Kapitel 48 - Sam
„Hey! Hey! Aufwachen! Für wen hältst du dich eigentlich? Platzt hier einfach so rein und meinst wohl auch noch, du hättest das Recht dazu, mich zu ignorieren!"
Ich öffnete die Augen und sah eine hellbraune Hündin vor mir stehen. Sie hatte eine weiße Schnauze und weiße Pfoten. Wie es aussah war sie auch noch trächtig.
„Also! Raus mit der Sprache! Wer bist du?"
„Sam...", stöhnte ich. Mein Hinterbein war noch immer ganz steif. Der Schuss war hindurchgegangen. Es steckte also keine Kugel mehr darin, aber die Wunde schien sich entzündet zu haben.
„Also gut, Sam! Und was hat man mit dir gemacht, dass du riechst, wie ein Pharmaziestudiengang?"
„Entschuldige, dass ich mit einer Gegenfrage antworte, aber dürfte ich wissen, mit wem ich die Ehre habe?"
„Caprice!", antwortete sie patzig, dann zeigte sie auf zwei flauschige Gefährten, die sie Lana und Peludo nannte. Peludo war ein Scotch Terrier. Sein Name bedeutete so viel wie ‚Zottel' und dieser Name passte tatsächlich wie die Pfote aufs Auge. Lana hieß ‚Wolle', auch zu ihr passte der Name gut, denn sie war eine völlig zerzauste Golden Retriever – Dalmatiner Mischlingshündin und hatte hübsches, langes, weißschwarz getupftes Fell.
„Was ist los? Hast du Tomaten auf den Ohren, oder was?"
„Es wäre mir wirklich recht, wenn du die Lautstärke etwas senken könntest, Caprice. Ich habe dir nichts getan und will keinen Streit."
„So, willst du also nicht?"
„Nein."
Caprice setzte sich und kratzte sich hinter ihrem Ohr. „Was meint ihr. Sollen wir ihn in Ruhe lassen?"
„Er ist neu. Er wird wahrscheinlich noch nicht einmal wissen, wo die Toilette ist?"
„Welche Toilette?", fragte ich verwirrt und legte den Kopf schief.
„Die, in der du gerade liegst, du Held der Nation!"
Ich sprang auf, nur um zu bemerken, dass man mich veräppelt hatte. Gleich darauf brach ich wieder zusammen und stöhnte vor Schmerz laut auf.
„Ziemlich naiv, was?", fragte Peludo spitz. Ich legte die Ohren an. Ich hatte schon mit etwas mehr Freundlichkeit gerechnet, wenn man sich in einer so misslichen Lage befand.
„Ihr habt aber schon eine Ahnung, wo ihr hier seid, oder? Das ist kein Ort, an dem man sich über andere lustig machen sollte."
„Klar wissen wir, wo wir hier sind! Wir sind nicht behämmert! Aber wir wollen eben das Beste draus machen", knurrte Caprice und ihr Kopf drehte sich von Lana zu Peludo, denen sie ein fieses Lachen zuwarf.
„Und ihr meint, wenn ihr auf mir herumhackt, fühlt ihr euch besser?"
Die drei Hunde schwiegen. „Ihr habt keine Ahnung, wo wir hier sind!
Wusste ich's doch!"
„FÜR ALLE, DIE UNS UNRECHT TATEN...!"
„...BITTE FÜR SIE!"
„Was war das?", fragte ich und stellte mich auf. Der Zwinger bestand aus halbhohen Wänden, die bis zur Decke mit Drahtgitter versahen waren. Die ganze Anlage befand sich im Freien und man konnte, wenn man sich mit den Pfoten auf die Mauer stellte, in andere Zwinger hineinsehen. Ich sah einen kleinen Dackel, der auf dem Rücken eines übergewichtigen Bobtails stand und eine Rede zu halten schien. Das letzte Bild in meinem Traum. Ich hätte es wissen müssen.
„Das ist Hermano José! Irgendein Spinner, der einem Kloster entsprungen ist, oder so. So geht das schon seit drei Stunden!", seufzte Lana und setzte sich neben mich. „Ein Verrückter, wenn du mich fragst.
Ein richtiges Puddinghirn! Redet von einem Menschen, der Tote zum Leben erweckte und blinde wieder sehen ließ. Und von einem allmächtige Herrn, der die Erde erschaffen hat!"
„Warum tut er das?"
