Kapitel 6
Rose
Hi, mein Name ist Rosebeth Matthiews, aber die meisten nennen mich einfach Rose. Du wirst dich sicherlich wundern, warum du hier von einer völlig wildfremden Frau angesprochen wirst. Ich muss zugeben, dass ich das auch sein würde, aber es ist etwas so unglaubliches und zugleich seltsam- erschreckendes passiert, dass ich meine Story einfach mit jemandem teilen muss. Ja und meine Geschichte ist in gewisser Weise auch mit Sam verbunden, aber auch noch mit jemand anderem, doch dazu komme ich später noch.
Ich hatte mich mal wieder heillos verlaufen und befand mich irgendwo im Nirgendwo in der besten Ecke in Los Angeles. Das ist für mich ziemlich typisch, da ich eine etwas chaotische Veranlagung habe und mein Orientierungssinn entweder beschädigt, oder vollkommen ausgeschaltet ist. Ich bin zu dieser Zeit gerade erst zugezogen und kannte mich in der riesengroßen Stadt in etwa so gut aus, wie ein wildes Zebra in Manhattan.
Kurz und gut, ich wollte eigentlich zum Postamt, um meine Bewerbung abzuschicken, weil ich einen Job bei meinem Bruder als Kommissarin bei der Polizei annehmen wollte. Jedoch war ich irgendwo am anderen Ende der Stadt und wusste zu allem Überfluss nicht mal, wie ich dorthin gekommen war. Also versuchte ich erst mal die Lage zu überblicken. Taxis fuhren hier keine, Autos noch weniger, die Straße war totenstill. Handyempfang? Wäre schön gewesen, aber nein. Akku leer.
Na prima! Vielleicht kann ich ja jemanden fragen... Pustekuchen, keine Menschenseele weit und breit! War das noch zu fassen? Ich war mitten in L.A., einer der belebtesten Städte überhaupt und hier trug sich ein absolutes Spiel mir das Lied vom Tod Szenario zu.
Ich ließ mich deprimiert auf eine kniehohe Mauer plumpsen und entfaltete meinen Stadtplan, dann sah ich mich nach Straßenschildern um, um meinen derzeitigen Standpunkt finden zu können. Wenigstens hatte man hier nicht auch noch an der Beschilderung gespart. Ein ziemlich kleines und schmutziges Schild zeigte mir, wo ich mich befand.
„Picadilly-Street", seufzte ich und fuhr mit dem Finger an der Karte entlang. Da war sie. Eine Straße am Rande Inglewoods, dem Verbrecherviertel. Au Backe!
Schleunigst suchte ich einen Weg von dieser Straße in die Stadt hinein und dachte dabei über alles Mögliche nach. Meine Mutter meinte immer, ich sei sehr hübsch, schlank, nicht zu klein, nicht zu groß, lange, lockige, braune Haare und einen bräunlichen Teint auf der Haut. Mein einziger Makel (den allerdings nur ich schlimm fand) waren meine zwei dicken Glasbausteine auf der Nase, denn ich war und bin extrem kurzsichtig. Natürlich hätte ich Kontaktlinsen tragen können, doch ich war immer zu faul, sie vor dem Schlafengehen herauszunehmen.
In der Ferne ertönte Hundegebell, doch ich dachte mir nichts dabei, nicht einmal, als es näher kam. Ich sah nicht eine Sekunde von meiner Karte auf. Hektische Schritte kamen näher und plötzlich zischte ein kleiner, schokobrauner Hund direkt vor meinen Füßen vorbei.
Ich wackelte, fing mich aber wieder, doch dann wurde ich von einer Person angerempelt, die so dicht an mir vorbeigerannt kam, dass ich ihren Atem spüren konnte. Ich drehte mich zweimal um mich selbst, bevor ich krackend zu Boden stürzte und meine Brille verlor. Während ich noch nach meiner Brille tastete, konnte ich die Gestalt ausmachen, die mich angerempelt hatte. Die Person hatte haltgemacht und beugte sich einige Meter von mir entfernt keuchend vornüber, um wieder den Atem zu fangen.
