Kapitel 41 - Sam
Als ich erwachte befand ich mich wieder in dem Zwinger, in dem ich zuvor gelegen hatte. Mein Kopf schmerzte fürchterlich und mir war etwas schwindelig. Mühsam versuchte ich mich aufzurappeln, bis ich bemerkte, dass meine Glieder noch immer ganz steif waren. An die Wand gestützt zwang ich mich ächzend auf die Beine, die vor Schwäche zitterten.
Was war geschehen? Ich erinnerte mich an kaum etwas. Als ich mich etwas beruhigt hatte, kehrten einige Schatten der letzten Stunden in meinen Kopf zurück und in diesem Moment wäre ich lieber wieder unwissend gewesen.
Als erstes sah ich mich nach Nana um. Auch, wenn ich immer noch ein wenig wütend auf sie war, so sank mein Herz vor Enttäuschung in meinen Bauch hinunter, als ich bemerkte, dass sie nicht da war. Wann würde sie zurück kommen? Wenn sie überhaupt jemals wieder zurückkehrte.
Neben mir in dem Zwinger lag 393 und schlief, doch seine Flanken bewegten sich nicht. Ich schnappte nach Luft.
„393?", winselte ich. Plötzlich regte sich der alte Labrador und hustete fürchterlich. Seine schlimme Gesichtsseite hatte er mir zugewandt.
„Bist du es, 394?", fragte er schwach. Er sah insgesamt ziemlich abgekämpft aus. Was war mit ihm geschehen?
„Du kannst mich Sam nennen", antwortete ich. 393 sah traurig in die Gegend. Seine Augen waren ausdruckslos, als ob sie für ihn nicht mehr von Nutzen wären. Das war neu.
„Du bist blind!", jaulte ich entsetzt. Man musste ihm etwas Schreckliches angetan haben.
„Sam. Wie schön, dass sie dir noch nicht die Hoffnung entrissen haben. Ja, einer der Weißkittel hat ein Glas mit einer Flüssigkeit neben mir fallen lassen. Das Zeug stank so heftig und es war so giftig, dass es mir das Augenlicht raubte, als es mir ins Gesicht spritzte. Hey, ich wollte dir nur sagen-"
Das Gebell um uns herum wurde lauter und plötzlich ging die Tür zu dem Gang nach hinten auf. 393 sprach nicht weiter, sondern legte sich wider hin, als wolle er sich zwischen seinen Vorderpfoten verstecken, was allerdings nichts half. Zwei Weißkittel kamen herein und schritten mit langsamen, bedrohlichen Bewegungen auf unsere Zwinger zu.
„393 ist bei einem Unfall heute erblindet, Señor. Er ist uns für die Testreihen nicht mehr von Nutzen. Señor Laos hat geraten, ihn auf der Stelle einzuschläfern. Er wäre nur lästig, wenn wir ihn jetzt noch behalten würden."
Der andere Weißkittel nickte bedächtig und nahm das Schild von der Zwingertür, auf dem 393's Daten standen. Was war denn nun auf einmal los?
„Warten sie noch. Ich überzeuge mich von seinem Zustand. Vielleicht können wir ihn noch anderweitig einsetzen", er schloss die Käfigtüre auf und beugte sich über 393. Er packte ihn im Genick, riss ihn herum und begutachtete ihn wie eine Ware. Mit einem Winseln ließ 393 die Tortur über sich ergehen. Er hatte Angst, das spürte ich ganz genau.
„Nein, sie haben recht. Es ist wirklich besser, wenn sie ihn gleich einschläfern. Nicht einmal für die Diabetesforschung können wir den noch gebrauchen."
Der andere Weißkittel hatte schon eine Spritze in der Hand. Meine Güte, was hatten die vor? Ich verstand nicht, was einschläfern bedeutete. Doch dem zufolge, was die beiden gesagt hatten, wollten sie ihn wohl loswerden und das ging nur, wenn sie ihn...
„393! Lauf weg!", jaulte ich entsetzt. Der alte Labrador sah die Wand an.
