Kapitel 37 - Sam

Jede Geschichte hat Wendungen. Einige führen zum Guten, andere wiederum führen zu etwas Schlechtem. In meiner Geschichte gibt es mehrere Wendungen, leider gehören die meisten davon der zweiten Gattung an. Immer wenn ich dachte es ginge nicht mehr schlimmer, dann bewies mir das Schicksal, dass es doch sehr wohl noch schlimmer ging. Leider passierte das ganze hier auch noch mit vielen anderen Hunden, nicht nur mit mir und mit der Zeit fand ich Artgenossen, die mein Leid mit mir teilten.

Diego stieg in das Auto und fuhr an. Ich verstand nicht, warum er auf einmal so wütend auf mich war. Warum ließ er mich nicht einfach wieder frei? Warum sah er so verbissen aus und wohin brachte er mich? Ich verstand nichts von alldem. Sicher war nur, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte. Nach einer Weile hielt der Wagen an. Diego öffnete die Heckklappe und zog meinen Käfig heraus.

„Versteh' mich bitte nicht falsch, Sam. Ich mag dich und das bleibt auch so, aber dass du einen Menschen beinahe umbringst, egal was er dir auch antun wollte ist nicht mehr akzeptabel! Ich wünschte, ich könnte etwas anderes mit dir machen, aber ich brauche das Geld... Sorry, Kumpel!", er wandte sich um, als eine Stimme hinter ihm ertönte.

„Ah, der Nachzügler. Ich hoffe, das Tier ist nicht krank!", hörte ich einen Mann im weißen Kittel sagen. Der Kerl warf einen Blick auf mich. Er begutachtete mich wie eine Ware.

„Oh nein, der ist ganz bestimmt nicht krank. Er ist nur ziemlich gerissen, also Vorsicht!", sagte Diego und streckte seine Hand aus. Der Mann im weißen Kittel drückte ihm ein paar Papierscheine in die Hand und klopfte ihm auf den Rücken.

„Ein schönes Tier! Und diese Augenfarbe, also...danke. In letzter Zeit sind viele Hunde bei den Testreihen umgekommen. Hoffen wir, dass es mit dem hier anders wird", schon alleine bei dem Wort Testreihen sträubte sich mir das Fell. Wo war ich hier? Es stank fürchterlich nach scharfem Desinfektions- und Bleichmittel, nach Exkrementen und Angst. Verzweifeltes Miauen und Bellen und das Gekreische von Affen empfing mich, als man mich in ein großes Gebäude brachte.

Diego sah mir traurig hinterher. Warum tat er mir das an? Was hatte ich ihm je getan? Ich hatte ihn vor dem Schwarzen Mann gerettet und alleine deshalb hätte er mir schon dankbar sein sollen! Aber er stand nur da und sah weg. Er sah einfach nicht hin. Warum sah er nicht hin? Warum? Man trug mich in dem Käfig immer weiter weg und schließlich sah ich Diego nicht mehr. Ich stürzte in eine tiefe Depression. Warum half mir denn niemand? Warum sah niemand hin? Wenn niemals jemand hinsah, würde sich an meiner Situation nichts, aber auch rein gar nichts ändern!

Es stand jedoch fest, dass ich für meine Freiheit kämpfen musste! Geduldig wartete ich darauf, dass man die Käfigtüre öffnete, um mich heraus zu lassen. Ein Kerl im weißen Kittel - ich werde ihn einfach mal Weißkittel nennen – schob den Käfig am Boden zu einem engen Zwinger hin, der schmutzig war und nach scharfem Bleichmittel stank. Ich sprang heraus und wollte gerade über meinen Käfig aus meinem neuen Gefängnis heraus springen, da schlug mir der Kerl die Tür vor der Nase zu und lächelte unsympathisch.

„Du bleibst schön hier, 394!", er trug den Käfig zur Seite und ließ ihn scheppernd zu Boden fallen. Ich zuckte zusammen. Jetzt erst sah ich, dass ich nicht der einzige Gefangene war. Viele andere Hunde um mich herum jaulten, heulten, bellten, flehten um Freilassung. Ihre Stimmen klangen verzweifelt und voller Schmerz.

