I don't know anything right now
March, 2024
"Kai?", ertönte Timos verwunderte Stimme durch die Wg, als Kai die Tür hinter sich schloss und seine Tasche im Eingangsbereich abstellte.
Normalerweise würde Kai jetzt die Augen verdrehen, weil er eigentlich einfach nur allein sein wollte, aber er hatte keine Kraft dazu.
Und außerdem war er sich gar nicht so sicher, ob er allein sein wollte.
Wollte er allein sein?
"Bist du mit der S-Bahn nach Hause gekommen? Ich dachte, Jule holt dich ab?"
Und schon stand Timo vor ihm. Besorgnis und Verwunderung auf dem Gesicht.
Kai schüttelte nur schwach den Kopf.
Wie hätte er sonst nach Hause komme sollen?
Er hätte Jule ja schlecht anrufen können.
Mittlerweile wusste Kai nicht genau, ob es richtig war, Jule nach Hause zu schicken und vor allem auf diese Art und Weise, aber er hätte Jule in dem Moment einfach nicht ertragen können.
Klar, sie mussten reden. Klar, es ging Jule auch etwas an.
Aber bevor sie redeten, musste Kai erstmal selbst nachdenken, alles verarbeiten und sich darüber klar werden, was er wollte und was nicht.
Und Jule ging es doch bestimmt genauso. Oder nicht?
"Gott, was ist denn mit dir los? Hast du mir nicht geschrieben, dass du nur eine Gehirnerschütterung hast? Tut mir leid für die krassen Worte, aber du siehst schlimmer aus als einfach nur eine Gehirnerschütterung."
Unter normalen Umständen würde Kai jetzt ein beleidigtes 'Danke' brummen und ohne weitere Worte in sein Zimmer trotten.
Nur dieses Mal waren es keine normalen Umstände; es war so ziemlich das Gegenteil von normalen Umständen.
Es war alles, aber keine normalen Umstände.
Kai antwortete nicht.
Er stand einfach nur da und ließ zu, dass Timo, welcher direkt vor ihm stand und ihn besorgt musterte, seine Schultern berührte.
Auch Timo schien bemerkt zu haben, dass diese Situation keinen Platz für Witze zuließ; so viel Feingefühl hatte auch er.
"Kai, was ist los?"
Die Stimme des Blonden wurde zum Ende hin merklich höher.
Kai sah zu Timo; direkt in seine besorgten Augen.
Und dann brachen alle Dämme; alle.
Kai konnte nicht mehr.
In ihm brodelte es vor Unsicherheit, vor Angst, vor Scham, vor Ungläubigkeit.
Laut schluchzend fiel er seinem besten Freund ihn die Arme und drückte sich ganz eng an ihn.
Timo war überfordert; immerhin hatte er keinen blassen Schimmer, was passiert war und warum Kai so aufgelöst vor ihm stand.
Aber er war da; er war da für Kai und wartete geduldig, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Vorher würde Kai eh keinen geraden Satz raus bringen.
"Shh, Kai", murmelte der Ältere leise, während er beruhigend Kais bebenden Rücken auf und ab strich," Alles wird gut."
Timo konnte ziemlich chaotisch und auch echt kindisch sein, aber wenn es drauf ankam, war er da und Kai war ihm gerade unendlich dankbar dafür, auch wenn er das gerade nicht so richtig zum Ausdruck bringen konnte.
Kai hingegen weinte und weinte; ihm war egal, dass sie gerade mitten im Flur standen und dass Timo nicht mal ansatzweise wusste, was passiert war. Ihm war egal, dass seine Kopfschmerzen gerade mindestens genauso stark waren, wie als er in diesem viel zu hellen Behandlungsraum gelegen hatte, bevor er in sein Zimmer gekommen war.
Ihm war das alles egal.
Es dauerte. Es dauerte, bis Kai sich wieder beruhigen konnte.
Bis das Schluchzen langsam leiser wurde und die Tränen weniger, doch auch als er schon seit einigen Minuten nicht mehr weinte, sondern nur noch hin und wieder leise aufschluchzte, verblieben sie in dieser Position.
Kai, der sich ganz fest an Timo geklammert und seinen Kopf in dessen Halsbeuge vergraben hatte und Timo, der seine Arme um Kai gelegt hatte; eine Hand auf Kais Rücken und die andere in seinen zerzausten Haaren.
Kai konnte sich noch nicht lösen; er hatte Angst, Timo würde gehen, wenn er ihn jetzt losließ.
