[𝟓] 𝐖𝐚𝐬 𝐢𝐬𝐭 𝐋𝐢𝐞𝐛𝐞?

Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Ich machte mir Vorwürfe. Ich war so naiv gewesen. Hatte ich wirklich gedacht, es könnte sich etwas ändern? Dass Leonardo mir geschickt wurde, um diesem Leben zu entkommen? Das, was ich mir zwischen Leonardo und mir vorgestellt hatte, war nichts weiter als ein Hirngespinst. Es war ein Märchen. Zu schön, um wahr zu sein. Nichts Reales. Es schmerzte in meiner Brust zu wissen, dass es niemals dazu kommen würde. Dass ich nie erfahren würde, was es heißt, wirklich zu lieben und wirklich geliebt zu werden. Was ist Liebe?

Schon von weitem erkannte ich schon Ians Auto und jedes einzelne Haar auf meinem Körper stellte sich auf. Eine lähmende Kälte umhüllte mich augenblicklich. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, Leonardo weinend in die Arme zu springen und ihn zu bitten, zu verschwinden und mich mitzunehmen. Aber ich kannte Leonardo nicht. Und in diesen Alptraum, in mein Leben, wollte ich ihn einfach nicht mit hineinziehen.

Die jetzige Situation, alles, was mir in dieser Nacht noch widerfahren sollte, wird mir eine Lehre sein. Es wird mir zeigen, dass ich keine Hoffnung haben durfte. Dass ich keinen Gedanken an Freiheit und Unabhängigkeit verschwenden durfte. Sondern dass ich das alles schlucken musste. Es gab keinen Ausweg. Niemals. Wie oft musste Ian mir noch wehtun, bis ich das endlich begriff?

»Na?«, schrie Ian, stieg aus seinem Auto und knallte wütend die Autotür zu. Das tat er sonst nie mit seinen Autos. Er passte gut auf sie auf und war immer vorsichtig. Er schlug nie Autotüren zu. Daran erkannte ich, wie sauer er war. Er kam auf mich zu, packte mich am Oberarm und zog mich mit sich. Dass um uns herum Leute und Security-Männer standen, blendete er vollkommen aus.

»Hatte unsere Prinzessin viel Spaß bei ihrem geheimen Ausflug? Hm?« Ich traute mich nicht einmal, ihm in die Augen zu schauen. Zu groß war meine Angst vor ihm. Ich atmete tief ein und aus und ließ mich mitziehen. Ließ zu, dass er mich unsanft in den Beifahrersitz drückte und schon wieder die Tür zuknallte. So schnell war er schon lange nicht mehr gefahren. Ich hatte so unglaubliche Angst vor Ian, dass ich kein einziges Wort über meine Lippen brachte. Ganz im Gegenteil, mein Mund war wirklich staubtrocken. Ich hatte das Gefühl, als wären mir die Worte ausgegangen. Und der Schmerz in mir breitete sich in Sekundenschnelle aus. Es tat weh zu wissen, dass ich mich nicht wehren konnte. Dass ich ihm nicht entkommen konnte. Verdammt, es tat weh, gefangen zu sein. Es löste eine Leere in mir aus, die mich von Tag zu Tag immer mehr erfüllte. Es war schrecklich.

»Vorhin konntest du noch reden, konntest mir noch ins Gesicht lügen. Und jetzt hältst du deinen Mund? Jetzt sagst du nichts mehr?« Ich hatte tatsächlich nichts zu sagen. Es gab nichts, was ich sagen konnte, um die Situation zu verbessern oder ihr zu entkommen. Ich hatte Ian belogen und das auf übelste Art und Weise. Und das, obwohl ich eigentlich nicht so war. Ich log Ian nicht an. Ich log generell nie. Ich war brav, hörte darauf, was er sagte und gab ihm keinen Grund, mir weh zu tun. Aber heute habe ich es übertrieben. Und das war aus meine Schuld.

»Es tut mir leid«, murmelte ich und musste schlucken, als er nach rechts lenkte und mitten auf der Straße anhielt. Um uns herum war nichts außer Natur, nicht einmal ein Auto fuhr auf diesem Feldweg. Ich bekam Angst, traute mich aber nicht, zu Ian anzusehen. »Es tut dir leid? Was tut dir leid?« Ian packte mich am Gesicht und drehte meinen Kopf in seine Richtung. Er drückte fest zu.

