relief
April, 2024
Zögernd stand Kai vor der Wohnungstür, die ihn von dem Inneren der Wg trennte.
Irgendwie fühlte sich das komisch an; nicht wie nach Hause kommen.
Nicht mehr.
Früher war das hier sein Zuhause gewesen, aber das war es jetzt anscheinend nicht mehr.
Nun war sein Zuhause bei Jule; in Jules Haus.
Spätestens jetzt wurde Kai das bewusst und es wäre auch ein wirklich schöner Gedanke, wenn er genau das jetzt nicht Timo sagen müsste.
Eigentlich war Kai sich auch ischer, dass Timo sich für ihn freuen würde; das Problem war nur, dass es hier nicht nur um Kai ging.
Nicht nur, dass Kai sich seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr richtig bei Timo gemeldet und ihm die.. aktuelle Lage erklärt hatte; Kai würde ihm jetzt auch gleich erzählen, dass er ausziehen und die Wg mehr oder wenige Geschichte sein würde.
Timo würde dann jemand fehlen, der zur Miete besteuerte und Kai wusste nur zu gut, was das bedeutete; gerade als Student.
Aber irgendwann musste er es ihm ja sagen; auch auf die Gefahr hin, dass Timo dann sauer auf ihn sein würde.
Leise seufzend kramte Kai den Schlüssel zur Wg aus der Hosentasche.
Kurz hatte er überlegt, ob er nicht doch lieber klingeln sollte; schließlich war er inzwischen nicht mehr wirklich mehr als ein Gast.
Aber er hatte sich dann doch für den Schlüssel entschieden; irgendwie war beides komisch, die gesamte Situation war komisch und verworren.
Wie ein Wollknäuel, das alle zwei Zentimeter verknotet und verheddert war.
Und es fühlte sich im Moment an, als wäre es allein Kais Aufgabe, dieses Wollknäuel auseinanderzutüddeln und das war verdammt anstrengend und Nerven aufreibend.
Kaum hatte Kai die Wohnung betreten, kam ihm der vertraute Geruch entgegen; er konnte nicht mal genau sagen, wonach es in der Wg roch, aber es war ein besonderer Geruch, den er irgendwie liebte und vermisst hatte.
Aber er wusste auch, dass er sich jetzt ganz, oder zumindest fast komplett, von jenem Geruch verabschieden musste.
Vielleicht, ganz vielleicht dürfte er ja nochmal zu Gast hier sein.
Oder würde Timo ihn rausschmeißen?
Weil er sich nicht gemeldet hatte nach all dem, was er für Kai getan hatte.
Oh Gott, bitte nicht schon wieder dieses blöde Gedankenkarrusell.
Kai hasste es so so sehr, aber er konnte es einfach nicht abstellen; egal wie sehr er es auch versuchte.
"Kai?"
Als Kai seinen Namen hörte, hob er sofort seinen Blick und sah in die überraschten Augen seines besten Freundes, welcher mit irritiertem Gesichtsausdruck vor ihm stand und ihn musterte.
"Hey", lächelte er und hob verlegen seine linke Hand.
"Was machst du denn hier?"
"Ob du es glaubst oder nicht, lieber Timo, aber ich wohne auch noch hier", entgegnete Kai mit amüsiertem Lächeln auf den Lippen," Auch wenn ich in letzter Zeit eher den Eindruck erweckt habe, es nicht mehr zu tun."
"Ähh.. ja klar", stotterte Timo etwas unbeholfen, während er auf den Jüngeren zuging," Tut mir leid; ich hab nur nicht wirklich damit gerechnet, dass du... also dass du kommst... heute; jetzt."
"Schon gut", lachte Kai leise," ich weiß, was du meinst."
Er überbrückte den letzten Abstand zwischen ihm und Timo und zog ihn in eine innige Umarmung.
Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie sehr er seinen besten Freund vermisst hatte.
Ein schlechtes Gewissen kroch seine Wirbelsäule hoch.
Er hätte viel eher hierher kommen müssen; viel viel eher.
