High
April 2024
Eigentlich hatte Kai mit Jules Handy nur eine S-Bahn Verbindung heraussuchen wollen, mit der er nach diesem nervenaufreibendem Gespräch nach Hause kommen könnte.
Aber jetzt war er ganz woanders hängen geblieben...
Er war aus Versehen auf die Übersicht gekommen, die anzeigte, welche Apps geöffnet waren und dort war ihm eine ganz besonders ins Auge gestochen.
Die Galerie.
Nur ganz klein konnte Kai das Bild erkennen, aber irgendwas in seinem Körper sagte ihm, dass er die App öffnen musste.
Und dann war es da auf einmal; ganz groß.
Ein Bild von Jule als Kind; nicht älter als ein Jahr.
Er saß offenbar in der Badewanne, die nassen Haare, die damals mindestens genauso blond waren, waren zu einer... gewöhnungsbedürftigen Frisur geformt, während sein treuer Blick neugierig in Richtung Kamera ging. Auf dem Bild biss Julian sich leicht auf die Unterlippe und schien den Fakt, dass jemand gerade ein Foto von ihm machte, sichtlich zu genießen.
Wow....
In Kais Kopf drehte sich gerade alles um.
Das war Jule als er klein gewesen war...
Das ist so unfassbar niedlich, dass alles in Kai zu kribbeln begann.
Nicht, dass Jule jetzt nicht auch süß war, aber das... das war ein ganz anderes Level; der Superlativ von süß.
Wie ferngesteuert scrollte Kai weiter zum nächsten Bild, welches ein bisschen später aufgenommen worden sein musste.
Es zeigte Julian, als kleinen Jungen, vielleicht drei oder vier Jahre alt, wie er mit stolzen Lächeln im Gesicht auf einem Krankenhausbett saß und ein kleines Baby in den kleinen Armen hielt; wahrscheinlich ein Neugeborenes.
Das musste sein jüngerer Bruder Jannis sein, von dem Jule schon hin und wieder mal erzählt hatte.
Ein müde aussehender Mann, es musste Jules Vater sein, stand daneben und lächelte stolz auf seine beiden Söhne herab.
Okay, das war noch viel krasser...
Julians überstolzes Lächeln, wie er Jannis in den Armen hielt.
Das war einfach so süß, dass sich in Kai alles zusammenzog.
Er betrachtete das Bild eingehend, versuchte jedes Detail aufzunehmen.
Vorsichtig strich er über den Bildschirm und zoomte gezielt auf Julian.
Die blonden Haare, dieses Lächeln, die kleinen Grübchen, die dabei entstanden...
Jule hatte sich kaum verändert; man erkannte sofort, dass er es war.
Was, wenn...?
Was, wenn ihr Kind mal genauso aussehen würde?
Was, wenn es die gleichen blonden Haare haben würde, bei denen Kai immer nicht anders konnte, als seine Hände darin zu vergraben?
Was, wenn es den gleichen Gesichtsausdruck bekommen würde?
Die gleichen Grübchen und das gleiche Lächeln? Was, wenn ihr Kind ein Mini-Jule werden würde?Was, wenn Jule ihr Kind auch so angucken würde, wie sein Vater es bei ihm und seinem Bruder getan hatte und wahrscheinlich noch immer tut?
Kai musste schlucken, während sein Blick auf dem Bild vor ihm haftete; es brannte sich in seine Netzhaut ein und gerade war er sich absolut nicht sicher, ob das etwas Positives oder etwas Negatives war.
Es passierte einfach; ohne dass Kai etwas dagegen tun konnte.
Auf einmal war da ein ganz neues Bild von Jule in seinem Kopf.
Ein Bild, das Jule mit einem Baby auf seinem Arm zeigte; ihrem gemeinsamen Baby.
Wie Jule das kleine Bündel in seinen Armen sachte hin und her wog, dabei stolz vor sich hin lächelte und hin und wieder leise mit dem kleinen Wesen in seinen Armen sprach.
Plötzlich war dieses Bild da und es stellte Kais gesamte Welt mit seiner puren Existenz, die eigentlich nicht mal real war, auf den Kopf.
Ohne, dass Kai es merkte, fand seine Hand ihren Weg zu seinem Bauch; das hatte er noch nie gemacht. Nicht, seit er von dem Kind in seinem Bauch wusste.
Ein unbeschreibliches Kribbeln durchfuhr Kais Körper, als er seine eigene Hand auf seinem Bauch spürte.
Da war sein Kind; ihr Kind; Kais und Jules Kind.