Dabei brauchte er ihn doch gerade so sehr.
"Wollen wir uns hinsetzen?", wollte Timo in der einfühlsamsten Tonlage wissen, die Kai jemals von ihm wahrgenommen hatte und wahrscheinlich auch jemals von ihm wahrnehmen wird.
Kai nickte nur, machte aber keinerlei Anstalten sich von dem Älteren zu lösen.
"Lässt du mich dann kurz los?"
Unwillig kam Kai Timos Aufforderung nach und lockerte seinen Griff.
Die Augen des Studenten waren feuerrot und sein Gesicht blasser als blass.
Auf Timos Schulter hatte sich ein kleiner, nasse Fleck gebildet; Kais salzige Tränen, aber es störte Timo nicht.
Wahrscheinlich hatte er es noch gar nicht richtig bemerkt, denn die Sorge um Kai war gerade größer als alles andere.
So hatte er den Jüngeren noch nie erlebt und er hatte eigentlich auch gehofft, es nie tun zu müssen.
Denn dieser Anblick ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen.
Kais Beine zitterten; es war als hätte er das Laufen verlernt, aber irgendwie schafften sie es dann doch auf die Couch im Wohnbereich.
"Magst du mir erzählen, was los ist?", fragte Timo einfühlsam.
"Ich...ich...", nuschelte Kai leise schluchzend, aber er bekam keinen geraden Satz heraus und schon gar nicht dieses eine Wort.
Es ging einfach nicht über seine bebenden Lippen.
"Du kannst mir alles sagen, aber ich kann dich so nicht sehen, Kai. Das bricht mir echt das Herz."
Mit zitternden Händen griff der Jüngere in seine Hosentasche und fischte das kleine Bild heraus.
Dieses verdammte kleine Bildchen.
Verwirrt betrachtete Timo das Bild, nachdem Kai es ihm wieder lauter weinend in die Hand gedrückt hatte.
"Das ist von dir", stellte der Blonde kritisch fest, ehe er wieder in Kais verweinte Augen sah; beim besten Willen konnte er nichts erkennen.
War Kai krank? War das ein Tumor oder irgendwas anderes Schlimmes? Ging es Kai deshalb so schlecht?
"Was ist das, Kai?"
"Ich... ich hab irgendso einen Gendefekt", schluchzte Kai aufgebracht; während sich in seinem Kopf die Worte des Arztes immer und immer wieder abspielten.
"Und was heißt das?"
"Ich bin... schwanger."
Kais Stimme war leise; so leise, dass Timo ihn kaum verstehen konnte.
"Was?"
Mit seinem rechten Zeigefinger zeigte Kai auf den kleinen Punkt in der Mitte des Bildes, wobei er so sehr zitterte, dass er den Punkt meist verdeckte.
"Das ist ein Baby... mein Baby."
"Aber.. wie ist das möglich?"
Timo war geschockt... und verwirrt und Kai konnte es verstehen; ihm ging es ja ganz genauso.
"Ich hab so einen komischen Gendefekt und deshalb kann ich schwanger werden", murmelte der Student leise, während er mit aller Macht versuchte, nicht zu schluchzen, damit Timo ihn auch halbwegs gut verstehen konnte," Der Arzt meinte, dass das in den letzten Jahren bei Männern öfter vorgekommen ist."
"Okay und... also... wie fühlst du dich damit?", wollte Timo vorsichtig wissen," Also, freust du dich, oder...?"
Kai zuckte nur mit den Schultern.
Wie sollte er auf diese Frage antworten, wenn er es selber noch nicht einmal wusste?
"Ich hab keine Ahnung", hauchte er gebrochen, bevor er wieder in herzzereißendes Schluchzen verfiel und sich von Timo in seine Arme ziehen ließ.
"Och Kai", murmelte der Ältere," Das wird alles. Wir kriegen das zusammen hin, okay?"
Timo wusste selbst nicht, was er sagen sollte.
Er wollte für Kai da sein, aber er hatte gerade keine Ahnung, was Kai brauchte.
Deshalb zog er seinen besten Freund einfach in seine Arme, wie vorhin schon, und wartete, bis er sich wieder beruhigen konnte.
Vielleicht war das so auch ganz gut, dann konnte Timo die neuen, unerwarteten Nachrichten auch erstmal verarbeiten, denn damit hatte er im Leben nicht gerechnet.
