Kapitel 5 - Sam
Wir rannten und rannten. Ich verlor langsam den Anschluss an Seven, der mir mit seinen flinken Setterbeinen weit voraus war, dann sah ich mich um. In ungefähr dreißig Hundelängen Entfernung war ein schmaler Spalt zwischen zwei Hausmauern. Wir hatten uns dort schon oft hindurchzwängen müssen, wenn wir zum Futterplatz wollten. Und wenn wir uns da schon hindurchzwängen mussten, würde der pummelige Tomtom wahrscheinlich einfach stecken bleiben.
Ich sah, wie Seven mir voraus auf die Öffnung zueilte. Wir waren wohl auf dieselbe Idee gekommen. Meine Beine wurden langsam schwer und Tomtom kam von hinten immer näher. Ich konnte ihn röcheln hören. Verwöhnter Haushund! Der war ja wirklich gar nichts gewöhnt.
Ihm schien das viele Rennen auch zuzusetzen. Wenigstens eine gute Eigenschaft an ihm. Ich hechtete mit einem gewaltigen Satz durch den Spalt hindurch und sah zurück. Tomtom war, wie erwartet, stecken geblieben. Wenn auch die Gefahr weiterhin bestand, dass er sich, dank seiner geringen Körpergröße, trotzdem noch selbst befreien konnte.
Hechelnd blieb ich stehen und grinste. Tomtom wand und streckte sich, er stemmte seine Vorderpfoten in den Boden und versuchte sich mit den Hinterpfoten rückwärts aus dem Spalt zu ziehen, doch er steckte fest, wie ein Korken. Ich musste mich sehr beherrschen, dass ich nicht vor Lachen platzte. Erhobenen Hauptes stolzierte ich zu dem dicken Möchtegernwachhund und blieb direkt vor seiner Nase stehen.
Tomtom versuchte nach mir zu schnappen und mich mit seinen Vorderpfoten zu erreichen, doch seine Pfoten wirbelten immer nur einige Ohrenbreiten vor meiner Nase durch die Luft und verfehlten ihr Ziel.
„Na wartet, wenn ich euch kriege!", zischte er, „Dann werdet ihr was erleben, das schwöre ich euch!"
Ich dachte mir nichts bei seinem Gezeter. Er schien gerne die Schnauze etwas zu voll zu nehmen.
„Vorausgesetzt, du kommst hier wieder lebend raus!", grinste ich, „Nun ja, ein paar Pfund weniger würden dir sicherlich nicht schaden. Hey, die Wände machen dich sogar schlank."
Tomtom knurrte wütend und versuchte sich wieder zu befreien. Allerdings weiterhin ohne Erfolg.
„Ihr verdammten Straßenköter, für wen haltet ihr euch eigentlich", fauchte er immer wieder.
„Vielleicht holen dich aber auch vorher die Hundefänger! Wenn du Glück hast, sind es welche, die Hunde mit Halsband wieder nach Hause bringen, wenn nicht, dann hast du eben Pech gehabt", schnaufte Seven neben mir. Jetzt wurde Tomtom still. Er sah wütend und ängstlich zugleich aus.
„Ihr meint, ...ich könnte... in einer Perrera landen?", fragte er. Ich merkte ein leichtes Zittern in seiner Stimme und nickte.
„Oder noch schlimmer", entgegnete Seven mit übertrieben weit ausgeholter Stimme.
„Was meint ihr damit?", fragte Tomtom, doch wir drehten uns einfach nur um und ließen ihn alleine in seinem Wandspalt zurück.
„Das wirst du, wenn es so weit ist, selbst herausfinden!", antwortete ich und wir verschwanden im Schatten der Gassen. Kaum waren wir um die erste Ecke verschwunden, zeterte Tomtom, was das Zeug hielt. Seven und ich grinsten uns an.
„Den sind wir los!", kicherte Seven vergnügt.
„Freu dich mal nicht zu früh. Lange wird ihn die Wand nicht aufhalten. Wer reinkommt, der kommt auch irgendwie wieder raus", entgegnete ich. Dann lauschte ich in die Nacht. Zwischen dem Rauschen der Straßen und dem leisen Säuseln des Windes war es still geworden. Mein Rückgrat spannte sich an, bereit zur Flucht.
Das Fluchen hatte aufgehört, das konnte entweder bedeuten, dass Tomtom aufgegeben oder sich schon befreit hatte. Auch Seven war stehen geblieben, die Nase in die Luft erhoben. Ein kühler Wind strich uns von hinten übers Fell.
Ich prüfte die Luft, dann hielt ich inne. Egal, für wie schlau Tomtom sich hielt, vom Anpirschen verstand er nichts. Er schlich sich mit dem Wind im Rücken an uns an, was bedeutete, dass sein Geruch blitzschnell zu uns getragen wurde und wir ihn schon aus großer Entfernung riechen konnten. Seven und ich sahen uns halb genervt, halb amüsiert an.
