Alci rei lucem adhibēre / Part 1
MEHR ALS EINE WOCHE war seit unserem Debakel in Thüringen vergangen. Ich hatte mitbekommen, dass Marlowe sich vor der CF für uns rechtfertigen musste, was mir sehr leidtat. Er hatte echt Rückgrat, dass er dennoch keine weiteren Konsequenzen aus unserem Fehlverhalten zog und wir alle unseren Job in der Detektei behalten hatten. Er glaubte an seinen kleinen Trupp und daran, dass wir uns noch verbessern könnten und würden.
Luke war jedoch nach wie vor eingeschnappt, sprach aber immerhin wieder mit mir. Für Saskia traf das weniger zu. Sie wechselte weiterhin nur im allerseltensten und nötigsten Fall ein Wort mit mir.
Ansonsten gab es in den letzten Tagen nicht besonders viel zu tun, sodass ich amüsanterweise tatsächlich mit einigen Büroarbeiten beauftragt wurde. So wurde meine Notlüge doch noch ein bisschen wahr. Zu Tu-Tus Enttäuschung bestanden die entsprechenden Akten aber zumeist aus Rechnungen und anderen langweiligen bürokratischen Sachen. Selbst wenn ich wollte, hätte ich ihr nichts zu irgendwelchen Kriminalfällen aus Eichenstedt und Umgebung berichten können.
Die zugegebenermaßen angenehme Ruhe sollte allerdings vorbei sein, als ich am Donnerstag, den 12. Oktober 2017 die Garage betrat.
Zunächst hörte ich jedoch ein Gespräch zwischen Luke und Momo mit an, die sich gerade über Saskia unterhielten.
»Ich frage mich, wann wir den Boss denn mal erreichen sollen, wenn sie ihn die ganze Zeit in Beschlag nimmt«, maulte Lukas und schob sich einen Donut in den Mund.
»Da sagst du was. Oh, Lex! Es gibt einen neuen übernatürlichen Fall!«, rief mir Momo entgegen, nachdem er auf mich aufmerksam geworden war.
»Große Klasse«, erwiderte ich, unsicher, ob ich mich darauf freuen sollte oder die nächste Katastrophe erwarten würde.
Kurz darauf kam Saskia aus Marlowes Büro. Sie hatte ein triumphierendes Lächeln auf den Lippen. Als sie mich entdeckt hatte, wirkte ihr Blick allerdings eher warnend. Was war ihr Problem, Himmel noch eins!?
»Lex, auch schon da?«, sprach sie mich auf ihre überhebliche Art an. »Der Boss will dich sehen.«
Hatte ich mir wieder was zu Schulden kommen lassen? Eine Rechnung falsch eingetragen? Den verkehrten Stempel unter den Posteingang gesetzt? Oder hatte meine vergessene Lederjacke letztlich doch noch für Ärger gesorgt?
»Alexis, komm herein«, ließ sich Marlowe seine Laune wie immer nicht anmerken. Dennoch machte ich mich auf alles gefasst.
Als ich in sein Büro kam, stand er mit krausgezogener Stirn vor seinem Schachspiel. Sein schwarzer König lag flach auf dem Brett. Hatte er mit Saskia eine Partie gespielt und haushoch gegen sie verloren? Da ich kein Schach spielen konnte, behielt ich entsprechende Nachfragen für mich. Vor allem, da ich nicht wusste, wie er auf mich zu sprechen war.
»Heute erwartet dich ein Klassiker«, eröffnete er unser Gespräch und setzte sich mir gegenüber hin. »Ein richtiges Spukschloss.«
Marlowe wirkte dabei beinahe vorfreudig. Er war ja doch ein Mensch und kein getarnter Dämon!
»Ein Spukschloss? Haben wir wieder Hinweise auf außergewöhnliche Aktivitäten erhalten?«, fragte ich nach und konnte ebenfalls nicht verbergen, dass mich die Neugierde packte.
»Du stammst nicht von hier, aber vielleicht hast du schon einmal vom Schloss Henriette gehört«, erklärte er und breitete eine Landkarte vor mir aus. In seinem Büro gab es kaum Technik. Sein Notebook war meistens zugeklappt, wenn ich hier war.