Einen kurzen Moment lang freute ich mich, dass ich nicht mehr alleine war, doch dieser Moment schwand schlagartig als mir wieder bewusst wurde, in welchem Stadtviertel ich mich befand. Ich verkniff mir ein Zittern und tastete weiter nach meiner Brille. Nach dem Weg fragen konnte ich auch jemand anders.
„Vielen Dank auch!", hörte ich die Person knurren. Es war ein Mann, wie ich nun bemerkte. Ich konnte nur seine Umrisse in der Ferne erkennen, mehr nicht. Ich verkniff es mir auf seine provokante Bemerkung einzugehen. Einen Streit konnte ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen.
„Entschuldigen sie, können sie mir vielleicht helfen? Ich bin auf der Suche nach einem Postamt und...", weiter kam ich nicht.
„Da sind sie hier falsch!", antwortete die Person ruppig. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Eine junge Frau alleine mit einem Fremden irgendwo in Inglewood. Es gab Gerüchte, dass in solchen Gegenden gerne reichlich Unfug mit Leuten wie mir angestellt wurde. Hoffentlich war der Kerl vertrauenswürdig, doch fragen kostete ja bekanntlich nichts.
Ich tastete schon eine halbe Ewigkeit nach meiner Brille, wälzte mich auf dem staubigen Boden herum, fand aber nichts. Zu allem Überfluss spürte ich immer den Blick des Fremden im Nacken, wenn ich jedoch zu ihm schaute, drehte der nur seinen Kopf weg. Trotz dass meine Brille fehlte, spürte ich ganz genau, dass ihn die ganze Sache sehr zu amüsieren schien. Nach einer viel zu langen Weile, die er mir zugesehen hatte, räusperte er sich endlich und kam näher.
„Dios Mio! Das kann man ja nicht mit ansehen! So, da haben sie! Passen sie das nächste Mal gefälligst besser auf!", sagte er mit deutlich spanischem Akzent und drückte mir energisch die Brille in die Hand, ich riss sie ihm weg, setzte sie auf, dann konnte ich mein Temperament nicht mehr zügeln und mir ging der Hut hoch.
„Ich soll besser aufpassen? Wenn nicht so ein Trampeltier wie sie hier einfach so um die Ecke geschossen wäre, hätten sie mich wahrscheinlich jetzt schon vom Hals, sie ignoranter Vollidiot! Sind sie blind, oder was, oder rempeln sie gerne mal schnell andere Leute an, um ihnen dann zu sagen, dass sie selber schuld daran sind?!", ich wischte mir zornig eine Strähne aus dem Gesicht, um ihm wenigstens einmal einen stechenden Blick zuwerfen zu können, doch kaum sah ich sein Gesicht, verflog mein Mut sogleich.
Der Typ, der vor mir stand war ungefähr eins neunzig groß, hatte feuerrotes Haar und hätte ordentlich in die Knie gehen müssen, um mir in die Augen sehen zu können. Seine linke Gesichtshälfte von dem Kerl wurde von fürchterlichen, tiefen Narben durchzogen, einmal von der Nasenwurzel quer über die Wange, eine an der Stirn, eine über das linke Auge und eine weiter unten, die die parallel zu der über der Nase verlief. Auch an seinem Hals hatte er schreckliche Narben, als hätte etwas ihm vor einiger Zeit ein Stück seiner Haut herausgerissen und an seiner Stirn trug er ein Pflaster, wo er sich eine frische Platzwunde provisorisch verarztet hatte. Sein Schatten lag über mir wie eine tonnenschwere Last. Er war einschüchternd, regelrecht gnadenlos furchterregend.
„Halb blind, junge Dame. Gilt das auch?", fragte er mit deutlich sarkastischem Unterton, jedoch ohne dabei zu lächeln oder irgendeine Gemütsregung zu zeigen. Ich bemerkte, dass seine linke Iris etwas kleiner war, als die rechte, außerdem war die Pupille weißgrau angelaufen, als hätte er den Grauen Star. Kein Wunder, dass er mich nicht gesehen hatte. Das Auge war auf der Seite, auf der er mich angerempelt hatte. Wahrscheinlich war ich einfach in seinem persönlichen toten Winkel gewesen.
