Kapitel 43 - Sam

Ich beobachtete Nana beim Schlafen, bedacht, sie nicht zu wecken. Ihr Kopf lag noch immer auf meiner Pfote und ich traute mich nicht, sie weg zu ziehen. Alles Mögliche schoss mir durch den Kopf, als ich sie betrachtete und ihrem sanften Atem lauschte. Was wäre, wenn wir es tatsächlich schafften, hier heraus zu kommen. Ich wollte nichts lieber, als ihr meine Welt zu zeigen. Die Straßen, auf denen ich aufgewachsen war.

Nana schreckte hoch, als die Tür zu ihrem Zwinger aufgerissen wurde und ein Weißkittel kam. Er packte grob im Genick, um sie nach draußen zu zerren. Ich hatte nicht einmal die Chance gehabt, mich von ihr zu verabschieden. Mein Herz pochte wie wild, als ich sie durch die Tür am Ende des Ganges tapsen sah. Sie wehrte sich mehrere Male gegen den Weißkittel, weil sie zurück zu mir wollte, doch er zerrte sie gnadenlos weiter. Die Tür schlug zu. Nana war weg.

Verzweifelt rannte ich im Kreis. Was sollte ich tun? Ich wollte weiter neben ihr liegen und ihrem sanften Atem lauschen, der mich beruhigte. Ihr Atem, der mir zeigte, dass ich nicht alleine war. Diese Menschen hatten Tito getötet! Sie hatten Tomtoms Geruchssinn für immer zerstört und jetzt nahmen sie mir das Einzige, das mich hier drin noch bei Verstand hielt. Sie würden schon sehen, mit wem sie es zu tun bekamen! Das würden sie büßen!

Ich polterte einmal gegen meine Zwingertür. Die Hunde um mich herum begannen wild zu bellen. Ich sprang noch einmal gegen das Gitter. Dieses Mal wurde ich von meiner unbändigen Wut angetrieben. Die Tür schepperte in ihren Angeln. Zornig bellte ich in den Gang und verfluchte die Menschheit. Verfluchte alles, was die Menschen mit uns Tieren anstellten. Und ich verfluchte es, dass wir ihnen so wehrlos ausgesetzt waren.

Ich krachte ein weiteres Mal gegen die Zwingertür. Und noch einmal. Und noch einmal. Ich hatte aufgehört, zu zählen, wie oft ich versucht habe, die verfluchte Tür aufzubrechen. Sie ächzte jedoch nur unter meinem Gewicht, mehr passierte nicht. Meine Schulter schmerzte fürchterlich. Verzweifelt und völlig erschöpft sank ich zu Boden und wimmerte.

Ich hörte Tomtom, der verwundert wuffte, als er mich so aufgebracht sah.

„Alles in Ordnung, Kumpel?", fragte er vorsichtig. Ich schüttelte den Kopf, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Das Entsetzen stand meinem Freund ins Gesicht geschrieben, als er sah, wie meine Augen sich mit Tränen füllten. 

"Nein! Nichts ist in Ordnung, NICHTS ist in Ordnung!", brüllte ich. "Diese Menschen, diese Monster nehmen uns unsere Freiheit, unsere Namen und schließlich unser Leben. Sie zerschneiden uns mit Messern und flicken uns wieder zusammen. Sie jagen uns Spritzen unter das Fell und laben sich an unserer Angst und an unseren Qualen, die sie beobachten und notieren, als ob wir nur Teil eines kranken Spiels seien, das sie mit uns spielen. Und am Ende werfen sie uns weg, wie den Müll, den sie überall auf den Straßen hinterlassen. Und jetzt vergreifen sie sich an Nana! Meiner Nana! Ich würde diese Dreckskerle in Stücke reißen, wenn ich könnte, würde sie für all das büßen lassen, was sie ihr antun! Also nein, es ist nichts in Ordnung, Tomtom!"

Mit einem furchterregenden Schrei und einem lauten Knall flog ich erneut gegen meine Zwingertür. Ich wollte einfach nur hier raus. Ich wollte wieder frei sein. Ich wollte rennen. Doch vor allem, wollte ich, dass Nana bei mir war.

Es kam mir vor, als wären Stunden vergangen, als die Tür am Ende des Ganges sich endlich wieder öffnete und einer der Weißkittel die wunderschöne Hündin zu ihrem Zwinger zurück trug. Als er sie absetzte, schaffte sie es gerade noch, sich zu der Gitterwand zu schleppen, die uns voneinander trennte, bevor sie vor Erschöpfung in sich zusammen brach.

„Hey, wie geht es dir?", fragte ich vorsichtig. Nana drehte schlapp den Kopf zur Seite.