Neben mir ein alter, schwarzer Labrador mit einem Halsband, das die Aufschrift ‚393' trug. Wurde man hier nach Nummern benannt? An welch grauenhaftem Ort war ich denn dieses Mal gelandet? Ich sah mich um und entdeckte Tomtom, der einige Zwinger entfernt von mir saß und die Weißkittel auf Mark und Bein verfluchte.

„Na wartet, wenn ihr mich hier raus lasst, dann werde ich euch gehörig in den Hintern beißen. Den blauen Fleck könnt ihr dann euren Enkeln noch zeigen! Na wartet! Wenn ich euch erwische, ihr...!"

„Tomtom!", bellte ich überrascht. Der gestreifte Hund spitzte die Ohren und sah mich an.

„Sam el Valiente! Was machst du denn hier?! Ich dachte, du...du wärst...tot."

Ich sah an mir herunter. „Nee, ist noch alles dran! Aber es war echt knapp! Wo sind wir hier?"

Tomtom legte die Ohren an. „An einem der furchtbarsten Orte, die es für ein Tier geben kann. Glaub mir, du willst nicht wirklich wissen, was Menschen in ihrem Forschungswahn so alles mit uns Tieren anstellen...!"

Ich wollte gerade etwas entgegnen, da rührte sich der schwarze Labrador neben mir. Er drehte mir seinen Kopf zu und ich schrie vor Entsetzen laut auf. Es schien so, als fehlte ihm eine Gesichtshälfte. Die komplette linke Seite war kahl geschoren, verätzt und mit Narben übersät. Sein Ohr war nur noch ein stumpfer Fetzen. Wahrscheinlich hatte man es ihm einfach abgeschnitten.

„Ein schlimmer Anblick, nicht wahr?", winselte er. Ich schluckte und nickte. Dieses Grauen war einfach unbeschreiblich. Wie konnte man einen Hund nur so dermaßen zurichten? Der Eindruck, den ich mit der Zeit von den Menschen gewonnen hatte, verflüchtigte sich mit einem Mal. Wenn es nicht nur den Schwarzen Mann gab, der uns Hunde hasste und sie erst quälen wollte, bevor sie starben, dann schien die Welt ein noch grausamerer Ort zu sein, als ich zuerst angenommen hatte.

„Warum haben sie dir das angetan?", wimmerte ich. Mein Fell sträubte sich bei dem Gedanken, wie es wohl zu diesen Verunstaltungen gekommen war.

„Das ist nichts, worüber ich mit irgendjemandem reden möchte. Nichts gegen dich, aber das wirst du früher oder später selbst herausfinden..."

Das gefiel mir ganz und gar nicht. „Wie heißt du?", fragte ich.

„393", antwortete der Labrador. Ich rollte mit den Augen.

„Du wirst doch wohl noch einen anderen Namen haben, als 393, oder?

Ich meine, eine Zahl ist doch kein richtiger Name! Außer bei meinem Freund, Seven. Aber der ist eine Ausnahme!"

393 sah nachdenklich aus. „Ich hatte mal einen Namen. Früher, als ich noch jung war, doch dann brachte man mich hierher und ich habe ihn mit der Zeit vergessen. Vergib mir..."

Ich zitterte. Wie schlimm konnte es an einem Ort sein, dass man seinen eigenen Namen vergaß? Das einzige, woran man sich in einer solchen Situation klammern konnte. Das einzige, was einem noch Selbstvertrauen und Hoffnung gab? Nein, ich würde meinen Namen ganz bestimmt nicht vergessen!

„Soll ich dir einen Namen geben?", fragte ich, doch der Labrador knurrte mich an.

„Nein! Ich will nicht, dass irgendjemand Gefühle für mich hegt. Ich werde es nicht mehr lange machen und ich will nicht, dass die anderen bei meinem Verlust noch mehr leiden, als sie es sowieso schon tun!", das waren weise Worte, die er da sprach. Sie hätten beinahe von Trueno kommen können. Ich akzeptierte es einfach. Auch wenn es grausam klingen mochte, er hatte recht. Es zerriss mich beinahe, dass ich nichts für ihn tun konnte.