»Nein, habe ich nicht«, beantwortete ich seine Frage. »Lassen Sie mich raten: Ein altes verwaistes Gebäude, indem die Anwohner immer wieder Geistererscheinungen gesehen haben wollen.«
»Correct! Wir waren bereits dreimal an diesem Ort«, sagte er und tippte mit dem Finger auf Gerbstedt, einer Kleinstadt in Mansfeld-Südharz. »Dort in der Nähe ist übrigens auch ein Fürstengrab gefunden worden«, ergänzte er schmunzelnd, was eine Anspielung auf unseren letzten Fall war.
Was hatte der denn gefrühstückt? So humorvoll kannte ich unseren schweigsamen Boss ja gar nicht. Oh, ich Trottel! Na, klar! Saskia war zuvor bei ihm gewesen und Luke hatte vorhin ebenfalls so eine Bemerkung gemacht. Das erklärte auch Saskias warnenden Blick. Die beiden hatten was miteinander! Da haben sich ja zwei gefunden.
»Aber unser heutiges Ziel ist hier in Helmsdorf«, rief mich der Boss zu wichtigeren Dingen zurück. »Eine wohlhabende Familie hat dort von 1801 bis 1805 ein kleines Schloss bauen lassen. 1878 ging das Anwesen an den Baron Bernhard von Krosigk. Nach dem Krieg war es ein Pflegeheim und seit 1994 steht es leer. Seitdem wurden immer wieder Erscheinungen wie zum Beispiel die Weiße Frau dort gesehen oder Geisterstimmen gehört.«
»Und jetzt springt etwas auf dem Dach herum?«, machte auch ich einen Scherz in Richtung Draugr.
»Bis jetzt nicht. Kommt aber bestimmt noch«, blieb Marlowe ungewohnt gut gelaunt. »Nein, seriously. Wir konnten bei keinen unserer Einsätze dort jemals etwas feststellen. Und auch den Mothman werden wir heute nicht finden, schätze ich.«
»Mothman? Diese Riesenmotte aus Amerika?« Wer hatte nicht schon einmal von diesem angeblichen Ungeheuer gehört, welches in den Staaten immer wieder für Aufsehen sorgte.
»Genau der wurde von mehreren Spaziergängern im Umkreis des Schlosses gesehen. Nach allem, was wir mit dem Geist in Leubingen erlebt haben, müssen wir dennoch auf alles gefasst sein. Ich kann und werde nicht ausschließen, dass dort ein Fabelwesen oder ein Geist sein Unwesen treibt.«
»Wir schauen uns das genau an und rufen Sie oder die CF diesmal sofort an, wenn wir etwas gefunden haben, womit wir eventuell nicht klar kommen. Ich verspreche, dass ich mich heute an den Schlachtplan halten werde. Ähm, ich gehe doch mit dorthin, oder?«
Warum sonst sollte er mir das alles erzählen? Ich fand, ich hatte genug Akten sortiert, um mir eine zweite Chance als Fabeltierjägerin geben zu können.
»Of course you do! Ich will sehen, ob du etwas spüren kannst und wie das Wesen auf dich reagiert, falls wir eines finden.« Marlowe nahm seinen Trenchcoat vom Haken und schnappte sich seine Autoschlüssel vom Tisch.
»Ach, Sie kommen mit?«, fragte ich überrascht nach. Ich nahm an, dass nur das Fußvolk herausgeschickt werden würde.
»Und du fährst bei mir mit«, nickte er mir zu. »Lukes Fahrstil kann man niemandem zumuten.«
Ich wurde etwas rot, als ich daran dachte, dass ich letztens den Parkplatz vollgekotzt hatte. Aber da hatte mich zuvor auch ein Poltergeist angegriffen. Das musste neben Lukes Raserei als Ausrede gelten.
»Come on, guys. Let's go!«, rief Marlowe Luke und Momo beim Verlassen der Garage zu. »Saskia, schau dir die neuen Fotos von diesen Schriftzeichen an, die René geschickt hat«, gab er auch Saskia eine Aufgabe. Sie nahm das lächelnd zur Kenntnis. Mich ignorierte sie gekonnt und steckte ihre Nase in einen PC.
Luke und Momo steuerten den blauen Corsa an, während Marlowe mich zu einen schwarzen Ford Mondeo führte. Aus einer der ausgedienten Werkstätten holten wir noch allerhand Equipment. Darunter Videokameras, Fotoapparate, Audiorekorder und vielerlei Messgeräte wie Magnetometer, Geigerzähler und Thermometer. Luke und Momo schleppten eine Kiste herum, die ich nicht einordnen konnte.