„Frag' ihn doch? Er wird schon seine Gründe haben. Wahrscheinlich wird er dir antworten, dass der Herr höchstpersönlich es ihm befohlen hat."
„Für alle, die unwissend sind...!"
„...bitte für Sie!", ein riesiger Hundechor antwortete ihm, Anscheinend fühlten sich viele von den Gefangenen von seiner Rede mitgerissen. Um ehrlich zu sein, verspürte auch ich den Drang mitzumachen. Der kleine Dackel mit dem Kreuzanhänger um den Hals wirkte einfach so unglaublich selbstbewusst und stark. Man hatte bei seiner Rede das Gefühl, dass alles gut wurde. Hermano José bedeutete so viel wie ‚Bruder Josef', ein Mönchsname.
„Drei Stunden, sagst du?", fragte ich. Lana sah mich unwirsch an.
„Bist du etwa taub? Das habe ich dir schon gesagt!"
„Das war doch nur eine Frage!", knurrte ich. Diese schnippische Unfreundlichkeit machte mich rasend.
„Und das war auch nur eine Antwort!"
„Ach, ich dachte, du wolltest keinen Ärger!", zischte Caprice. Sie ging in Kampfstellung. Wie ich diese blöde Kuh verabscheute. Ich ignorierte sie einfach und lauschte wieder José, der sich große Mühe gab, nicht von dem Bobtail herunterzufallen.
„Für alle, die uns Böses taten...!"
„...bitte für Sie!"
„So erlöse sie der Herr von ihren Sünden und vergebe ihnen alles Unrecht, das sie uns Tieren taten und spreche ihnen Recht zu, denn wir vergeben ihnen alles, weil wir sie lieben, wir bitten dich, erhöre uns, oh allmächtiger Herr."
Ich wusste nicht, was ich von dieser äußerst seltsamen Erscheinung halten sollte. Offensichtlich versuchte der Dackel die verstörten Hunde von der Angst des bevorstehenden Todes zu befreien.
„Der Kerl hat's echt drauf, andere zu ermutigen", sagte ich beeindruckt. Ein kleiner braunweißer Mischling, der neben mir im Zwinger saß, sah zu mir auf.
„Ja, du hast recht! Seit er das macht, habe ich fast keine Angst mehr."
„So lasset uns beten im Namen des Herrn! Vater unser im Himmel...", heulte José in die Menge.
„Von was bellt er da?", fragte ich.
„Das ist das Vaterunser. Die Menschen sagen das immer auf, wenn sie auf wundersame Weise Hilfe erwarten. Sie beten irgendeine unsichtbare Macht an oder so."
„Ernsthaft? Spinnen die? Ach, was frag ich überhaupt noch?"
„Menschen sind nicht bescheuert! Sie werden schon wissen, warum sie das tun!", die kleine Hündin räkelte sich. „ Aber du hast ja recht! Ich hör mir den Schwachsinn schon seit Stunden an."
„Das Paradies, von dem er gesprochen hat, muss wundervoll sein. Bald werde ich hinkommen und diese furchtbare Welt hinter mir lassen!", das war die Stimme eines weiteren Hundes, der sich in dem Zwinger befand. Ein reinrassiger Border Terrier, wie es aussah.
„Ich bin Lu und das ist Mio", sagte der braunweiße Mischling. „Du bist doch der Hund, der ein Mädchen aus einem einstürzenden Haus und den einen Mann aus dem Feuer gerettet hat, oder? Du warst ganz groß in den Nachrichten!"
„War ich das?", fragte ich. Lu nickte.
„Ich war voll beeindruckt, wie mutig du bist. Mein Frauchen ist am Tag darauf gestorben und ich bin auf der Straße gelandet. Dann hat man mich eingefangen und hierher gebracht. Wir haben nur noch zwei Tage, dann bringt man uns alle nach hinten..."
Ich mochte gar nicht daran denken, was man mit uns Hunden hier anstellte. Aber es musste auf jeden Fall besser sein, als in dem Labor zu schmoren. Im wahrsten Sinne des Wortes!
„Weißt du, vor dem Tod habe ich keine Angst, aber vor dem Sterben, vor dem Sterben schon. Ich hab Angst, dass es sehr weh tut."
„Ich auch...", gab ich zu. Über das Sterben hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Bis jetzt zumindest nicht. Aber der Kleine hatte recht. Sehr recht sogar.
„Aber du hast doch den Mann aus dem Haus gerettet! Da hättest du auch sterben können! Hattest du denn überhaupt keine Angst?"