Plötzlich ging die Tür auf und drei Weißkittel kamen herein. Nein, nur zwei, denn einer von ihnen war Jake. Freudig wedelte ich mit dem Schwanz, auch wenn ich ihn eigentlich nie wieder hatte sehen wollen. Er kam um mich zu retten! Das verzieh natürlich alles, was er gesagt hatte. Doch leider kam er nicht, um mir wieder die Freiheit zu schenken.

„Der Neuzugang, er kriegt die Nummer 394. Sein Vorgänger ist gestern verendet. Hoffen wir, dass wir dieses Mal mehr Glück haben", einer der Weißkittel kritzelte etwas auf ein Schild, das an meinem Zwinger hing. Wie gerne hätte ich ihm seinen dämlichen Stift aus der Hand geschlagen, doch ich kam nicht an ihn heran.

„So, sie können ihn jetzt fertig machen, er braucht ein Bad und die Vorsorgeuntersuchung muss noch gemacht werden, Blut abnehmen, DNA-Analyse, um Erbkrankheiten auszuschließen, das Übliche Prozedere. Wenn er fertig ist, bringen sie in Raum 45a, ich kümmere mich dann um ihn! Sie können ihn gleich mitnehmen."

Jake öffnete die Tür und legte mir ein Halsband mit der Nummer 394 um. Er band mich an eine Leine und führte mich heraus. Ich wehrte mich nicht gegen ihn. Vielleicht wollte er mir ja doch helfen. Brav trottete ich mit ihm nach hinten und beachtete die Warnungen meiner pelzigen Genossen zuerst nicht.

„Lauf, Junge! Der will dich nach hinten bringen! Lauf, solange du noch kannst!", heulte ein zotteliger Schnauzer, dem eine Vorderpfote fehlte. Die andere war vollkommen verstümmelt und verätzt. Hoffentlich sah ich am Ende meiner Versuchstierkarriere nicht genauso aus.

Ich sah zu Jake hoch. Wenn er mich hätte retten wollen, dann hätte er mir sicher gut zugeredet. Ich fing an, mich gegen ihn aufzulehnen, doch egal, wie sehr ich mich auch wehrte, Jake schien das gar nicht zu interessieren. Er zerrte mich einfach weiter, zeigte mir im wahrsten Sinne des Wortes die kalte Schulter. Der Schnauzer hatte Recht. Das war nicht der Jake, den ich einmal kennen gelernt habe, dieser hier war kaltherzig und böse.

Als wir an der Tür ankamen, die unseren Zwingerraum mit einem anderen, seltsam riechenden trennte, stemmte ich meine Pfoten in den Boden und wehrte mich noch heftiger gegen Jakes Hand, doch der Boden war so glatt und rutschig, dass meine Pfoten keinen Halt darauf fanden. Mist!

Ich wurde durch die Tür nach hinten gebracht. Dort gab es eine Art Gang und immer wieder gingen Türen seitlich weg. Irgendwie kam mir alles ziemlich bekannt vor. Was ich sah war einfach grauenerregend! Affen, die gefesselt in engen Gestellen saßen, aus deren Köpfen Haken ragten, mit denen sie in ein Gestell eingehängt waren. In ihren Augen las ich, dass sie am liebsten sofort gestorben wären. Einige waren so verkabelt, dass man ihre Körper kaum mehr unter dem Kabelsalat erkennen konnte.

In einem weiteren Raum waren tausende Ratten und Kaninchen. Weiße Kaninchen und Ratten mit roten Augen. Richtig unheimlich sahen die aus. Die Ratten steckten in kleinen Glaskästen, in denen sie ihre Qualen aussitzen mussten, die Kaninchen saßen ebenfalls in engen Kisten, nur ihre Köpfe schauten heraus und ihre Ohren waren zottelig und sahen ungepflegt aus. In jedem Ohr der Kaninchen befand sich eine Ohrmarke mit einer Nummer darauf. Zahlen von 076 bis 157 konnte ich erkennen. Wie viele Tiere gab es hier eigentlich? Ich dachte an meine Nummer zurück. 394... Dann musste es auch eine 001 geben. Und dazwischen lagen mehrere hundert.