„Es gibt nichts, was ich zu befürchten habe. Es ist besser, wenn ich nicht mehr bin. Ich habe schon vor langer Zeit die Lebenslust verloren."
Er verstummte, als einer der Weißkittel ihm eine Nadel ins Bein steckte. Er setzte die Spritze an und drückte ab. Nun konnte ich nur mit Tränen in den Augen zusehen, wie der alte Labrador langsam zur Seite kippte und dann einen letzten seufzenden Atemzug ausstieß.
„Sam, mein Name ist Tito..."
Ich sah zu, wie seine blinden Augen sich für immer schlossen und plötzlich sein Körper ganz regungslos wurde. Ich hatte mich noch nie so machtlos gefühlt. Noch dazu musste ich mit ansehen, wie der eine Weißkittel den Puls von Tito fühlte, nickte und dann seine Hinterbeine ergriff, um ihn aus dem Zwinger zu schleifen. Wütend bellte ich und sprang voller Zorn unaufhörlich gegen das Gitter. Es schepperte und ächzte, als ob es bald nachgeben würde.
„Stellen sie den Hund ruhig, Juarez!", rief der eine Weißkittel und schleifte Tito aus dem Käfig. Der andere holte eine Leine und kam damit zu meinem Käfig. Prompt hörte ich auf zu bellen und verkroch mich in eine hintere Ecke des Zwingers.
„Du wirst gleich gebraucht! Ich kann auch anders, also stell dich nicht so an!"
Ich knurrte und sträubte das Fell, wehrte mich aber nicht, als er mir die Leine anlegte. Ich wusste jetzt ja, was diese Menschen tun konnten, wenn sie dachten, dass ein Hund sich nicht mehr für ihre Spielereien eignete.
Er führte mich wieder in den Raum vom Vortag. Allerdings wurde ich dieses Mal nicht gefesselt, sondern einfach nur ausgestreckt auf den Tisch gelegt und sah dem Weißkittel zu, der sich über mich gebeugt hatte. Er fingerte mir auf unangenehme Weise an meinen beiden Brandwunden am Kopf herum und betupfte sie ständig mit irgendwelchen Mittelchen. Das tat gut, denn die kahlen Stellen an meinen Schläfen juckten und brannten, also wehrte ich mich nicht dagegen.
„Wir sollten vielleicht nächstes Mal etwas von der Kühlsalbe verwenden um so etwas zu vermeiden", sagte der Weißkittel. Erst jetzt bemerkte ich, dass mal wieder Señor Schmierig neben ihm stand und auf mich herabblickte.
Ihr müsstet gar nichts gegen Brandnarben unternehmen, wenn ihr diesen Mist in Zukunft einfach lassen würdet, dachte ich. Man schmierte mir eine durchsichtige Masse auf den Kopf und der Weißkittel holte ein Gerät, mit dem er mir über die kahlen Stellen fuhr.
„Er hat keinen Schaden genommen, sehen sie? Der Ultraschall zeigt keine Hämatome, geplatzte Kapillaren, oder andere Gefäße. Es ist fast ein Wunder, dass er so milde auf die Therapie reagiert hat. Ich glaube wir haben es hier wirklich mit einem außergewöhnlichen Fall zu tun!"
Wenn das irgendetwas für mich zu bedeuten hatte, hoffte ich, dass es etwas Gutes war. Jedenfalls drückte mir der Kerl noch eine Spritze unter den Pelz und hievte mich dann mit Señor Schmierig zurück in meinen verdreckten Zwinger. Wenigstens ließen sie mir etwas zu Essen zukommen. Daran hatten sie zum Glück gedacht, aber besonders hungrig war ich bei dem Gedanken nicht, dass an diesem Tag vor meinen Augen einer meiner Freunde umgebracht worden war. Und was noch viel schlimmer war: Er hatte sich darauf gefreut!
Mit wenigen Bissen schlang ich das ekelhafte, bröckelige Futter herunter. Es tat zu gut mal wieder etwas Richtiges zu Beißen zu bekommen. Egal, wie scheußlich es schmeckte, Hauptsache ich musste nicht hungern.