„Ent...Entschuldigung, sorry", stammelte ich und wollte mich ganz schnell abwenden, doch der Typ kannte anscheinend gar nichts. Er griff nach meinem Shirt und zupfte daran, um mich zurück zu halten, was nur bewirkte, dass ich mich wieder umdrehte und vor Unsicherheit meine Hand ausrutschte. Seine Hand schoss nach oben und wehrte meinen Schlag so schnell ab, dass ich völlig verwirrt war. Ich hatte nur seinen Arm getroffen. An seiner Reaktionsgeschwindigkeit musste er wohl kaum zweifeln müssen.
„Autsch!", er schüttelte sich sein Handgelenk, auf dem ein kleiner, roter Streifen sichtbar geworden war. Es tat mir überhaupt nicht leid, ganz im Gegenteil, denn wenn er so ein winzig klein wenig Gefühl zeigte, wirkte er mir schon viel sympathischer.
„Sie können von Glück reden, dass ich keine Frauen schlage!", knurrte er. Seine soeben bei mir gewonnenen Sympathiepunkte verflüchtigten sich schneller, als Speedy Gonzales, die schnellste Maus von Mexiko. Ich verschränkte die Arme und versuchte cool zu wirken, scheiterte aber kläglich, denn ich zitterte wie Reisig im Wind.
„Ähm...ja...das...das war irgendwie...dumm von mir!", stammelte ich und sah zu Boden. Der Fremde seufzte leicht genervt und schüttelte seine Hand vor sich aus.
„Nun ja, ich hab schon schlimmeres erlebt. Also, sie wollten mich fragen, wo es zum Postamt geht?", fragte er scharf und sah auf mich herab. Ich machte einen Schritt zurück.
„Wollte ich das?"
„Das haben sie zumindest vorhin gefragt, ja. Und da sie eine Karte benutzen nehme ich an sie haben sich auf der Suche verlaufen?"
Ich starrte kurz auf meine Karte und ließ sie ganz schnell in meiner Tasche verschwinden. Der Fremde sah mich mit gehobener Augenbraue an. Ich dachte nur: Nicht schon wieder so ein arroganter Depp. Erst kürzlich musste ich schmerzlich erfahren, dass mein Freund sich für zu toll hielt, um mit mir Blindschleiche gesehen zu werden. Daraufhin hatte ich ihm erklärt, dass Blindschleichen sehr gut sehen können und bin abgerauscht. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.
„Dass ich eine Karte benutze, hat gar nichts zu bedeuten!", sagte ich patzig. Der Fremde verdrehte die Augen, seufzte und drehte sich weg.
„Ja, schon klar... Schönen Tag noch. Nun gut, mittlerweile sollte ich ihnen vielleicht eher eine angenehme Nacht wünschen!", damit drehte er sich um und tat eins, zwei Schritte weg von mir, dann überlegte ich es mir anders und rief ihn zurück.
„Moment! Warten sie!"
Als hätte er nichts anderes erwartet machte der furchterregende Fremde auf dem Absatz kehrt und blieb einige Meter von mir entfernt stehen. Ich musterte ihn noch einmal gründlich und wog ab, ob ich ihm wirklich trauen wollte, dann gab ich schließlich nach und mein Verstand hämmerte wütend gegen meine Schädelwand, doch ich ignorierte ihn einfach. Der Fremde wirkte gelassen und nicht wirklich so, als wollte er mir gleich die Kehle durchschneiden. Meine anormale Oberflächlichkeit nervte mich so langsam.
„Gibt es hier in der Ecke denn ein Postamt und, oder einen Taxistand?", fragte ich vorsichtig. Der Fremde warf mir einen, na-also-warum-nicht-gleich-so-Blick zu, überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf.
„Nein. Sie haben sich hier ja wirklich in die beste Ecke verlaufen. Sie können wirklich froh sein, dass ich der einzige bin, der ihnen heute Abend über den Weg gelaufen ist..."
