Richtigstellung - Kevin
Kevins PoV
Pierre blieb während der Wartezeit, die sich ewig anfühlte, bei mir. In der Cafeteria hatte ich es noch geschafft, ruhig sitzen zu bleiben. Nun lief ich jedoch unruhig im Gang umher. Pierre ließ mich dabei nicht aus den Augen. Jedes Mal, wenn ein Arzt oder eine Krankenschwester auf uns zukam, blieb ich stehen, nur um dann zu beobachten, wie sie an uns vorbei gingen.
"Mr. Magnussen", wurde ich schließlich angesprochen, weswegen ich herum wirbelte. Der Arzt, der bei Nicos Einlieferung Dienst gehabt hatte und dem zu verdanken war, dass Nico noch lebte, war bei uns stehen geblieben. Pierre stand von der Bank, auf der er Platz genommen hatte, auf und trat an meine Seite. "Ich habe gerade mit meinem Kollegen gesprochen, der die Operation durchgeführt hat", begann der Arzt ruhig zu erklären. Angespannt lauschte ich seinen Worten, wobei ich haltsuchend nach Pierres Arm griff und mich an diesen festkrallte. "Die Operation ist sehr gut verlaufen."
"Aber?", brachte ich heraus, weswegen der Arzt mich irritiert ansah.
"Wieso sollte es ein aber geben?"
"Man hat mir gestern eine deutlich längere Operationsdauer genannt. Wieso wurde die OP so früh beendet?"
"Es kann immer mal zu Komplikationen kommen, die nicht immer tragisch sind, aber trotzdem die Dauer der OP verlängern können. Damit die Angehörigen sich nicht sofort Sorgen machen, weil es ein paar Minuten länger dauert, geben wir gerne mal eine längere Dauer an. Wir sind lieber früher fertig, als mitteilen zu müssen, dass es länger dauert."
"Nico geht es also gut?", versicherte ich mich. Lächelnd nickte der Arzt.
"Er ist, während ich mich mit dem Chirurgen ausgetauscht habe, bereits von der Narkose aufgewacht und wird gerade zurück ins Zimmer gebracht. Wie gesagt, die Operation ist gut verlaufen und wir sind optimistisch, dass die Lähmung behoben werden konnte. Die Schwellung wird noch etwas abklingen müssen, dann wird sich zeigen, ob wir erfolgreich waren. Das kann ein paar Tage dauern, manchmal reichen auch schon einige Stunden, bis erste Anzeichen eintreten."
"Danke." Erleichtert atmete ich auf. "Darf ich zu ihm?"
"Natürlich. Er wird von der Narkose noch ziemlich erschöpft sein und vielleicht bereits wieder schlafen, aber das ist völlig normal. Wir werden jetzt alle etwas Geduld haben müssen. Wenn etwas sein sollte, sagen Sie einfach Bescheid. Ansonsten schaue ich später nochmal vorbei." Er schenkte mir noch ein aufmunterndes Lächeln, ehe er uns allein ließ und ich mich Pierre zuwandte, dessen Arm ich nun auch wieder los ließ. Bevor ich etwas sagen konnte, ergriff der Franzose das Wort.
"Na geh schon. Wir können wann anders weiterreden." Ich machte mich auf den Weg zum Krankenzimmer, stoppte zuvor jedoch nochmal bei der Information. Die Krankenschwester blickte dieses Mal sofort von den Unterlagen auf.
"Tut mir leid wegen gerade. Ich ..." Sie unterbrach mich mit einem Lächeln.
"Alles in Ordnung. Ich hab hier schon schlimmeres erlebt." Ich erwiderte ihr Lächeln, ehe ich meinen Weg durchs Krankenhaus fortsetzte und wenig später das bereits bekannte Zimmer betrat.
Anders als erwartet, war Nico wach. Seine Augen waren jedoch nur einen spaltbreit geöffnet und schienen jeden Moment zu zufallen. Lächelnd setzte ich mich auf die Bettkante, lehnte mich zu ihm runter und platzierte einen Kuss auf seiner Schläfe.
