[𝟔] 𝐒𝐨𝐦𝐦𝐞𝐫𝐟𝐞𝐬𝐭

Die nächsten Tage vergingen nur langsam. Während ich die meiste Zeit für die Uni lernte oder ein Buch las, versuchte ich eine Sache ganz besonders. Leonardos Anrufe zu ignorieren und ihn zu vergessen. Seit dem erfolglosen Abend mit Amelia im Club hatte ich mich nicht getraut, Ian nochmal anzulügen oder ihm zu widersprechen. Jedes Mal, wenn Leonardo sich unerlaubt in meine Gedanken schlich, schüttelte ich unmerklich den Kopf und versuchte, ihn aus diesen zu verbannen. Doch es ging einfach nicht. Diese sorgfältige Art und Weise, in der er mit mir umging, war mir im Gedächtnis geblieben. Er war ein aufrichtiger Mann - respektvoll und beschützend. Ich konnte einfach nicht vergessen, wie nah wir uns nach so kurzer Zeit gewesen waren. Es war schwer zu verdrängen, wie warm die Luft zwischen uns gewesen ist und wie sehr ich mich nach ihm sehnte. Doch ich versuchte mir einzureden, dass ich Leonardo nicht mochte, sondern nur seine Aufmerksamkeit, weil ich sie von meinem Ehemann nicht bekam. Und das machte es erträglicher.

Ich vermisse Leonardo nicht, redete ich mir jeden Abend aufs Neue ein. Ich kenne ihn ja gar nicht.

Ian sprach nicht wirklich mit mir. Die meiste Zeit blickte er mich so hasserfüllt an, dass ich auch dachte dass wäre besser so. Oder er ging mir einfach aus dem Weg. Ich kämpfte mit einer Angst, die ich nicht beschreiben konnte. Jedes Mal, wenn Ian vom Tisch aufstand oder sich auch nur bewegte, zuckte ich zusammen. Die Angst vor ihm war groß und die Tatsache, dass er so aussah, als würde ich mir jeden Moment gerne eine verpassen wollen, machte die Situation nicht besser. Heute war Ian besonders schlecht gelaunt, aber das lag zum ersten Mal nicht an mir. Es lag daran, dass heute Abend das Sommerfest stattfand und er seit heute Morgen nur von A nach B lief. Bisher hatte er noch keinen Moment für sich gehabt und versank förmlich in den ganzen Vorbereitungen. Also half ich, wo ich nur konnte, auch wenn er mich nicht darum gebeten hatte. Für ihn war das einfach selbstverständlich. Und ich hatte sowieso nichts Besseres zu tun.

Gerade waren wir dabei, die Tische zu schmücken. Katy – eine Mitarbeiterin aus der Bank – und ich unterhielten uns, während wir die frischen Blumen in die schönen, goldenen Vasen steckten und auf den Tischen verteilten. Das Wetter war perfekt und ich war froh darüber, denn ich wollte nicht wissen, wie Ian drauf wäre, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen laufen würde. »Möchtet ihr nicht bald Kinder haben?«, war die nächste Frage von Katy. Wir redeten schon seit einer Stunde über Gott und die Welt. Aber mit dieser plötzlichen Frage hatte ich nicht gerechnet.

Auf gar keinen Fall, schoss es mir gedanklich durch den Kopf. Und glücklicherweise sah Ian das genau so. Er hasste Kinder. Vor vielen Jahren, als ich noch unbeschwert und glücklich Zuhause lebte und von Ian und meiner Zukunft noch nichts ahnte, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als später einmal eine Familie zu gründen. Ich wollte Kinder. Aber ich wollte auch einen wundervollen Ehemann. Und all das würde ich nie bekommen. »Ich beende erst einmal mein Studium«, kam es aus mir heraus, dumpfer als erwartet. Ich räusperte mich, setzte dann jedoch ein unechtes Lächeln auf, um die Stimmung nicht zu verderben. »Aber es spricht natürlich nichts dagegen. Ich liebe Kinder«, murmelte ich vor mich hin und nahm eine weitere, weiße Rose in die Hand. Die Dinge, die dagegen sprachen, wollte ich jetzt nicht auflisten.