"Ich hab dich vermisst, Timbo", murmelte er leise an die Halsbeuge seines besten Kumpels," Tut mir leid, dass ich dich so hab hängen lassen. Das war echt unfair."
"Ach Quatsch", lächelte Timo sanft, nachdem sie sich etwas voneinander gelöst hatten und legte seine Hände auf die Schultern des Jüngeren," Ist doch alles gut, Kaichen. Ich... ich verstehe, dass du deine Zeit brauchtest."
Erleichtert atmete Kai auf.
Er war gerade so verdammt glücklich und dankbar, dass Timo anscheinend nicht sauer auf ihn war.
"Danke; ehrlich. Ich... ich mach das trotzdem wieder gut... irgendwie."
"Mach dir darüber keine sorgen, Kai, ehrlich nicht", lächelte Timo versöhnlich, doch dann wurde sein Gesichtsausdruck wieder nachdenklicher.
"Aber... also.. wie gehts dir denn jetzt? Also... ich meine, hast du mit Jule geredet oder... also..."
"Timo, beruhig dich jetzt mal. Glaubst du, ich wäre so abgetaucht und hätte nicht mit dir geredet, wenn Jule und ich uns nicht ausgesprochen hätten?"
Es dauerte kurz, bis Timo verstanden hatte, was Kai hm damit sagen wollte, aber dann erschien ein zögerliches Lächeln auf den Lippen des Studenten.
"Also ihr... ihr habt euch ausgesprochen?"
Grinsend nickte Kai; wenn er daran dachte, wurde ihm ganz warm ums Herz.
Ja, sie hatten sich ausgesprochen und ja, sie würden eine Familie werden. Eigentlich waren sie schon längst eine.
"Und? Also ich meine das Baby; wollt ihr es... oder..."
"Timo", sagte Kai mit eindringlicher Stimme und sorgte damit dafür, dass sich eine Spur von Unsicherheit, ja fast schon Angst auf Timos Gesicht legte," Vielleicht wirst du ja sogar Patenonkel."
"Ha", rief der Ältere freudig aus," Heißt das, dass ihr... also dass ihr das Kind behaltet?"
"Jackpot, Timbo."
Ein regelrechtes Strahlen breitete sich auf Timos Gesicht aus; fast so als wäre er derjenige, der Vater werden würde.
"Ahhh, Kai, das ist so toll; ich freu mich so.", rief er überschwänglich," Ich hätte dich natürlich auch supportet, wenn du dich gegen das Kind entschieden hättest, aber jetzt wirst du einfach Papa. Und Julian auch. Das ist so toll. Oder?"
Belustigt lachte Kai auf.
"Ja.. ja, da hast du wohl recht; es ist wirklich toll."
Irgendwie fand Kai es süß, wie Timo reagierte; wie ein kleines Kind, das ausnahmsweise mal einen Schokoriegel mehr durfte als sonst.
Aber wenn er ehrlich war, konnte er es verstehen.
"Ich muss aber deshalb noch etwas mit dir besprechen", begann Kai nun zögernd.
"Klar; ja natürlich", stimmte Timo ihm sofort zu," Wollen wir vielleicht mal rein gehen? Im Flur ist es irgendwie komisch, oder?"
Nickend gab der Lockenkopf seinem besten Freund recht, weshalb sie gemeinsam ins Wohnzimmer gingen und sich dort auf der Couch niederließen.
Wie viele Stunden hatten sie hier zum Zocken oder Pizza essen verbracht?
Wie oft hatten sie hier gesessen, über Professoren gelästert oder gemeinsam gelernt?
Wie oft?
"Wie geht es denn jetzt alles weiter?", wollte der Blonde neugierig wissen, nachdem er ihnen jeweils ein Glas Wasser geholt hatte," Mit deinem Studium und so?"
"Genau darüber wollte ich mit dir reden", Kai machte eine kurze Pause und nippte an seinem Wasserglas," Also, ich hab mich ein bisschen informiert... wegen des Studiums und ich denke, ich werde jetzt erstmal ganz normal weitermachen und dann kann ich ein paar Wochen vor der Geburt aufhören und dann erstmal Pause machen. Ich hab auch schon mit der Uni gesprochen und die meinten, dass das alles kein Problem ist und ich die Prüfungen, die ich verpasse, nachschreiben kann."