"Schlaf etwas. Ich bleib hier und pass auf dich auf."
"Ich brauch keinen Babysitter", nuschelte Nico träge, wobei er leicht schmunzelte.
"Pech, jetzt hast du einen." Sanft strich ich ihm durch die Haare. Nico fielen die Augen zu.
"Will nicht schlafen. Ich ..." Ein Gähnen unterbrach seinen Satz. "Ergebnis", nuschelte er undeutlich.
"Die OP lief gut. Die Ärzte sind optimistisch. Die Schwellung muss noch abklingen, dann wissen wir mehr. Wir müssen also noch etwas Geduld haben und die Zeit kannst du fürs Schlafen nutzen", fasste ich das Wichtigste knapp zusammen. Ohne die Augen nochmal zu öffnen, nickte Nico leicht. Ich lehnte mich noch einmal zu ihm runter, um einen sanften Kuss auf seinen Lippen zu platzieren. "Ich liebe dich", flüsterte ich ihm zu. Als Antwort erhielt ich nur noch ein Lächeln, ehe Nico scheinbar eingeschlafen war.
Einen Moment lang saß ich einfach auf der Bettkante, strich dem Deutschen weiter durch die Haare und sah ihm beim Schlafen zu. Erst als ich mir sicher war, dass er wirklich tief und fest schlief, wagte ich es aufzustehen und den Raum zu verlassen. Da ich nicht zu weit weg gehen wollte, blieb ich im Gang stehen und griff nach meinem Handy, um irgendeinen der Verantwortlichen bei Haas zu erreichen. Die unzähligen verpassten Anrufe und ungelesenen Nachrichten ignorierte ich dabei komplett.
Schneller als erwartet nahm unser Teamchef, Ayao, den Anruf entgegen.
"Kevin", begann er unser Gespräch mit einem erleichterten Aufatmen. "Hast du eigentlich eine Ahnung, wie oft wir versucht haben dich zu erreichen? Ich vermute, du weißt es schon?" Er schien die richtigen Worte zu suchen. "Mit Nico."
"Hat Egle euch das erzählt?", versuchte ich in Erfahrung zu bringen, wer die Lüge über Nicos Tod verbreitet hatte.
"Ja. Sie ist völlig aufgelöst. Verständlich." Ich schnaubte verächtlich. "Wo bist du? Zuhause?"
"In Miami."
"Kann ich irgendwas für dich tun? Ich weiß, dass Nico und du euch ziemlich nah standet. Was passiert ist, ist schrecklich und ..." Ich unterbrach Ayao.
"Nico ist nicht tot." Für einen Moment herrschte Stille.
"Kevin...", setzte er vorsichtig an. "Ich kann es auch noch nicht glauben, aber ..." Ein weiteres Mal ließ ich ihn nicht aussprechen.
"Nico lebt."
"Egle war bei ihm. Sie war da, als die Maschinen abgestellt werden mussten."
"Die Maschinen mussten nicht abgestellt werden, sondern sie wollte es so. Und sie war auch nicht bei ihm, sondern ich. Egle ist abgehauen, als die künstliche Beatmung beendet wurde. Ich bin bei Nico geblieben."
"Kevin, vielleicht sollten wir ...", versuchte Ayao zu mir durchzudringen, doch redete ich einfach weiter.
"Ich war bei ihm, als er aufgewacht ist und einer künstlichen Beatmung zugestimmt hat. Ich war bei ihm, als er von der Lähmung erfahren hat. Und ich war auch bei ihm, als er erfuhr, dass die Operation an der Wirbelsäule gut verlaufen ist und es Hoffnung besteht, dass er wieder Laufen kann. Egle hat keinen Beweis dafür, dass Nico tot ist, weil er lebt. Es gibt keine Sterbeurkunde, weil er nicht gestorben ist. Ich habe vor wenigen Minuten mit ihm gesprochen. Nico lebt verdammt nochmal. Also sorg bitte dafür, dass diese Lüge schnellstmöglich aus dem Internet verschwindet."