»Dass du feiern warst? Dass du mich angelogen hast und gesagt hast, Amelia wäre schwanger? Oder, dass du aussiehst wie eine gottverdammte Nutte?«

Stille folgte und ich dachte darüber nach, was er mir an den Kopf geworfen hatte. Ich wusste, wie Ian war. Ich wusste, dass ich ihn nicht provozieren oder wütend machen durfte. Doch ich wollte das nicht mehr. Ich wollte dieses traurige Leben nicht mehr. Ein Leben, das mir Angst machte. Das nur noch eine Last für mich war.

»Antworte mir!« Seine Hand traf meine Wange. Einmal. Und dann, nach einer kurzen Pause, erneut. Schmerz durchströmte durch jede Ader meines Körpers. Mein Verstand war in Alarmbereitschaft und riet mir, einfach wegzulaufen. Mein Körper jedoch zitterte. Ich konnte mich keinen einzigen Millimeter bewegen. »Es tut mir doch leid.« Meine Stimme klang brüchig. Und ich konnte nichts dagegen tun. Zu groß war der Kummer, der mich erfasst hatte. Ich war zu schwach, um mich ihm zu widersetzen. Zu kaputt, um zu versuchen, mich zu wehren. Ich war in ein tiefes, tiefes Loch gefallen. Und Ian war derjenige, der mich jeden Tag aufs Neue in dieses Loch stieß.

»Deine Entschuldigung bringt mir nichts. Gott, du bist so anstrengend. Du machst nur Probleme«, fluchte er, während er sich mit seiner Hand über das Gesicht fuhr. »Ich wollte doch nur ein einziges Mal raus. Ian, bitte. Ich habe dich sonst noch nie angelogen«, erklärte ich verzweifelt, während mir die ersten Tränen über mein Gesicht liefen. Und dann war es wie immer, ich musste weinen. Ich konnte mir diesen Schmerz nicht unterdrücken. Eigentlich sollte ich mich längst an diese Situation gewöhnt haben. Stattdessen überwältigten mich meine Gefühle ein weiteres Mal. Eigentlich taten sie das immer wieder. Und ich wusste nicht wirklich, ob das gut oder schlecht war. Einerseits zeigte ich Ian damit, wie schwach ich wirklich gewesen war. Andererseits zeigten meine Gefühle mir, dass ich noch lebte und innerlich nicht völlig tot war. Meine Gefühle, der Schmerz, den Ian mir zufügte und die Traurigkeit, die er auslöste, waren der einzige Beweis dafür, dass ich ein Mensch war. Denn ich fühlte mich mittlerweile leer.

Plötzlich packte Ian meine Haare und zog mich unsanft zu sich heran. Ich wollte ihm nicht so nah sein. Am Liebsten hätte ich geschrien, weil ich das Gefühl hatte, er würde mir gleich die Haare rausreißen würde. Aber kein Schrei kam aus mir heraus. Kein Laut. Ich war still. »Es ist mir egal, was du wolltest. Du hörst mir jetzt ganz genau zu«, brummte er wütend, während meine Tränen nur so kullerten. »Wenn du mich noch einmal anlügst, sorge ich dafür, dass du nie wieder Tageslicht siehst. Du hast Glück, dass am Donnerstag das Sommerfest ist, denn ich würde dir jetzt am liebsten wehtun. Du undankbares Miststück«, sagte er und wurde immer lauter und wütender. Ich hingegen zitterte und zuckte bei jedem seiner Worte zusammen. »Du kannst froh sein, dass du überhaupt etwas von mir bekommst.«