Das war... Kai wusste es nicht.
Laut ausatmend legte er Jules Handy beiseite und schloss kurz die Augen, während seine Hand auf seinem Bauch ruhte.
Er wusste, dass es nur eine Vorstellung und in keiner Weise real war, aber Kai spürte sich gerade irgendwie... verbunden mit dem kleinen Kind in sich. Es war, als hätte Kai ihm mit seiner Bewegung die Hand gereicht und das Baby hätte sie ergriffen.
Es war ein komisches und wunderschönes Gefühl zugleich.
Und dann, ganz plötzlich, war es da.
Kai wusste nicht, woher es so plötzlich kam, warum es jetzt auf einmal da war, aber es war da.
Es hüllte Kai ein, schien ihn völlig zu umgeben, ihn einzulullen.
Es ließ sein Herz höher schlagen; schon fast unkontrolliert.
Dieses Gefühl von Liebe.
Dieses Gefühl unbändiger Liebe gegenüber dieses kleinen Wesens in seinem Bauch, das er so lange gehasst hatte; oder von dem er sich nicht sicher war, ob es es wollte oder nicht.
Das Wesen, das ihn so sehr aus der Bahn geworfen hatte.
Und jetzt, nach Wochen, nach stundenlangem Weinen und Verzweifeltsein, nach dem schlimmen Streit mit Jule und einfach allem, war sie da.
Die Liebe, die Kais Herz Saltos schlagen ließ und die Liebe, die ihn absolut sicher sein ließ.
Er brauchte keine Zeit mehr, denn er war sicher absolut sicher.
Er wusste jetzt, was er wollte, was die richtige Entscheidung war.
Kai wollte das Kind behalten, er wollte sich und Jule eine Chance geben, er wollte das alles mit ihm zusammen schaffen.
Kai wollte das alles; er wollte es versuchen; mit Jule zusammen.
Er wollte, dass Jule der Vater seines Kindes wird; er wollte sein Leben mit Jule verbringen.
Mit Jule und ihrem Kind; mit niemand anderem.
"Kai?"
Aus seinen Gedanken hochschreckend, schreckte Kai zusammen und sah Jule mit großen Augen an.
"Ist alles gut? Hast du eine Verbindung gefunden?"
Mit verwirrtem Gesichtsausdruck und zusammengezogenen Augenbrauen musterte Jule den Jüngeren, während Kai einen kurzen Moment brauchte, um sich zu sammeln.
Um alle Gedanken, die gerade so ganz plötzlich und unvorhergesehen auf ihn eingeprasselt waren, zu verarbeiten.
Aber er war sich immer noch sicher; so sicher wie er sich vorher noch nie sicher gewesen war.
Er wollte dieses Kind und zwar zusammen mit Jule. Nichts anderes wollte er.
Kai wollte Jule gerade so viel sagen; so verdammt viel, doch das einzige, was seine trockenen Lippen verließ, war ein leises "Ich...", ehe er aufstand und langsam auf den Älteren zuging.
"Was ist los, Harvy?", wollte Jule besorgt wissen," Geht es dir nicht gut?"
Schnell schüttelte Kai den Kopf.
"Es ist alles gut, Jule, ehrlich. Aber... also... wäre es schlimm, wenn ich heute doch noch bei dir bleibe?"
"Ähh.. ja klar", erwiderte der Blonde verwirrt und dennoch mit einem Lächeln im Gesicht.
"Danke."
Langsam kam der Ältere auf seinen Freund zu bis er kurz vor ihm stand und ihm eindringlich in die grünen, müde und dennoch irgendwie anders aussehenden Augen blicken konnte.
"Du darfst immer bei mir bleiben, Kai. Egal wann und wie. Du bist hier immer willkommen."
Verlegen lenkte Kai seinen Blick nach unten.
Wie sollte er das Jule jetzt sagen?
Er war sich sicher, keine Frage.
Er wusste nicht, woher es plötzlich gekommen war, aber es war da.
Dieser Entschluss und die Liebe zu seinem Kind, der Wunsch nach einer Familie.
Es war, als hätten die Bilder von Jule einen Schalter in ihm umgelegt.
"Jule, ich...", begann der Jüngere dann wieder zögernd, doch als ihm keine weiteren Worte einfielen, die auch nur annähernd passten, griff er einfach nach Jules kühler Hand und drückte sie einmal ganz kurz, während er seinen Blick wieder hob.
Seine Augen trafen direkt auf Jules blaue Augen, welche ihn voller Liebe und gleichzeitig mit Besorgnis musterten.