"Und du bist dir sicher?", hakte mein Teamchef zögerlich nach.
"Ja, Ayao, ich bin mir zu hundert Prozent sicher. Wie gesagt, ich habe gerade mit ihm gesprochen. Anders als Egle bin ich nämlich bei ihm im Krankenhaus und verbreite nicht irgendwelche geschmacklose Lügen. Nico lebt. Er schläft gerade, sonst könnte ich ihn dir auch geben."
"Aber wieso sollte Egle solche Lügen erzählen?"
"Weil sie nicht damit klar kommt, dass Nico sich von ihren scheiden lassen wollte. Mag sein, dass er für sie gestorben ist, was mir auch ganz recht wäre, aber für die restliche Welt lebt er noch."
"Ich sorg dafür, dass der Post gelöscht wird und dann müssen wir uns irgendwas überlegen, wie wir das wieder gerade biegen. Die Falschmeldung über Nicos Tod wird sich rasend schnell verbreiten. Das werden wir nicht verhindern können. Wir können lediglich eine Richtigstellung posten und hoffen, dass diese sich mindestens genauso schnell verbreitet. Hat Nico sein Handy?"
"Nico soll etwas posten?", hakte ich ungläubig nach.
"Ja, okay, war ne dumme Idee. Nico soll sich jetzt erstmal auf seine Genesung konzentrieren. Um den Rest kümmern wir uns. Aber vielleicht magst du uns ja etwas aufm laufenden halten."
"Mach ich." Wir verabschiedeten uns noch von einander, ehe ich zu Nico ins Zimmer zurückkehrte.
Ich verbrachte die darauffolgenden Stunden damit auf dem Besucherstuhl neben Nicos Bett zu sitzen und meine Nachrichten durchzuschauen. Auf die meisten antwortete ich jedoch nicht. Ayao würde sich um die Richtigstellung kümmern, somit konnte ich mir diese Mühe sparen. Zudem konnte ich nicht einschätzen, wie oft ich diese Diskussion führen könnte, ohne vor Wut zu explodieren. Die Anrufe, die in der Zeit eingingen, drückte ich weg.
Bis ein ganz bestimmter Anruf einging, der mich erstarren ließ. Nicos Vater rief über einen Videoanruf an. Ich blickte zu Nico und zuckte zusammen, als dieser die Augen geöffnet hatte. Müde lächelte er mich an.
"Ein super Babysitter bist du", merkte er an.
"Dein Vater ruft mich gerade an", informierte ich ihn. "Keine Ahnung, was Egle ihm erzählt hat. Er könnte denken, dass du tot bist. Ich gehe ran. Einverstanden?" Nico, der sofort ernst wurde, nickte. Daraufhin nahm ich den Videoanruf entgegen. Dabei hielt ich das Handy jedoch so, dass man Nico nicht sah. Sollte Egle ihm die gleiche Lüge erzählt haben, wollte ich ihn vorwarnen und ihn nicht einfach seinen möglicherweise noch totgeglaubten Sohn im Hintergrund sehen lassen.
Irritiert blinzelte ich, als sich die Verbindung aufgebaut hatte, aber statt Klaus nur die Zimmerdecke zu sehen war. Ich wollte gerade etwas sagen, als das verweinte Gesicht von Noemi auftauchte. Sie schien das Handy von Klaus vor sich aufm Boden liegen zu haben und blickte nun grimmig auf das Gerät nieder. Irgendwie musste sie es geschafft haben, mich versehentlich anzurufen.
"Noemi, ist dein Opa auch da?", versuchte ich in Erfahrung zu bringen, wodurch Nico hellhörig wurde. Die Kleine zuckte zusammen und verschwand für einen Moment aus dem Bild, bevor sie sich langsam wieder über die Kamera lehnte.
"Papas Foto weg", schmollte die fast Dreijährige.
