Perplexity


November,2023

Zitternd atmete Kai aus, als er das Stadion in einem Tempo verlassen hatte, in dem er nicht mal lief, wenn er zu spät zur Uni kam.
Plötzlich hatte er das Gefühl, dass das Stadion, das er vorhin noch für riesengroß gehalten hatte, ihn einengte. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Vielleicht hatte er deshalb so plötzlich das Gefühl gehabt, raus zu müssen. 
Oder weil ihn der Kuss so überfordert hatte; oder beides. Kai wusste es nicht.
Kai war orientierungslos; als wäre er zum ersten Man in dieser Stadt. 
Dabei war die nächste S-Bahn Station, die ihn nach Hause bringen könnte, in unmittelbarer Nähe; er konnte sie von hier aus sehen. 
Aber er war unfähig sich zu bewegen. Seine Muskeln gehorchten den Anweisungen seines Gehirns nicht. So sehr er es auch versuchte; es klappte nicht. 
Laut atmete Kai aus; eine weiße Wolke aus warmer Luft bildete sich vor seinem Mund.
In seinem Kopf spukte die ganze Zeit dieser Kuss umher.
Wie Jule und er sich ganz langsam, fast unmerklich, genähert hatten und ihre Lippen auf einmal aufeinander lagen und sich gefühlvoll gegeneinander bewegt hatten. Noch immer spürte Kai das Kribbeln; eine Nachwirkung der Explosion, die bei dem Kuss in seinem Magen stattgefunden hatte. Tausende kleine Stromschläge waren durch seinen Körper geflossen und Kai hatte gegen die Ohnmacht ankämpfen müssen. Jules Lippen fühlten sich wie für seine gemacht an. Als wären sie das Puzzleteil, das wie kein anderes zu seinen passte. 
Während des Kusses hatten sich alle anderen, nicht lebensnotwendigen, Funktionen in seinem Körper abgeschaltet und sein Herz hatte so sehr geklopft, dass er Angst hatte, Jule würde es spüren können.
Und dann hatten sie sich gelöst und Kai hatte erst dann richtig realisiert, was da gerade passiert war. 
Er hatte Julian geküsst. Julian Brandt. 
Es war ihm alles zu viel geworden; Jules durchdringender Blick, das Prickeln, das der Kuss auf seinen Lippen hinterlassen hatte und die Gedanken in seinem Kopf. Er fühlte sich überfordert. Alles war durcheinander in seinem Kopf und er konnte nicht anders, als zu fliehen. Raus aus dem Stadion, an die frische Luft, weg von Julian. 
Und jetzt stand er hier. 
Wieder atmete Kai aus; es war wie ein Schalter, der sich in ihm umlegte. 
Schlagartig nahm er alles wieder wahr. Die Geräusche der Autos, die vor ihm auf der Straße fuhren, den Wind, der leicht pfiff und der Schnee, der vor ihm sanft auf den Boden fiel. 
Wie ferngesteuert setzte Kais Körper sich in Bewegung, als wären die Befehle seines Gehirns jetzt endlich angekommen. In schnellem Tempo und mit starr geradeaus gerichtetem Blick visierte er die S-Bahn Station an. Er wollte bloß weg hier und sich in seinem Bett verkriechen. Er wollte weg von Julian und allem, was er mit ihm in Verbindung bringen könnte. Er wollte weder etwas hören noch etwas sehen. 
Dass das gar nicht so einfach war, wurde Kai spätestens dann klar, als er sich in die volle S-Bahn quetschen musste. 
Die Fahrt verging quälend langsam und Kai hatte echt damit zu tun, seine Tränen zurückzuhalten. 
Warum konnte er sich nicht einfach in sein Bett beamen, sich zudecken und dort für immer bleiben?
Stattdessen entpuppte es sich als eine reine Tortur nach Hause zu kommen.
Heilfroh fischte Kai seinen Wohnungsschlüssel aus der Tasche seines dicken Mantels, als er nach gefühlten Ewigkeiten doch noch bei ihrer Wg ankam. 
Seine Hände waren zittrig und sein Atem ging nur stoßweise.
Er hoffte einfach nur, dass Timo gerade nicht da war und ihm nicht auf die Nerven ging; das konnte er gerade wirklich nicht gebrauchen.
Viel mehr sehnte er sich nach Alkohol, um seinen Frust, seine Verwirrtheit, einfach alles, herunterzuspülen und nach einer Zigarette, um seine Nerven zu beruhigen. Eigentlich war Kai kein Fan vom Rauchen, aber gerade hatte er das Gefühl, nichts mehr zu brauchen als dieses Nikotin-Zeug, das er einmal auf irgendeiner Studi-Party geraucht hatte. Oder einfach sein Bett, in dem er sich verschanzen und einfach stundenlang vor sich hin heulen konnte.