"Das passt doch gar nicht zu mir; zu meinem Leben", schluchzte der Jüngere aufgebracht," Ich studiere; wie soll ich denn ein Kind groß ziehen? Und außerdem; was sollen die Leute denken, wenn sie mich sehen? Ich... ich kann nicht schwanger sein, Timo, das geht nicht. Ich... es geht einfach nicht, Timo."
"Willst du das Kind denn behalten?"
Ratlos zuckte Kai mit den Schultern.
"Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts, gerade."
"Shh, ist gut. Du musst das auch nicht heute oder morgen entscheiden. Lass dir Zeit."
Der Lockenkopf nickte nur unsicher.
"Der Arzt im Krankenhaus hat mir einen Spezialisten hier in Dortmund empfohlen und meinte, ich soll da einen Termin ausmachen, damit er sich das auch nochmal angucken kann."
Verstehend nickte Timo.
"Mach das...", er machte eine kurze Pause, ehe er die Frage stellte, die ihm schon unter den Nägeln brannte," Liege ich richtig damit, dass Jule der Vater ist?"
Schon bei der bloßen Erwähnung von Jules Namen brach Kai wieder in Schluchzen aus; er konnte nicht anders.
Mittlerweile tat es ihm leid, dass er Jule einfach weggeschickt hatte und er war sich sicher, ihn ungerecht behandelt zu haben, aber er musste einfach allein sein.
So böse es auch klang, er hätte Jule da nicht ertragen.
"Und was sagt er dazu?"
"Ich weiß es nicht, ich... ich hab ihn weggeschickt, kurz nachdem wir davon erfahren haben."
Überrascht sah Timo seinen besten Freund an.
Er musste nicht mal was sagen; Kai erkannte das 'Warum?' in seinem Gesichtsausdruck nur zu gut und wenn er ehrlich war, konnte er es verstehen.
"Ich weiß auch nicht, aber ich konnte ihn da nicht ertragen", erzählte er mit noch immer weinerlicher Stimme," Ich musste allein sein und das erstmal für mich selbst realisieren."
"Aber du redest schon noch mit ihm, oder?"
Ratlos zuckte Kai mit den Schultern.
"Du musst, Kai. Jule ist auch Teil davon; er ist der Vater."
"Ich kann das gerade nicht, Timo. Ich brauche erstmal meine Ruhe und muss nachdenken... wie alles weitergehen soll und was ich will. Ich weiß das doch selber auch alles noch nicht."
Niedergeschlagen seufzte Timo auf; die ganze Zeit über hatte seine Hand Kais Rücken nicht verlassen und Kai war ihm echt dankbar dafür. Es fühlte sich für ihn wirklich wie eine Unterstützung an.
Wenn es ihm besser ging und der erste Schock überwunden war, würde er sich definitiv noch bei dem Älteren bedanken müssen.'
Ohne Timo wäre Kai wohl schon lange verloren in dieser scheinbar ausweglosen Situation.
"Ist okay", gab Timo murmelnd zurück," Gibt es etwas, was ich jetzt für dich tun kann?"
Kai schüttelte den Kopf.
"Ich... ich würde jetzt gerne einfach in mein Bett und weinen und nachdenken über alles."
Es war eine ehrliche Antwort; ehrlicher ging es fast gar nicht.
Es gab im Moment nicht, was Kai lieber tun wollte.
"Aber danke, dass du für mich da bist. Das bedeutet mir sehr viel."
Ein leichtes, dankbares Lächeln schlich sich auf die Lippen des Jüngeren und Timo nickte sanft.
"Jederzeit wieder. Du kannst immer zu mir kommen, ich hoffe, das weißt du."
Kai nickte.
Timo zog seinen besten Freund noch einmal fest in seine Arme, ehe er aufstand und sich mit einem letzten sich versichernden Blick zu Kai in sein und Paulas Zimmer zurückzog.
Kai stand auch auf und trottete in sein Zimmer; hier war alles passiert.
Hier hatte alles angefangen.
Aber es wäre ja früher oder später eh alles rausgekommen.
In Kai keimte die Frage auf, wie er es herausgefunden hätte, wenn er hier nicht gestürzt wäre, doch er fand keine Antwort.
Es war alles viel zu viel auf einmal.
Schwanger.
Dieses Wort klang noch immer so fremd; so weit weg.
Aber es war unweigerlich ganz nah; näher als nah.
Und es war jetzt an Kai, sich zu überlegen, ob und wie es jetzt weitergehen sollte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top