurde dies mit irgendwelchen bürokratischen Richtlinien und anderem Quatsch.

»Wenn dann auch noch angebliche Unfälle und Notlagen von Angehörigen ins Spiel kommen, reagieren viele Menschen einfach nur und denken kein zweites Mal darüber nach«, sprach ich weiter über das, was ich bereits über ähnliche Fälle gehört hatte.

Saskia stimmte mir mit einem Kopfnicken zu. An ihren zusammengepressten Lippen konnte ich jedoch erkennen, dass sie genauso wenig begeistert darüber war, mit mir hier zu sein, wie ich. Aber es nützte nichts. Wir waren Kolleginnen und mussten lernen, miteinander auszukommen. Was in erster Linie an ihr lag. Ich selbst hatte für diese hübsche und intelligente Frau nichts als Bewunderung übrig.

»Frau Schramm kommt jetzt raus«, flüsterte Saskia in ihr Funkgerät. Am anderen Ende gab Lukas ihr weitere Anweisungen. »Verstanden«, beendete die Blondine die Absprache. »Momo und Luke melden, dass die Mittelsmänner, ähm, Frauen von der Primelgasse aus auf dem Weg zu ihrem Opfer sind.«

Wir machten uns für unseren Einsatz bereit. Für diesen hatte ich nicht nur ein anderes Aussehen und eine falsche Identität, ich musste mir sogar einen osteuropäischen Akzent antrainieren in der Kürze der Zeit. Wir mussten die Wahrscheinlichkeit, dass die zwei Verbrecherinnen mich wiedererkannten, so gering wie möglich halten.

»Bereit?«, fragte Saskia mich und atmete selbst noch einmal tief durch. Sie hatte ihre langen blonden Haare unter einer braunen Lockenpracht versteckt, während ich eine sehr authentisch wirkende Echthaarperücke trug. Diese war laienhaft von einem kräftigen Rot zu Blond umgefärbt worden, was ein sonderbares Orange ergab. Die Ansätze blieben dunkel, wodurch sie herausgewachsen aussahen. An meine eisblauen Kontaktlinsen hätte ich mich im Gegensatz dazu glatt gewöhnen können. Nicht jedoch, an die langen künstlichen Fingernägel, die auch Saskia ihrer Verkleidung hinzugefügt hatte.

Wir warteten ab, bis Waltraud Schramm das Päckchen mit den gefälschten Banknoten übergab. Natürlich hatten die Beamten es mit einem GPS-Empfänger ausgestattet. Nachdem die Seniorin in ihr Haus zurückgekehrt war, nahmen wir die Verfolgung der Zielpersonen auf.

Nun kam es auf unser beider schauspielerisches Talent an.

»Ey, bleibt mal stehen!«, rief ich den Frauen in gebrochenem Deutsch hinterher. »Es gibt ne Planänderung.«

Hektisch drehten sich die Frauen um. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als mich die mit den langen dunklen Haaren anguckte. Sie schien mich in meiner neuen Verkleidung aber nicht zu erkennen.

»Wat seit'n ihr für welsche?«, sprach sie in einer wilden Mischung aus berlinerisch und einem anderen Dialekt. Hoffentlich war ich ihr in der Hauptstadt nicht schon einmal über den Weg gelaufen.

»Marko schickt uns«, sagte ich und deutete mit einer Handbewegung einen Pferdeschwanz an meinem Hinterkopf an. »Ihr sollt das Geld zum Bahnhof bringen. In diesen alten Lokschuppen gegenüber der Gleise.«

Marko Kellner war der unschuldig klingende Name des Zopfmannes, mit dem ich damals in dem ehemaligen Supermarkt zu tun bekam. Die Polizei hatte ganze Arbeit geleistet, dies herauszufinden. Ihn selbst hatte man bisher nicht schnappen können. Was sich vielleicht heute ändern würde.

»Dat Ding inner Kaufmannstraße? Kriegt jetz doch der annere Kerl de Moneten?« Die Frau sah überrascht und wütend aus. Dennoch schien sie zu wissen, worüber wir sprachen.

Das Problem war nur, dass wir das nicht wussten! Wir hatten uns den alten Schuppen am Bahnhof als Fake-Übergabeort überlegt, um die Bande in eine Falle zu locken. Dass dort offenbar tatsächlich etwas Kriminelles in Gange war, kam so überraschend wie ungelegen. Oder vielleicht auch nicht. Wir mussten nur schnell genug schalten und unseren Plan den neuen Erkenntnissen anpassen.


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