Zu seinem Glück war er anscheinend allein, denn Timo wäre wahrscheinlich gleich stürmisch auf ihn zugekommen und hätte ihn ausgefragt.
Auf direktem Wege ging Kai in sein Zimmer und kuschelte sich gleich in sein Bett und auch wenn sein Zimmer, inklusive der Bettwäsche, die seinen Körper jetzt umhüllte, eigentlich warm war, fühlte Kai sich wie in der Antarktis; ihm war unendlich kalt.
Heiße Tränen liefen über seine Wangen und ein leises Schluchzen entkam den Lippen des Braunhaarigen. So genau wusste Kai gar nicht, warum er weinte und jetzt, wo er wieder etwas klarere Gedanken fassen konnte, wusste er gar nicht, warum er so plötzlich so panisch geworden war und Hals über Kopf aus dem Stadion geflüchtet war.
Vielleicht, weil dieser Kuss so plötzlich und und unverhofft kam?
Vielleicht, weil es Jule war, den er geküsst hatte?
Der Mann, in den er verliebt ist und mit allen Mitteln versucht hatte, sich von den Gefühlen für ihn zu lösen und es doch nicht geschafft hatte; ganz offensichtlich.
Vielleicht weil der Kuss sich so unfassbar gut angefühlt hatte und Kai sich doch sicher war, dass es der erste und letzte Kuss gewesen war, den er mit Jule teilte.
Denn Jule erwiderte seine Gefühle nicht; das wusste Kai einfach. Wieso sollte er?
Nein, Kai wusste, dass es nur eine Affekthandlung von Jule war, aus der Situation heraus; nicht mehr und nicht weniger. 
Schluchzend und mit bebendem Körper drehte Kai sich auf die Seite und zog seine Knie an die Brust. 
Er fühlte sich so erniedrigt, so alleine gelassen. Er hatte Jule geküsst.
Was sollte der jetzt von ihm denken?
Das wird der Korb seines Lebens. 
Kai schämte sich so sehr vor sich selbst. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen?
Was sollte er denn jetzt machen?
Wieder und wieder und wieder spielte sich das Szenario in seinem Kopf ab und ließ ihn nicht mehr los. 
"Kai?"
Kai erstarrte und unterdrückte ein gedämpftes Schluchzen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass Timo hier war oder dass er sein Zimmer betreten hatte. 
"Kai?", wiederholte der Blonde leise. Seine Stimme klang besorgt und verwirrt. Wahrscheinlich hatte er gedacht, Kai würde freudestrahlend zurückkommen und wenn er ehrlich war, hatte Kai das auch genauso gedacht. Aber es war nicht so.
Kai hörte Schritte, die näher kam bis sich die Matratze neben ihm senkte.
"Ist alles gut?"
Vorsichtig lugte Kai unter seiner Decke hervor, direkt in Timos sorgenvolles Gesicht, das nur noch sorgenvoller wurde, als er Kais Gesicht sah. 
Salzige Tränen waren darauf zu sehen und seine Augen waren ganz rot und brannten vom Weinen.
"Was ist passiert?"
Kai schluckte; eigentlich wollte er es niemandem erzählen; wollte das mit sich selbst ausmachen, aber als er Timo so sah, musste er es ihm einfach sagen.
"Wir haben uns geküsst."
Kais Stimme war brüchig, leise, nur ein Hauch von Stimme.
"Was? Du und Jule?"
Mit starrem Blick nickte der Lockenkopf, seine Gedanken waren direkt wieder bei dem Kuss, der alles durcheinander gebracht hatte. 
"Aber das ist doch schön... oder?"
Kai zuckte mit den Schultern und dann brach alles aus ihm heraus.
Kai sprach so schnell, dass er manche Worte einfach verschluckte oder durch sein Schluchzen undeutlich aussprach. Er erzählte Timo alles, in jedem kleinen Detail. 
Timos Blick wurde mitleidig und er versuchte so gut wie möglich für seinen Freund da zu sein und ihn zu trösten.
Als er fertig erzählt hatte, zog Timo ihn wortlos in eine dicke Umarmung und ließ Kai sich ausheulen. "Ach Kai", nuschelte er leise, während er dem Jüngeren immer wieder über den bebenden Rücken strich," Das wird schon alles wieder."


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