Ich fühlte mich ganz plötzlich so einsam, als ich in den leeren Zwingern neben mir die Gespräche mit Tito und Nana suchte. Tomtom saß zusammengekauert in einer Ecke seines Zwingers und wimmerte. Er hatte noch immer den Trichter um den Hals und an seinem Kopf fehlte noch mehr Fell. Wenigstens schien es ihn nicht mehr zu jucken.
„Hey, Kumpel!", bellte ich zu ihm hinüber. „Wie geht's deiner Nase?"
Tomtom sah niedergeschlagen zu mir herüber. „Kein Geruchssinn mehr. Nie wieder. Der eine Weißkittel meinte, dass ich irreparable Schäden genommen habe. Ich habe gesehen, was sie mit 393 gemacht haben. Ich habe Angst, Sam!"
Ich schluckte. Nicht auch noch Tomtom! Wo war nur Nana? Ich brauchte ihren Trost, ich brauchte ihre Wärme. Ich brauchte sie. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, sie zu ignorieren, wo sie doch die Einzige hier war, das noch genug Lebensfreude und Hoffnung in sich trug.Sie würde mich wahrscheinlich nie wieder ansehen wollen, nachdem ich ihr so die kalte Schulter gezeigt hatte.
„Wie ist es bei dir gelaufen?", fragte ein kecker Jack Russel Mischling, der die Nummer 404 verpasst bekommen hatte. „Wir haben dich letzte Nacht schreien hören. War es denn sehr schlimm?"
„Ich möchte nicht darüber reden, wenn es dir nichts ausmacht", winselte ich mit hängendem Kopf. 404 legte den Kopf schief und kratzte sich hinter einem Ohr.
„Warum nicht? War es so schlimm?"
„Ja, das war es", antwortete ich kurz.
„Echt?", fragte der Mischling. Ich seufzte genervt, als Tomtom ihm eine Kopfnuss gab.
„Zum Kuckuck, jetzt lass ihn gefälligst in Ruhe!", knurrte Tomtom den Kleinen an. 404 trollte sich in seine Ecke und schmollte.
„Entschuldige sein Verhalten, sie haben ihm irgendwie das Hirn verdreht", brummte der gestreifte Hund. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihn beim Wort nehmen sollte. Hier passierten so allerlei absurde Dinge, dass das noch eines der normalsten Sachen war, die ich mir vorstellen konnte.
Die Tür ging auf und zwei Weißkittel schleiften einen toten Boxer durch die Gasse. Vor seinem Maul triefte der Schaum, seine Augen waren weit aufgerissen und starrten ausdruckslos in zwei verschiedene Richtungen. Mit einem Schreckensschrei presste ich mich gegen die Gitterwand hinter mir. So viele tote Tiere an einem Tag (oder war es bereits Nacht?) zu sehen war mehr, als ich vertragen konnte.
Tito hatte Recht damit gehabt, dass ich ihm keinen Namen hätte geben sollen, denn ich merkte, wie ich dadurch, dass ich Nana und Tomtom bei ihren Namen nannte, langsam starke Gefühle für die beiden entwickelte. Wenn ihnen etwas geschähe, dann hätte ich mir das nie verziehen. Aber was hätte ich denn tun sollen?
„Jetzt mal ernsthaft. War es wirklich so schlimm?", fragte Tomtom mit schiefgelegtem Kopf. Ich musste mit einem Seitenblick auf den beleidigten 404 grinsen.
„Es war furchtbar! Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn du vom Blitz erschlagen wirst? Ich rate dir, es nie herauszufinden!"
„Wenigstens hast du deinen Geruchssinn nicht verloren."
„Noch nicht, Tomtom. Wer weiß, was sie noch alles mit mir anstellen werden?"
Wieder schlug mir das ständige Gebell auf die Nerven und ich versuchte ihm zu entkommen, indem im Kreis herum rannte. Nana war nicht hier. Sie war fort und Tito würde nie wieder zurückkehren. In meiner Verzweiflung jaulte ich in die Zwingergasse. Die anderen Hunde um mich herum, bellten mit schäumenden Mäulern.