„Doch, hatte ich..."
„Aber wieso...?"
„Hör schon auf, ihn zu löchern! Er ist kein Schweizer Käse!", knurrte Lu dem vorlauten Border Terrier zu, der schwanzwedelnd an der anderen Seite der Mauer stand.
„Aber er riecht so!", kam es schnippisch von hinten.
„Halt' die Schnauze, Peludo!", knurrte Lu. Peludo zog den Schwanz ein und verkroch sich.
„Er ist eigentlich ganz nett, aber seit er hier eingesperrt ist, tickt er irgendwie aus. Auch Caprice ist eigentlich sonst immer die Ruhe weg, nur ganz unter uns: Seit sie trächtig ist, benimmt sie sich wie eine Diva. Sie hat mich immer bei sich aufgenommen, wenn ich Hilfe brauchte."
„Du hast dich mir wie ein Klotz ans Bein gehängt, du kleines, hässliches Pasrasitenwesen. Du muffelndes, zotteliges, räudiges..."
„Ich hab's kapiert, okay? Ich kann nichts dazu, dass sie dich eingefangen haben!", maulte Lu in meinen Zwinger hinüber.
Caprice jaulte zornig auf und stieß mich am Gitter zur Seite, um nach Lu zu schnappen. Die blieb jedoch einfach nur stehen und starrte die hellbraune Hündin erschrocken an.
„Du hast die Kerle doch zu meinem Versteck gelockt, du kleine Ratte! Ohne dich hätten die mich nie gefunden! Wärst du nicht gewesen, hätte ich heute noch ein sicheres Versteck für meine Welpen!"
„Ruhig, Kinder! Streiten bringt uns jetzt auch nicht weiter. Setzen wir uns doch einfach hin und reden über ein anderes Thema!", seufzte ich und versuchte Caprice wegzudrücken, doch die schnappte nur wieder nach mir.
„Machst du jetzt etwa auch schon die Trächtigkeitsberatung oder was? Halt einfach die Schnauze und verkriech dich in das Loch, aus dem du gekommen bist, du schwarze Stinkmorchel!"
„Ob du's glaubst oder nicht. Das würde ich liebend gerne tun", murmelte ich und legte meinen Kopf auf die Mauer. Ich sah zu Lu und Mio hinüber und erkannte noch fünf weitere Hunde, die man dort drüben auf engstem Raum zusammengepfercht hatte.
„Ja, ich weiß. Ziemlich eng hier. Schade, dass nicht ein paar von denen da drüben reingekommen sind. Sonst hätten die dich sicher zu uns gesperrt!", sagte Mio. Warum hatte man mich ausgerechnet mit den unfreundlichsten aller Hunde eingepfercht? Alle anderen schienen total freundlich zu sein.
So musste ich zum Beispiel Caprice wegknurren, weil sie mir an meiner Schusswunde schnüffelte, obwohl ich ihr bereits mehrmals gesagt hatte, dass das weh tat. Daraufhin hat sie mir ins Ohr gebissen und daran gezogen, bis ich ihr eine Kopfnuss verpasste.
Nach mehreren Stunden hatte auch José mit seiner Rede geendigt und schloss sie mit den Worten: „...Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes...!"
„Amen!"
„Meine Brüder und Schwestern, so habt keine Furcht, denn der Herr wird euch beistehen in der Stunde der Not!"
Der Dackel verneigte sich und sprang von dem Bobtail herunter, der sich schon vorher über heftige Rückenschmerzen beklagt hatte. Sein grauweißes Fell war verfilzt und man wusste nie, wo vorne und hinten war. Ein ganz lustiger Anblick. Lu und Mio entfernten sich von meiner Mauer und gingen auf die andere Seite ihres Zwingers, der direkt neben dem von José lag. José sprang die Mauer hinauf und landete geschickt vor den Pfoten des kleinen Mischlings.
„Na, hat euch meine Messe gefallen? Kann ich noch etwas für euch tun, habt ihr Fragen?", fragte er. Lu nickte.
„Ganz schön beeindruckend, Hermano José! Du bist ein ausgezeichneter Redner. Wo hast du das gelernt?"
„Oh danke! Von meinem Herrn habe ich das gelernt. Der Mönch bei dem ich untergekommen bin war ein ganz netter Kerl und als sie eine Pilgerfahrt in ein spanisches Kloster zu einem Treffen gemacht haben, habe ich mich zu weit entfernt und bin eingefangen worden. Ich hoffe, Bruder Pat holt mich bald wieder ab."