»Meine kleine Lila ist jetzt schon drei. Und jeder Tag ist für mich der schönste auf Erden. Sie ist ein Geschenk.«

An der Art, wie sie diese wunderschönen Worte aussprach, erkannte ich, dass sie ernst gemeint waren. Die Liebe einer Mutter ist stärker als alles andere auf dieser Welt. Und Lila hatte definitiv eine gute Mutter. Ich hingegen sprach kaum ein Wort mit meiner. Meine Mutter hatte mich im Stich gelassen, als ich sie am meisten brauchte. Ich erinnerte mich vage an den Abend, an dem ich von der arrangierten Ehe erfuhr. Ich weinte stundenlang. Sie schaute mich den ganzen Abend nicht einmal an. Sprach nicht mit mir. Sie ließ mich schweigend leiden. Der Schmerz, den sie mir an diesem Tag zufügte, war unerträglich. Nichts hätte ich mir mehr gewünscht als ihre Unterstützung. Eine Hand, die meine hielt. Aber ich blieb alleine zurück. Und das Einzige, was ich mittlerweile von meiner Mutter bekam, war ein Anruf zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Die Tatsache, dass sie später hier sein würde, machte mich sogar etwas nervös. Und von meinem Vater wollte ich gar nicht erst anfangen.

»Das glaube ich dir«, erwiderte ich und lächelte – diesmal sogar ehrlich. »Das klingt wunderschön.« Katy wollte gerade etwas sagen, als mein Telefon klingelte. Zum dritten Mal in dieser Stunde. Ohne, dass ich auf mein Handy blickte, wusste ich, wer mich anrief. Innerlich zog sich alles in mir zusammen. »Da will wohl wirklich jemand mit dir sprechen, hm?« Katy kicherte und verteilte weitere Blumen auf den Tischen. Ich entschuldigte mich mit den Worten »Tut mir leid, bin gleich wieder da«, und ging ein Stück weiter. Ich schaute mich vorsichtshalber um. Wenn Ian mich hören würde, wäre ich erledigt.

»Hör auf damit«, giftete ich in den Hörer, ohne vorher auch nur eine freundliche Begrüßung in Erwägung ziehen. Am anderen Ende ertönte ein raues Lachen und mir würde mein Herz aufgehen, wenn nicht alles strikt dagegen spräche.

»Dir auch hallo, principessa«, erwiderte er und ich hätte am liebsten vor Freude losgeschrien, aber ich musste mich zurückhalten. Er verstand einfach nicht, dass ich mich von ihm fernhalten wollte. Oder besser gesagt musste. Was ich wollte, stand gar nicht zur Debatte.

»Du kannst mich nicht ständig anrufen. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich einen Mann habe«, erklärte ich erneut. Er wusste genau so gut wie ich, dass ich Ian nicht liebte. Aber das änderte nichts an der Tatsache. Es war so, wie es war.

»Eigentlich würde ich nicht sagen, dass er ein Mann ist. Er ist eher...« Er hielt kurz inne und lachte dann leise in den Hörer rein. »Ein Weichei mit viel zu viel Geld und einer viel zu hübschen Frau.« Leonardo hatte es geschafft, dass ich mich innerhalb von zwei Minuten besser fühlte und ich ließ mich zu einem ehrlichen Lächeln hinreißen. Ich wusste, dass er recht hatte. Umso glücklicher war ich, dass er mein Lächeln nicht sah und damit auch nicht wusste, dass ich ihm recht gab. Er sollte denken, dass ich Ian liebte. Und auch wenn ich wusste, dass er mir diese Lüge nicht mehr abnahm, wollte ich standhaft bleiben. Meinem Gewissen zuliebe.

»Leonardo«, murmelte ich in den Hörer und malte mir innerlich sein Gesicht aus. Seine göttlichen Züge. Seine unfassbar durchdringenden braunen Augen. Ich erinnerte mich an seinen Duft. Diese Erinnerungen trafen auf mich ein wie warme Sonnenstrahlen und mir wurde automatisch wärmer.

»Bella.«

»Du weißt, dass du mich nicht ständig anrufen kannst, oder?«, fragte ich erneut, diesmal etwas leiser. Immer wieder blickte ich mich um und schaute, ob mich jemand hören konnte. Ich wollte doch nur, dass er verstand, dass er mich damit in den Wahnsinn trieb – und meine Gefühle und mein ohnehin unerträgliches Leben auf den Kopf stellte.

»Aber ich vermisse deine Stimme«, sagte er und schon wieder seufzte ich. Würde er jetzt vor mir stehen und das zu mir sagen, wäre ich wahrscheinlich eingeknickt. Aber ich versuchte weiterhin alles, um ihm nicht zu verfallen. Falls das nicht schon längst passiert ist.

»Das ist absurd. Wir kennen uns noch nicht einmal eine Woche«, entgegnete ich und schon wieder war es für einen Moment still. Sag etwas, flehte ich gedanklich. Ich vermisse deine Stimme nämlich auch.