Verstehend nickte Timo.
"Das hört sich doch gut an, oder?"
"Ich denke schon." Ein freches Grinsen bildete sich auf Kais trockenen Lippen. "Du wirst mich also nicht so schnell los in den Hörsälen."
"Haha", lachte Kais Gegenüber sarkastisch auf," Du bist so lustig, Kai. Aber ich muss schon sagen, die Zeit, wo du in deinem emotionalen Loch versunken warst und nicht aus deinem Bett gekommen bist, hab ich dich da schon echt sehr vermisst. Das war so langweilig ohne deine komischen Bemerkungen."
"Ich hab diese Normalität auch vermisst, wenn ich ehrlich bin", gab Kai zu," Ich... ich denke, ich werde dich ab jetzt wieder nerven im Hörsaal... aber da gibt es noch was, worüber wir reden müssen."
Abwartend sah Timo ihn an; konnte sich aber insgeheim schon denken, was Kai ihm sagen wollte.
Sein ängstlicher Gesichtsausdruck sagte alles aus.
"Jule und ich... wir haben auch darüber geredet, wie wir das in Zukunft machen wollen mit dem Wohnen und so und... also wir denken, dass es das Beste ist, wenn wir zusammenziehen.. also zu ihm."
"Was du damit sagen willst, ist, dass du aus der Wg ausziehen möchtest; oder wirst viel eher", fasste Timo Kais zögerliche Worte kurz zusammen, was Kai unsicher nicken ließ.
"Es tut mir wirklich leid und ich kann auch voll verstehen, dass du jetzt sauer auf mich bist, weil dir ja jetzt jemand für die Miete fehlt und so, aber ich bin mir sicher, dass wir da ne Lösung finden. Also, vielleicht kann Jule euch ja helfen, bis ihr einen neuen Mitbewohner habt oder keine Ahnung. Aber, weißt du, es ist das beste, weil wenn das Kind da ist."
"Digga, chill mal Kai", kicherte Timo irgendwann belustigt und unterbrach Kai damit in seiner Rage, in die er sich regelrecht geredet hatte," Beruhig dich doch mal; du kriegst ja gleich nen Herzinfarkt."
Verdutzt sah Kai den Älteren an.
War Timos Reaktion jetzt etwas Gutes oder Schlechtes?
War er sauer oder nicht?
Kai konnte es wirklich nicht einordnen, obwohl Timo hier saß und aus vollem Herzen lachte.
Irgendwie war das trotzdem komisch; oder gerade deshalb.
"Man Kai", meinte Timo noch immer vor sich hin lachend und klopfte Kai überschwänglich auf die Schulter; es tat schon fast ein bisschen weh," Es war doch klar, dass ihr zwei Knallköpfe früher oder später zusammenzieht; vor allem jetzt, wo ihr das Kind behalten wollt. Das Kind kann ja kaum hier in der Wg schlafen; also ich ab zumindest keine lust auf Windeln wechseln und Dauerbeschallung. Ich spiele gerne mal den Patenonkel, aber den Rest könnt ihr gerne bei Julian im Haus machen. Und für die Miete finden wir schon ne Lösung. Irgendwer sucht doch immer nen Zimmer."
Erleichtert atmete Kai aus und warf sich gleich in Timos Arme.
"Also bist du nicht böse?"
"Sehe ich so aus?", fragte Timo lachend und erwiderte die Umarmung fest," Natürlich nicht, du Idiot. Ich freu mich doch für euch. Wir kriegen das schon irgendwie hin alles."
Kai antwortete nicht.
Stattdessen nahm er kurz darauf ein leises Schluchzen wahr.
"Weinst du jetzt?"
"Sorry", nuschelte Kai gedämpft in Timos Arme," Aber ich bin einfach so froh... dass du nicht böse bist oder so. Ich hatte da echt Angst vor irgendwie."
"Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass ich nicht böse bin. Ich werde nur sauer auf dich, wenn du uns vergisst in deinem Babywahn und uns nicht besuchst und wir nichts mehr miteinander machen."
"Niemals. Auf keinen Fall vergesse ich euch. Wie könnte ich denn bitte Timo Werner, den besten Studenten in ganz Dortmund, nein in ganz Deutschland, vergessen?"
"Wenn du nicht schwanger wärst, würde ich dir jetzt eine reinhauen", erwiderte Timo trocken und erntete ein leises Lachen von Kai, der sich nun von ihm löste und sich die letzten Tränen von den Wangen wischte.
"So kennen wir unseren Timo doch", kommentierte er amüsiert," Kein Humor und keinen Sinn für Spaß und Ironie."
Anstatt ihm zu antworten, hielt Timo seinem Kumpel wortlos die schon fast eingestaubten Controller hin.
"Wenn du nicht willst, dass ich dich raus schmeiße, spielst du jetzt ne Runde mit mir."
"Noch wohne ich hier, ja", erwiderte Kai mit schon fast drohender Stimme," Du kannst mich nicht aus meiner eigenen Bude raus schmeißen."
"Dann sieh es als Entschädigung dafür, dass ich dir später noch die ganzen Notizen von den Vorlesungen schicke, die du wegen deinem Selbstmitleid verpasst hast, schicke."
Grinsend nahm Kai den Controller entgegen; es war wohl kaum eine Entschädigung, aber er machte es natürlich trotzdem gerne.
Viel zu lange hatten sie nicht mehr einfach nur hier gesessen und gespielt.
Erst jetzt merkte Kai, wie sehr er das Ganze hier und vor allem die Zeit mit Timo eigentlich vermisst hatte und er nahm sich ganz fest vor, das alles nicht zu vernachlässigen.
Egal, ob er schwanger war; egal, ob er mit Jule zusammen war und egal, ob er jetzt die Wg verlassen würde.
Timo war einer der wichtigsten Menschen in seinem Leben und würde das auch bleiben.
Er war ihm so dankbar, dass er in der letzten Zeit so selbstlos für Kai da gewesen war und jetzt nicht mal sauer auf ihn war.
Das würde er ihm nie vergessen.
~~
"Und? Was hat Timo gesagt?"
Aufgeregt kam Jule auf Kai zu, als er Kai die Einfahrt hochstiefeln sah.
"Ich dachte schon, es ist was passiert", fuhr er schnell fort," Du warst so lange weg; ich wollte dich gerade anrufen."
"Timo und ich haben noch gezockt", erklärte Kai kurz," Sorry, hab vergessen, dir Bescheid zu sagen."
"Heißt das, dass alles gut gegangen ist?"
Zum ersten Mal hob Kai seinen Blick, sodass seine grünen Augen direkt in die von Jule trafen.
Langsam nickte er, während er seinen Mantel auszog und ihn die Garderobe hing.
Sofort umarmte Jule ihn und küsste seinen Hals vorsichtig.
"Das ist wunderbar, Harvy. Das freut mich so sehr für dich."
Leise lachte Kai auf und strich liebevoll über den Nacken des Blonden.
"Du bist der Beste, Jule."
"Weiß ich doch", erwiderte dieser frech und drückte seinem Freund dann einen kurze Kuss auf die Lippen," Weiß ich doch."
Wieder küssten sie sich; dieses Mal inniger, williger, forscher.
"Dann heißt das jetzt, dass wir den Umzug in den Gang bringen können."
"Das heißt es wohl", kicherte Kai, sich noch immer an den Nacken seines Freundes klammernd.
"Ich kann das echt nicht glauben", seufzte Jule, während sein Blick sich im Nirgendwo verlor," Ich meine, wir kenne uns erst so kurz und jetzt kriegen wir ein Kind und ziehen zusammen und... für immer... und ich freue mich so darauf."
"Für immer", wiederholte Kai andächtig, während seine Finger mit den Knöpfen von Jules Hemd spielten, das dieser über deinem Shirt trug," Für immer hört sich gut an. Findest du nicht?"
"Es hört sich besser an als alles andere, was ich je gehört hab."
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