»Das ist eine Ghostbox«, machte mich Mohammad schlauer. »Damit kann man Geisterstimmen hören. Falls denn welche da sind und diese keine Gestalt haben, im Gegensatz zu unserem kindlichen Poltergeist aus Thüringen.«
Den Knaben werden wir alle wohl nicht so schnell vergessen. Ich war überrascht, wie viel Technik bei so einer Geisterjagd zum Einsatz kam.
»Außer versteckte Kameras habt ihr nicht«, murmelte ich vor mich hin. Marlowe hatte es gehört.
»Haben wir. Verschiedene Ausführungen. Fürs Knopfloch, getarnt als Brille oder sogar als Ring.« Er deutete auf eine Kiste im hinteren Bereich der alten Werkstatt.
»Ach, was! Und zu mir haben die drei gesagt, dass eine Kameraüberwachung während meines Spionageeinsatzes nicht möglich wäre, und mir stattdessen diesen klobigen Funkempfänger ins Ohr gesteckt.«
»Ich sagte ja, dass deine Kollegen auch noch viel lernen müssen.« Marlowe warf Luke und Momo ein leichtes Kopfschütteln zu, welches sie aber nicht bemerkten.
Als all unsere Technik verstaut war, ging die Fahrt los. Eine deutlich angenehmere Tour. Nicht nur das Auto war in einem besseren Zustand, auch Marlowes Fahrweise ließ keinen Grund für Unbehagen zu.
»Was hast du deiner Familie und Freunden gesagt, wo du derzeit arbeitest?«, fragte mich Marlowe nach einer Weile.
»Ach, nur, dass ich ab jetzt so eine Art Newt Scamander bin und magische Tierwesen sammle«, konnte ich mir einen schlechten Scherz nicht verkneifen. Der Boss blieb unbeeindruckt. Klar, Saskia war schließlich nicht in der Nähe, um seine Laune zu erheitern. Okay, der Gedanke war fies.
»Ich habe ihnen gesagt, dass ich den Bürokram für eine kleine Detektei in Eichenstedt machen. Das hat ja die letzten Tage sogar der Wahrheit entsprochen.«
Er nahm mein Gesagtes mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. Irgendwie vermisste ich die Streitigkeiten mit Luke. Die waren mir allemal lieber als das penetrante Schweigen des Meisterdetektivs.
Gegen 19:30 Uhr, als es bereits dunkel geworden war, hatten wir unser Ziel erreicht. Das sogenannte Schloss Henriette lag etwas außerhalb von Helmsdorf. Ich hatte mir auf der schweigsamen Fahrt alte Bilder angesehen. Es musste einstmals ein wunderschönes Gebäude gewesen sein. Schade, dass man es hat verfallen lassen. Es wurden ständig neue Häuser gebaut und Gebiete erschlossen. Dabei gab es so viel Leerstand in Deutschland. Aber wie so oft, spielten Geld- und Besitztumsfragen eine Rolle dabei, was aus den bestehenden Bauwerken wurde.
Der Eingang war von zwei Treppen links und rechte geprägt, die allerdings durch Bauzäune abgesperrt waren. Oberhalb der Treppe stand ein alter Rollstuhl. Das gab dem Ort auf jeden Fall schon einmal eine geisterhafte Aura.
»Wir können hier rein«, sagte Luke, als er eine lose Absperrung unterhalb des Treppenaufgangs entdeckt hatte. Momo und Marlowe schnappten sich ein paar Gerätschaften und legten diese in das Schloss.
Ich blieb noch eine Weile draußen und schaute mir die Umgebung an. Rund um das verfallene Gebäude war alles verwildert. Zahlreiche Trampelpfade zeugten dennoch von regem Durchgangsverkehr. Gerade im Dunkeln hatte der Ort etwas Mystisches. Mir war klar, woher die angeblichen Geistersichtungen kamen. Bereits das leiseste Geräusch oder der kleinste Lichtschimmer konnte einen Menschen auf die Idee bringen, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging.
»Lex, kommst du mit rein?«, rief mich Momo aus meinen Gedanken. Mit klopfendem Herzen folgte ich den anderen in das ehemalige Pflegeheim.
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