Als meine Stimme heiser war, buddelte ich am Boden, bis mir die Pfoten sodass ich meine Pfoten wund scheuerte. Mein Fell war dreckverklebt und stank fürchterlich. Da half die Tatsache, dass meine Flöhe wie vom Erdboden verschluckt waren rein gar nichts.
Plötzlich erspähte ich graubraunes Fell in der Zwingergasse und Nanas süßer Duft strich mir um die Nase. Schwanzwedelnd sprang ich auf, um meine Freundin zu begrüßen. Sie sah erschöpft aus. Aber nicht allzu abgekämpft. Sie sah mich an und wedelte leicht mit ihrer hängenden Rute.
„Hey", wisperte sie mit gespitzten Ohren und begrüßte mich mit einem freundlichen schlecker durch das Gitter. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Sie war mir nicht böse, dass ich sie die letzten Stunden ignoriert hatte. Wie schön!
„Du meine Güte, wie siehst du denn aus?", hechelte sie mit großen Augen. Ich zuckte zusammen. Wie sah ich denn aus?
„Dir fehlt Fell an den Schläfen und deine Augen sind ganz verklebt", japste Nana. „Diese Weißkittel sollten sich schämen, einen Hund, wie dich, so zu verschandeln!"
Ich schätzte es sehr, dass sie mich nicht auch noch danach fragte, was man mit mir gemacht hatte. Ich wollte alles am liebsten ganz schnell wieder vergessen. Mein Kopf begann wieder zu schmerzen.
„Ich glaube, noch einmal halte ich das nicht durch", hechelte ich erschöpft. „Ich fühle mich noch immer ganz wackelig auf den Beinen."
„Du darfst nicht aufgeben, Sam", winselte Nana und drückte ihre Nase so fest durch das Gitter, dass es schmerzen musste. Ich berührte sanft ihre Nase, bevor ich meinen fürchterlich schmerzenden Kopf unter den Pfoten vergrub.
„Wir schaffen das. Erinnerst du dich?"
„Aber ich halte das nicht aus!", bellte ich mit Tränen in den Augen. „Wo bin ich hier? Was mache ich hier eigentlich? Ich komme hier nie wieder raus!"
Ich begann, wie wild an der Zwingertür zu buddeln. Eine meiner Krallen riss dabei aus ihrer Verankerung. Den Schmerz empfand ich nicht einmal mehr als unangenehm nach allen, was mir heute zugefügt worden war. Ohne zu jammern begann ich mir das Blut von der Pfote zu lecken, während Nana wimmernd an der Zwingerwand auf und ab trabte.
„So darfst du nicht denken, Sam!", winselte Nana neben mir und scharrte verunsichert am Gitter des Zwingers herum, als wolle sie sich zu mir hindurch graben. „Bitte! Lass mich hier nicht im Stich! Ich habe doch nur dich."
Ich hob den Kopf und blickte Nana an, die mit wund gescheuerten Pfoten hektisch am Gitter kratzte.
„Ich würde dich niemals im Stich lassen", wuffte ich leise. Nana legte sich und begann sich die wunden Ballen zu lecken. Ich quetschte meine verletzte Pfote durch das Gitter und legte sie auf eine von Nanas. Sie hörte auf, ihre Ballen zu lecken und blinzelte mich verwundert an.
„Niemals", brummte ich mit Nachdruck. Sie schenkte mir ein dankbares Lächeln und legte ihren Kopf sachte auf meiner blutigen Pfote ab. Ich wagte nicht, mich zu bewegen, so verzaubert war ich von ihrer liebevollen Geste. Schweigend verharrten wir, bis Nanas Atemzüge nach einiger Zeit langsamer und gleichmäßiger wurden. Selbst, wenn sie schlief, war sie noch immer wunderschön. Ich betete, dass dieser Moment nie vorbei ging. Dann schloss ich die Augen und schlief ein.
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