„Wie sehe ich denn aus?", fragte sie mit einem zarten Lächeln im Gesicht.

Ich überlegte. „Eigentlich ganz normal!", wuffte ich. Das war die Wahrheit. „Es gibt niemanden, der im Moment besser aussieht, als du!"

Sie sah mich aus ihren wunderschönen, blauen Augen direkt an. Ein Funke Freude glitzerte darin. Ein Phänomen, das man an diesem Ort nur selten beobachten konnte.

„Ist das dein Ernst?", fragte sie leise.

„Ich habe noch nie gelogen!"

„Du bist so süß, Sam", seufzte sie und hob den Kopf. Ich streckte meine Schnauze durch das Gitter und leckte ihre Nase.

„Er ist wie ein Wahnsinniger durch seinen Zwinger getobt, als sie dich weggebracht haben", bellte Tomtom von seinem Zwinger zu uns herüber. Er grinste verschmitzt und ich hätte ihm am liebsten in seine vorlaute Schnauze gezwickt. Mir schoss das Blut in den Kopf.

„Er wollte glatt ausbrechen und dich retten, dieser Spinner!", kläffte der kleine 404.

„Ist das wahr?", fragte Nana überrascht. „Aber Sam, das ist-"

„Ich würde alles für dich tun, nur, damit du glücklich bist", wuffte ich, ohne sie ausreden zu lassen, „weil ich ohne dich den Verstand verliere. Weil ich nicht ich selbst bin, wenn du nicht bei mir bist. Ich kann mir ein Leben ohne dich an meiner Seite nicht mehr vorstellen, Nana. Alleine der Gedanke daran treibt mich in den Wahnsinn."

Nanas Überraschung wich freudiger Verwunderung. „Und ich würde mein Leben für dich geben, Sam", erwiderte sie und steckte ihre Pfote durch das Gitter zu mir herüber. „Aus genau demselben Grund."

Vor Freude, brachte ich kein Wort heraus. Ich leckte ihr die Pfote und drückte meinen Kopf an ihren, dann atmete ich ihren süßen Duft ein. In diesem Moment konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals glücklicher gewesen zu sein. Auch, wenn ich wusste dass dieses Gefühl nicht lange anhalten würde.

Alleine schaffte ich das hier nicht. Nana machte mir Mut. Ihre Wärme an meiner Seite war wie eine unsichtbare Medizin, die mein gebrochenes Herz zusammen hielt. Sie brauchte mich und ich brauchte sie. Der Gedanke daran, was passierte, wenn sie eines Tages nicht mehr in den Zwinger neben mir zurückkehrte, machte mich völlig fertig.

„Wir werden einen Weg hier raus finden, Nana", brummte ich, „Wir alle zusammen. Alles wird gut. Du wirst sehen. Ich verspreche es dir."

Nana schwieg, während sie mit hängenden Ohren die Tür am Ende des Ganges anstarrte. Ich legte meinen Kopf auf ihre Pfote und war nach einer Weile wieder eingeschlafen. Mehrere Stunden vergingen, dann ging die Tür auf und ein kleiner, krausköpfiger Mann kam herein.

Er ging prüfend durch die Reihen. Señor Schmierig war auch bei ihm. Er öffnete meine Zwingertür und wollte mich herauszerren. Der krausköpfige Mann machte vor Nanas Käfig halt.

„Das ist 379, nicht wahr? Eignet sie sich für diesen Versuch?", fragte er. Señor Schmierig nickte.

„Sie dürfte mittlerweile wieder fit sein. Sie können sie gleich mitnehmen, ich bin mit 394 sowieso gerade auf dem Weg zu Raum 43b!", das konnte er mal ganz schnell vergessen.

Ich biss ihm so fest in die Hand, dass Blut auf den dreckigen Boden spritzte. Er schrie auf, schlug mir auf den Kopf, packte mich vor Schmerz wimmernd und legte mir mit blutverschmierten Händen die bescheuerte Leine an. Das würde Narben geben. Ein Souvenir, das ihn daran erinnern würde, was für ein Ekel er war.

Dann zerrte er mich in den, mir bereits bekannten, Raum und steckte mich in einen noch kleineren Käfig, in dem ich mich kaum umdrehen konnte. Erst dann verarztete er sich seine verletzte Hand.

Mit Schrecken stellte ich fest, dass Nana mit im selben Raum war. Sie wurde auf den Metalltisch gehoben und hechelte vor Anspannung und Angst. Wenn sie nur gewusst hätte... Ich begann zu knurren. Diese Menschen waren kurz davor, ihr dasselbe anzutun, wie mir vor wenigen Tagen. Und ich konnte nichts dagegen ausrichten.

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