Er stand noch immer mehrere Meter weg von mir und ich machte keine Anstalten, diesen Abstand zu verringern, auch, wenn momentan keine Gefahr von ihm auszugehen schien. Er war immer noch ein Fremder. Ein Fremder mit Verbrechervisage, der mir den Horror bis ins Mark trieb.
„Was soll denn das schon wieder bedeuten?!", fragte ich gereizt. Ich wollte endlich weg von hier und meine Zeit nicht mit diesem sinnlosem herumgeplänkel vergeuden. Ich sah zum Himmel. Es wurde dunkel.
„Das soll bedeuten, dass sie bis Nachteinbruch nicht von hier weg kommen. Sie können es riskieren, aber ich garantiere nicht für ihre Sicherheit."
Sicherheit? Dass ich nicht lachte! Was hätte ich denn jetzt tun sollen? Verzweifelt kam ich einige Schritte näher und ging wieder zwei zurück. Ich hatte mich noch nicht entschieden.
„Wenn sie wollen, können sie bei mir mitfahren, ich muss sowieso in Richtung Stadtmitte, da kann ich sie dann an der Roaming Street raus lassen, da ist das nächste Postamt."
Das wurde ja immer besser! Mein Handy war leer, ich hatte keine Ahnung wo ich war, es gab keine Taxis und da bot mir ein wildfremder Kerl, der mir eine Höllenangst einjagte, bei ihm mitzufahren? Nein danke! Oder doch?
Ich fühlte nach meinem Pfefferspray in der Tasche und nickte dann. Eine andere Möglichkeit hatte ich nicht und es wurde bereits richtig dunkel, also nahm ich das Angebot leichtsinnigerweise an und hoffte, dass mir nichts passierte.
„Na dann, bevor hier die ersten Gangster auftauchen, folgen sie mir mal", sagte der Fremde ruhig und ging voraus in die Richtung, aus der er gekommen war. Erst, als ich ihm hinterher lief und nicht ständig auf sein entstelltes Gesicht starrte, bemerkte ich, wie stattlich er doch war. Eigentlich hätte er gar nicht so übel ausgesehen, hätte er nicht diese schlimmen Narben gehabt. Und schon erwischte ich mich dabei, wie ich darüber nachdachte, wie es wohl wäre, sich mit so einem einschüchternden Typen sehen zu lassen. Ob die Leute dann wohl endlich die blöden Kommentare zu meiner Brille unterließen, wenn ich mal feiern ging?
Sofort sprang mein Verstand wieder mit geballten Fäusten schreiend in meinem Kopf herum. Blöder Gedanke, ich sah es ja schon ein. Wir kamen an einem schwarzen Van vorbei, so ein Teil, mit denen man gerne mal hin und wieder ein paar Leute entführte. Plötzlich zog der Fremde einen Schlüssel aus der Tasche und schloss den riesigen Wagen auf.
„Das ist nicht ihr Ernst, oder? Und wenn das ein Scherz sein soll, dann ist er nicht lustig!", rief ich und ging sofort wieder ein paar Schritte rückwärts.
„Ach, der Wagen ist eigentlich ganz bequem. Ist zwar schon etwas älter, läuft aber immer noch, wie 'ne Eins! Ich hab ihn gebraucht, als ich von Downtown nach Baldwin Hills gezogen bin, aber jetzt fahre ich nur noch damit, weil ich kein anderes Auto habe."
Mein Puls raste. Schnaufend blickte ich von dem Auto zu dem Fremden und wieder zurück. Der Fremde seufzte nur: „Mh, wie es aussieht, habe ich sie unterschätzt... Ich habe sie nicht für so oberflächlich gehalten. Dann fahr ich eben alleine. Muss ja niemanden zwingen."
Er zwang mich nicht. Das fühlte sich sicher an, denn wenn er mich unbedingt entführen wollte, hätte er es längst schon tun können. Ich entschied mich also doch dafür, ihm zu trauen. Der Fremde hielt mir erwartungsvoll die Tür auf und ich stieg erhobenen Hauptes ein. Der sollte sich bloß nicht einbilden, dass er gewonnen hatte.
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