Endlich ließ er mich los. So schnell wie möglich rückte ich von ihm weg, konnte aber nicht verschwinden, schließlich saß ich neben ihm im Auto. Ich war praktisch gefangen. »Okay«, murmelte ich. Ian fuhr wieder los. Die restliche Fahrt über sprachen wir kein Wort mehr. In meinem Kopf herrschte Chaos und ich hatte keine Sekunde Ruhe. Gedanken schwirrten in meinem Kopf hin und her, ließen mich nicht mehr in Ruhe. Ich bekam pochende Kopfschmerzen und wollte nur noch in mein Bett. Ian würdigte mich keines Blickes mehr. Selbst als wir zu Hause waren, mied er mich. Ich ertrug diese Situation nicht, aber es war besser als sonst. Sonst schlug er auf mich ein, so als wollte er mich töten. Doch jetzt ließ er mich in Ruhe. Und der einzige Grund dafür war tatsächlich das Sommerfest. Wenn er mir weh tun würde, würde er Spuren hinterlassen. Und wenn das jemand sehen würde, wäre er geliefert. Das konnte er sich an so einem Tag nicht erlauben.

Denn einmal im Jahr fand das wichtigste Treffen überhaupt statt. Ian organisierte ein Sommerfest in der Bank. Er lud die ganze Stadt ein, wichtige Kollegen und Kunden, wichtige Partner, organisierte Essen und Live-Musik. Auch meine Eltern würden da sein. Und jetzt, wo es mir einfiel, geriet ich in Panik. Ich musste einen ganzen Tag wieder ein Lächeln aufsetzen und so tun, als wäre mein Leben perfekt. Und auch Ian würde sich von seiner besten Seite zeigen. Eine Seite, die ich praktisch gar nicht kannte. Eine Seite, die nur gespielt war.

Während ich mich im Badezimmer abschminkte und in den Spiegel schaute, wurde ich traurig. Ich schaute mich an und erkannte mich nicht wieder. Mein Gesicht hatte jegliches Leben verloren. Ich sah blass aus, kaputt. Es gab nichts Liebenswertes mehr an mir. Meine Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Früher hatte ich mir mein Leben anders vorgestellt. Ich träumte von einem liebenswerten Ehemann und drei kleinen Kindern. Ich wollte immer zwei Jungs und ein kleines Mädchen. Ich wollte ihnen ein normales Leben schenken und alles anders machen als meine Eltern. Und jetzt? Jetzt vermied ich diesen Gedanken. Dieser Traum war schon vor Jahren geplatzt. Und jedes Mal, wenn ich daran dachte, wurde ich nur noch trauriger.

Als ich mein Gesicht abtrocknete, vibrierte mein Handy. Seufzend schaute ich noch ein letztes Mal verloren in den Spiegel, ehe ich mein Handy in die Hand nahm und feststellte, dass mich eine anonyme Nummer anrief. Ich zögerte noch ein paar Sekunden, dann hatte der Anrufer längst aufgelegt. Ich wurde stutzig.

Drei neue Nachrichten sprangen mir direkt vor die Nase. Und mein Herz blieb kurz stehen.

So schnell gebe ich nicht auf, Bella

Ich hoffe, dass du das weißt

Wir werden uns wieder sehen, Amore Mio

Ich wusste sofort, wer mir diese Nachrichten schrieb. Woher er jedoch meine Nummer hatte, wusste ich nicht. Aber ich konnte das nicht zulassen. Das durfte ich nicht. Leonardo wusste nicht, mit wem er sich anlegen würde. Er wusste nicht, dass Ian nicht normal war. Und dass, wenn er es herausfindet, wir beide in großer Gefahr sein könnten. Mein Herz wollte genau das. Mein Herz wollte zu Leonardo. Mein Körper wollte seinen spüren. Ich wollte wissen, wie es ist, geliebt zu werden. Ich würde viel dafür geben, Leonardos Wärme noch einmal um mich herum zu spüren. Nichts wünsche ich mir mehr als Geborgenheit. Sicherheit. Schutz. Aber das würde ich nicht bekommen. Niemals. Und ich durfte nicht zulassen, dass Leonardo mir diese Dinge versprach. Je näher ich Leonardo heranlassen würde, desto größer wäre die Enttäuschung. Und das konnte ich nicht ertragen. Also löschte ich so schnell wie möglich die Nachrichten und legte mich schlafen. Ich brauchte Kraft für morgen. Die nächsten Tage. Wochen. Jahre. Ich brauchte Kraft für dieses erbärmliche Leben. Das Letzte, an das ich dachte, war die schöne Vorstellung, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. (1746 Wörter). 

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