»Ich vermisse auch alles andere an dir«, fuhr er fort und ich schloss die Augen. Diese Worte waren nur an mich gerichtet und was sie in mir auslösten, war nicht in Ordnung.

»Nein, tust du nicht. Hör auf damit.« Ich war wehrlos. Ich war ihm ausgeliefert. Gott, ich wollte ihn so sehr, dass es geradezu schmerzte. Wie konnte das nur sein? Wie war das möglich? War ich wirklich so furchtbar verzweifelt?

»Ich mag es außerdem nicht, dass du mich ignorierst«, erklärte er nach einer kurzen Pause. »Aber ich finde es niedlich, wie du versuchst, mir aus dem Weg zu gehen. Normalerweise liegen die Frauen mir zu Füßen, ohne, dass ich mich anstrengen muss.«

Ein Schmunzeln zeichnete sich auf meinem Gesicht ab. Wenn mich Ian jetzt sehen würde, würde er bemerken, wie idiotisch ich lächelte. Ich würde mich allein durch meine Mimik verraten, da war ich mir sicher.

»Ist das so?«, fragte ich nach.

»Und wie.«

Ich kicherte.

»Dann musst du wohl damit klarkommen, dass ich die erste Frau bin, die dich nicht will.«

Wieder Stille.

»Nein, du willst mich, da bin ich mir sicher. Du bist nur die erste Frau, die mir ein Rätsel ist. Ich mag Herausforderungen und ich habe sie schon angenommen, als ich dich das erste Mal traf.« Ich gab Leonardo keine Antwort, denn ich war mir ziemlich sicher, dass er keine brauchte. Er hatte recht.

»Wir sehen uns später«, sagte er zu meinem Erstaunen. »Ich komme nämlich auch zu diesem langweiligen Sommerfest.«

Gerade als ich ihn am liebsten angeschrien und ihm das Komme ausgeredet hätte, legte er auf. Er ließ mich ohne ein weiteres Wort stehen. Eine mir unbekannte Hitze stieg in mir auf und ich wurde nervös, sobald ich daran dachte, dass ich Leonardo auf dem Sommerfest wiedersehen würde. Mein Magen zog sich zusammen und zum ersten Mal an diesem Tag hinterfragte ich mein Outfit. Ich wollte losrennen und verschwinden. Gleichzeitig wollte ich jedoch bleiben und konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Ich war total verwirrt.

»Willst du den ganzen Tag da rumstehen?« Ians Stimme riss mich aus meiner Verzweiflung und ich packte schnell mein Handy ein. Ich musste sofort auf die Toilette und alle Anrufe löschen. »Tut mir leid, ich brauchte fünf Minuten«, murmelte ich etwas leiser und beobachtete Ian. Er drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand in der Bank, während ich wieder zu Katy ging. Wir unterhielten uns noch eine Weile, , während wir weiterhin alles vorbereiteten. Nachdem die Location soweit fertig geschmückt war, fuhren Ian und ich nach Hause. Es war zwar noch Mittag, aber wir würden uns wohl nur kurz umziehen und dann gleich wieder losfahren. Ich war nicht nur gestresst, weil ich heute noch so viel vorhatte und den ganzen Abend so tun musste, als wäre ich die glücklichste Frau der Welt. Mich stresste vor allem, dass ich auch noch vor Leonardo so tun musste. Und das, obwohl ich das Gefühl hatte, diesem Mann nichts mehr vormachen zu können. Er hatte direkt bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Und an jenem Abend in seinem Club bröckelten die Mauern, die ich um mich herum errichtet hatte, um mich zu schützen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie fielen. Und dann wäre ich endgültig verloren.

Während Ian duschte, schaute ich noch einmal kurz auf mein Handy. Als ich Leonardos Nachricht entdeckte, hielt ich automatisch den Atem an.

»Zieh etwas Rotes an«

»Rot ist meine Lieblingsfarbe«

Ich brauchte nicht lange, um meine Antwort zu tippen. »Das wünschst du dir wohl«

Er kam online und schrieb. Schon kam eine neue Nachricht. »Ich wünsche mir eher, dass du es danach ausziehst«

Wieder blieb mir die Luft im Hals stecken und ich hätte wahrscheinlich jedem anderen Mann dafür eine geknallt. Stattdessen stieg keine Wut in mir auf. Ich schluckte, weil diese Worte etwas ganz anderes in mir auslösten.

»Das wird nicht passieren. Ich habe doch gesagt, dass ich dich nicht will«

»Aber ich will dich«, lautete die Nachricht, bevor er wieder anfing zu schreiben und mein Handy erneut vibrierte. »Und ich bekomme immer was ich will«

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