Plötzlich krachte es hinter uns. Beinahe im selben Moment duckten sich Seven und ich. Ein äußerst wütender Tomtom flog über unsere Köpfe hinweg und landete mit einem dumpfen Schlag vor uns auf seiner Schnauze. Er hatte wohl sein Ziel verfehlt.
„Rattendreck!", fluchte er. Seven tapste zu ihm und bückte sich.
„Alles in Ordnung?", fragte er besorgt. Ächzend wälzte sich Tomtom herum und stand auf.
„Nein, danke der Nachfrage!", knurrte er patzig. Plötzlich stürzte er sich vollkommen ohne Vorwarnung auf Seven und bekam ihn am Halsband zu fassen. Seven schnappte nach Luft, als ihm das unpraktische Ding den Hals zuschnürte.
Ohne zu zögern warf ich mich auf Tomtom und krallte mich in seinem Nacken fest. Der schüttelte sich und versuchte mich abzuwerfen, ließ dabei aber nicht von Seven ab. Meinem besten Freund schien jedoch langsam die Luft auszugehen.
„Du lausiger Straßenköter, wirst du mich gefälligst loslassen?", knurrte Tomtom und schlug mit einer Pfote nach mir.
„Ich denke gar nicht dran, du Schoßhündchen!", entgegnete ich scharf und biss ihm in die Schulter. Entsetzt jaulte der gestreifte Angreifer auf und stieß seinen Kopf nach oben. In diesem Moment riss Sevens Halsband.
Tomtom und Seven wurden auseinander geschleudert. Seven schlug einige Purzelbäume, bis er dann mit einem dumpfen Schlag gegen eine Wand knallte. Er lag rücklings im Staub, das Hinterteil in die Höhe an der Wand entlang gestreckt. Sagen wir mal: Es gab bequemere Stellungen.
Tomtom hatte es in die andere Richtung geschleudert. Er lag auf dem Bauch, das Halsband noch immer zwischen den Zähnen und war noch ganz benommen. Ich lag einige Rutenlängen von beiden entfernt. Mein Kopf schmerzte.
Im Getümmel war ich gegen eine Wand katapultiert worden. Mühsam rappelte ich mich auf die Pfoten. Mein Rücken tat von dem harten Aufprall noch immer weh. Zuerst einmal streckte ich alle Viere einzeln von mir, um zu überprüfen, ob ich mir etwas gebrochen hatte. Alles noch dran. Puh. Seven, der ein paar Schritte von mir entfernt saß, schüttelte sich noch ganz benebelt den staubigen Pelz.
„W...was ist passiert?", fragte er benommen. Ich stupste ihn vorsichtig an, um ihm auf die Beine zu helfen.
„Dein Halsband ist gerissen. Du bist jetzt frei. Du bist jetzt einer von uns!", Seven starrte mich an, als hätte er soeben den größten Knochen der Welt ausgebuddelt.
„M- Moment, du meinst - ich - ich bin jetzt ein Streuner, so wie ihr?", bellte er begeistert. Ich nickte, drängte dann aber zum Gehen, als Tomtom aus seiner kurzzeitigen Ohnmacht aufzuwachen schien.
„Schnell, bevor das Ganze wieder von vorne losgeht!"
Wir eilten nach Hause, wo mein Bruder bereits auf uns wartete. Auch er schien vollkommen aus dem Häuschen zu sein.
„Hey, wisst ihr schon das Neuste? Ich habe einen Namen bekommen!", jaulte er. Überrascht entfuhr mir ein kleines Bellen. Mein Bruder hatte sich in die Nähe eines Menschen gewagt?
„Von einem kleinen Mädchen! Sie hat sich zu mir runter gebückt und mich gestreichelt, dann hat sie Juan zu mir gesagt! Sie hat mir was zu Fressen gegeben. Ich hatte nicht einmal Angst vor ihr. Sie war viel zu klein, um mir etwas anzutun."
„Na, das ist doch toll!", gratulierte ich ihm. Mein Bruder streckte stolz die Brust heraus und wackelte fröhlich mit der Schwanzspitze.
„Hey! Wollen wir eurer Mutter die frohe Kunde überbringen?", fragte er. Mein Bruder wackelte mit den Ohren und nickte mit begeistert leuchtenden Augen.
Selbst Trueno wedelte bei dem Gedanken an einen Besuch bei Fosca mit dem Schwanz. Unsere Mutter war zwar im Moment wieder sehr beschäftigt mit ihrem neuen Wurf, aber gegen etwas zu Fressen würde sie sicherlich nichts einzuwenden haben.
Doch als wir auf dem Weg zu ihr waren, wussten wir noch nicht, dass uns dort eine böse Überraschung erwarten würde.
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