„Da kannst du lange warten. Der kommt nicht wieder", flüsterte ich und senkte traurig den Kopf.
„Was hast du gesagt? Entschuldige, ich hab's akustisch nicht verstanden! Gütiger Herr!"
„Was? Was ist?", fragte ich. Der Dackel sah mich entsetzt an. Mit meinen Kratzern überall, dem zerzausten, verklebten Fell und den kahlen Schläfen musste ich wie ein Dämon wirken.
„Mei, sag mal, was hat man denn mit dir angestellt? Du siehst aus, als wärst du grad eben erst von einer Steinigung zurückgekehrt!"
„Wenn's nur so wäre", antwortete ich. „Das ist nicht die einzige Wunde. Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich das gerne schnell vergessen."
José nickte bedächtig. „Ja, ich verstehe dich. Ich will dich nicht noch mehr belasten... Menschen können solche Monster sein. Schlimmer, als jeder Pharisäer. Verräterischer, als Judas und falscher, als jede Schlange."
„Und böser, als der Teufel!", bellte der Bobtail in Josés Zwinger. Erst jetzt merkte ich, dass sie eine Hündin war.
„Ja, Flori. Böser als der Teufel sind auch viele von ihnen! Aber sie sind nun mal unsere Freunde und Freunde darf man nicht beschimpfen. Vergib mir, oh Herr!"
Mir fiel da auf Anhieb eine Person ein, die böser als der Teufel war, doch die hatte ich glücklicherweise bereits ausgeschaltet. Ein Mann kam vorbei, riss die Tür zu unserem Zwinger auf und warf einen kleinen, grauen Mischling hinein.
„Pass' doch auf, du Grobian!", knurrte er, stand auf und schüttelte sich. „Hi, alle zusammen!"
Wenigstens war er freundlich. „Mit wem habe ich denn die Ehre?", fragte er. Caprice sträubte knurrend das Fell.
„Pass auf, dass ich dich nicht zum Mittagessen verspeise, du halbe Portion!"
„Woh, woh, immer langsam mit den jungen Pferden!", bellte der neue vorlaut. „Vielleicht sollte ich mich erst mal vorstellen... Ich bin Cano. Schön euch kennen zu lernen!"
„Ich wünschte die Freude wäre auf meiner Seite!", knurrte Peludo.
„Ihr seid aber nette Zeitgenossen. Seid ihr immer so?"
„Ja, leider", antwortete ich. „Man könnte meinen, ihnen macht das Spaß", Cano sah zu mir hoch und machte große Augen.
„Bist du es wirklich? Bist du es? Dios Mio! Mein Held! Du bist es! Sam, el Valiente! Ich liege euch zu Pfoten, Majestät!", Cano machte einige übertriebene Bewegungen und verneigte sich schließlich vor mir. Ich zog meine Pfoten weg, als es anfing peinlich zu werden.
„Ich bin kein Held!", wuffte ich verwirrt. Cano war da anscheinend anderer Meinung. Er besah mich von allen Seiten und beachtete die seltsamen Blicke von Caprice, Lana und Peludo nicht.
„Du bist größer, als ich gedacht habe. Mann ich wollte immer so sein, wie du. Erinnerst du dich nicht mehr an mich? Du hast mich mal vor dem Schwarzen Mann gerettet."
Ich erinnerte mich natürlich nicht mehr. Hatte Cano überhaupt eine Ahnung, wie viele Hunde ich vor diesem Kerl beschützt habe? Cano stellte sich als außerordentliche Labertasche heraus, die anscheinend nie Atemluft benötigte. Außerdem gab er an, wie zehn schwarze Labradors. Zum Glück war ich das von Seven bereits gewöhnt.
Als der Tag sich dem Abend neigte wurden noch einige Hunde mehr gebracht, die ebenfalls in die Zwinger gesperrt wurden. Bei uns kam keiner mehr hinzu. Ein Glück, denn wir hatten weder Futter noch Wasser und wenn noch ein hungriger Hund mit dem Charakter von Caprice und Co. Hinzukam, hätte das für Cano und mich schlimme Folgen haben können.
Caprice aber war in letzter Zeit ziemlich still und hatte sich in eine Ecke des Zwingers zurückgezogen. Gegen Mitternacht hörten wir ein leises Wimmern von ihr.
Ihre Welpen kamen! Und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte!
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