Wahrscheinlich wusste Jule nicht, was Kais Verhalten gerade bedeutete; und Kai konnte es ehrlich gesagt verstehen.
Anstatt noch etwas zu sagen, legte Kai einfach Jules Hand auf seinen Bauch und ließ seine auf dem Handrücken des Älteren ruhen.
Es herrschte eine angespannte Stille, in der Kai jede Veränderung in Jules Gesichtsausdruck beobachtete.
Der Fußballer schaute irritiert; seine Augen huschten schnell hin und her und er schien fieberhaft zu überlegen, was das gerade beduetete.
War das gut?
Oder schlecht?
War das eine Begrüßung?
Oder vielleicht doch ein Abschied?
Oder beides zugleich?
"Kai...", brachte Jule heiser hervor, während seine Augen leicht feucht in Kais blickten.
Dieses Gefühl war... magisch, es war unbeschreiblich.
Aber... was bedeutete das jetzt?
"Ich... ich will das Jule", nuschelte Kai leise," Ich will das alles. Ich will dich und ich will das Kind. Ich will das schaffen; mit dir zusammen."
Jule erstarrte kurz; er brauchte kurz, um das alles zu verarbeiten.
Um zu realisieren, was Kai da gerade gesagt hatte.
Das war kein Scherz, oder?
Das konnte kein Scherz sein.
"Ich... ehrlich?"
Jules Stimme war aufgeregt; unentschlossen, unsicher, einfach alles irgendwie.
Doch Kai nickte nur und drückte Jules Hand, die noch immer auf seinem Bauch lag.
"Ehrlich. Ich möchte das."
"Aber... also wie... warum.. ich meine, so plötzlich, gerade wolltest du doch noch..."
"Ich hab zufällig deine Babybilder auf deinem Handy gesehen, weil ich aus Versehen auf deine Galerie gekommen bin und da... ich weiß nicht. Mir ist klar geworden, dass ich dieses Kind jetzt schon liebe und dass ich das mit dir zusammen schaffen kann."
Julian entfuhr ein lauter, euphorischer Schrei; seine Augen waren weit aufgerissen und seine Mundwinkel zu einem breiten Lächeln nach oben gezogen.
Er entfernte seine Hand von Kais Bauch und schlang seine Arme stattdessen um seinen Oberkörper, um den Jüngeren in seine Arme zu ziehen.
In einer schnellen und, für Kai, überraschenden Bewegung zog Jule seinen Freund hoch und drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse, was Kai zum Kichern brachte und ihm nochmal bestätigte, dass es die absolut richtige Entscheidung gewesen war.
Es war richtig gewesen, sich für das Baby und für Jule zu entscheiden.
"Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich."
Immer und immer wieder verließen diese drei magischen Worte Jules Lippen und lösten in Kai ein wohliges Kribbeln aus.
"Ich liebe dich auch, mein Jule", flüsterte er leise, nachdem er wieder festen Boden unter den Füßen hatte," Ich liebe dich so sehr."
Und dann legte er seine Lippen auf die des Blonden und verwickelte ihn so in einen zarten und dennoch so gefühlvollen und bedeutsamen Kuss.
Den Kuss erwidernd, legte der Ältere seine Hände wieder auf Kais Bauch und wow...
das war noch krasser, als er es sich vorgestellt hatte.
Natürlich hätte er Kai auch unterstützt, wenn er sich gegen das Baby entscheiden hätte, aber das hier war ein ganz anderes Level.
Eine Gänsehaut überzog Jules blasse Haut, sein Herz schlug höher als nach jedem Sprinttraining, das er jemals absolviert hatte.
Noch nie hatte er sich besser gefühlt.
So musste es sich anfühlen, wenn man high war.
Und im Grund genommen war Jule auch high.
Von Liebe, Erleichterung, Vorfreude.
Das war wie eine Droge für ihn und wenn er ehrlich war, wollte er dieses Gefühl, das er gerade fühlte, nie wieder missen.
Sie würden eine kleine Familie werden.
Er, Kai und ihr Baby.
Dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich.
Jule war überglücklich und Kai auch.
Sie könnten beide nicht glücklicher sein, auch wenn sie beide wussten, dass es noch einiges zu klären gab.
Die Öffentlichkeit, Kais Studium...
All das waren offene Fragen zur Zeit.
Aber sie hatten sich entschieden und sie waren einfach nur glücklich.
Alles andere würde sich finden...
Das wusste Jule ganz sicher.
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