"Hast du dir ein Foto von deinem Papa angeguckt?", hakte ich nach und erhielt daraufhin ein Nicken. "Dein Papa ist hier bei mir. Möchtest du mit ihm reden?" Sofort begannen ihre Augen zu leuchten.
"Mama sagt, Papa weg." Ich schaute zu Nico, in dessen Augen sich Tränen gesammelt hatten, während er fassungslos den Kopf schüttelte. Ich reichte ihm mein Handy, welches er mir abnahm. Beim Anblick seiner Tochter verlor er den Kampf gegen die Tränen.
"Hey, meine Kleine."
"Papa!", schrie Noemi begeistert, womit sie Nico zum Lächeln brachte. Ich stand auf und stellte mich neben das Bett, wodurch ich den Display des Handys auch wieder sehen konnte. Eine Hand legte ich auf Nicos Schulter und drückte diese sanft als Zeichen, dass ich bei ihm war. Unsere Blicke trafen sich kurz, ehe er seine freie Hand auf meine legte und zurück zu Noemi schaute.
"Bist du bei Oma und Opa?" Die Kleine nickte.
"Zu Papa hin."
"Wir sehen uns bald wieder. Das versreche ich dir. Ist Mama auch bei dir?"
"Nein, nur Oma und Opa."
"Noemi, alles in Ordnung?", ertönte im Hintergrund eine weibliche Stimme, die sehr nach Nicos Mutter klang. "Was machst du denn da mit Opas Handy?"
"Papa nicht weg", strahlte Noemi. Ehe Nico oder ich reagieren konnten, hatte sie das Handy hochgehoben und in die Richtung von Susanne gedreht, die völlig fertig aussah und nun ungläubig auf das Handy starrte.
"Nicolas", hauchte sie. "Wie ... Aber..." Sie schlug sich die Hände vors Gesicht zusammen ohne das Handy aus den Augen zu lassen. "Das ist unmöglich."
"Es gab da vielleicht eins, zwei Missverständnisse", ergriff ich zögerlich das Wort ohne zu wissen, wie wir Susanne die Situation möglichst schonend erklären sollten.
"Egle hat gesagt, du seist ... Sie war doch bei dir ... Wie ist das möglich?"
"Mama, ich lebe und es geht mir gut. Das ist alles etwas kompliziert zu erklären", versuchte Nico zu erklären.
"Egle dachte nur, dass Nico gestorben ist. Sie hat den Raum verlassen. Aber Nico hat es überlebt", ergänzte ich.
"Zu Papa?", meldete sich Noemi wieder zu Wort. Einige Sekunden starrte Susanne fassungslos aufs Handy, ehe sie ihre Enkelin ansah und anschließend wieder zurück zum Handy.
"Ja, auf jeden Fall. Was anderes kommt gar nicht in Frage." Sie nahm Noemi das Handy aus der Hand und hob die Kleine auf ihren Arm. "Ihr seid in Miami?"
"Mama, ihr ..." Setzte Nico an, während ich bestätigend nickte.
"Keine Wiederrede, wir sind so schnell es geht da. Kevin, wärst du so nett und würdest uns die Adresse und die Zimmernummer schicken?"
"Natürlich, mach ich", stimmte ich zu.
"Ihr braucht wirklich nicht ...", setzte Nico erneut an, als seine Mutter den Anruf einfach beendete. Seufzend blickte der Ältere mich an. "So Mr. Ich-schick-euch-alle-Daten, dann überleg dir mal was, wie wir diese ganzen Maschinen los werden, um meine Eltern möglichst weit beruhigen zu können." Schmunzelnd zuckte ich mit den Schultern.
"Dann wirst du wohl schnell Gesund werden müssen, damit die Ärzte dich auf Normalstation verlegen", erwiderte ich, weswegen Nico die Augen verdrehte. "Ich kann ja versuchen, dabei zu helfen." Ich lehnte mich lächelnd zu Nico runter, um ihn zärtlich zu küssen.
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