Ich sah gerade noch, wie einer der Weißkittel eine Ratte aus einem der Glaskästen grabschte und ihr eine fette Spritze in den Bauch drückte. Die kleine Ratte schrie erbärmlich und wurde dann wieder zurück in ihre Kiste gestopft. Ich merkte, dass sich mein Fell wieder aufstellte. Wieder und wieder versuchte ich mich loszureißen, aber es nützte alles nichts. Trotz meiner enormen Stärke konnte ich nichts ausrichten, wenn ich keinen festen Halt auf dem Boden fand. Schließlich kamen wir zu einem weniger beängstigenden Raum. Ein Badezimmer. Jake überließ mich seinem Kollegen und schloss die Tür hinter sich.

Na toll! Der einzige Mensch, dem ich einmal vertraut hatte, hatte direkt neben mir gestanden und mich nicht erkannt. Jetzt war er weg und ich konnte nichts mehr tun. Meine letzte Hoffnung war gepatzt. Wie...in meinem Traum. Ich setzte in Windeseile alle Teile meines Traums zusammen. Tatsächlich! Ich hatte wohl kurz einen Blick in meine Zukunft geworfen. Die vielen, auf engem Raum zusammengepferchten Tiere ließen darauf schließen, dass mein Traum mal wieder recht behalten hatte. Und wenn dem so war, dann sah ich schwarz für meine Zukunft.

Jakes Kollege nahm mir mein Halstuch ab, las den darauf geschriebenen Namen, grinste dümmlich und warf es in einen Mülleimer. Knurrend schnappte ich nach ihm. Eine Frechheit war das! Das konnte er doch nicht machen! Aber oh doch, das konnte er.

Er hob mich ohne großes Theater in eine Wanne und spritzte mich nass. Damit konnte ich leben. Das Wasser war angenehm warm und tat sogar gut. Ich war noch immer nicht ganz gesund, obwohl das Fieber sich schon deutlich besser anfühlte, als vor einigen Stunden. Die Schnittwunde an der Pfote war schon ziemlich gut getrocknet und durch die Wärme fühlte sich auch das schon etwas besser an. Jakes Kollege rubbelte mir kräftig übers Fell und durchnässte mich bis auf die Knochen...mehr war an mir auch nicht dran, außer Haut und Fell.

Ich merkte erst jetzt, wie mager ich war. Ich hatte schließlich seit mehreren Tagen nichts gegessen. Hoffentlich bekam ich hier etwas. Konnte ja sein. Mittlerweile übergoss mich der Kerl mit schäumendem Zeugs und rieb mich damit an jeder erdenklichen Körperstelle ein. Solange er mir nicht wehtat, sollte mir auch das recht sein. Irgendwann hörte er dann auf, mich einzuseifen und wartete. Ich schüttelte mich und der ganze Weißkittel hing voller Schaum. Ich grinste. Der Typ war da jedoch anderer Meinung.

„Warum muss immer ich den Deppen vom Dienst machen? Warum lassen sie nicht Señor Carter sowas machen? Aber nein! Lassen sie den einfach Señor Lazlo ran, der lässt ja alles mit sich machen!", er stöhnte gereizt auf und rieb sich mit einem Handtuch ab. Wenigstens war dieser Kerl hier disziplinierter, als die Hundefänger. Einer von denen hätte sicherlich sofort auf mich eingeschlagen. Wieder wurde ich nassgespritzt, wieder eingeschäumt, wieder wurde gewartet, wieder wurde abgespült. So konnte das ruhig noch eine Weile weitergehen, aber schon bald war das Glück vorbei.

Ich wurde aus der Wanne gehoben, schlampig abgetrocknet und ein bisschen mit warmer Luft trocken geföhnt. Ich war im siebten Himmel, wenn da nicht diese vielen Tiere gewesen wären, die von etwas ganz anderem zeugten. Dieser Gedanke brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Señor Lazlo leinte mich wieder an und zerrte mich zurück in den furchtbaren Gang. Ich wollte hier raus. Panisch zog ich zurück zur Tür, durch die wir in die Zwingergasse gekommen wären, doch da machte mir der Señor einen Strich durch die Rechnung.

„Nix da! Es geht hier lang!", brummte er, öffnete eine Tür zu einem Seitenzimmer und brachte mich herein. Der Weißkittel von vorhin stand in dem Raum und schrieb etwas in eine Akte. Als er uns sah, legte er den Stift zur Seite und sah Señor Lazlo fordernd an.

„Müssen wir bei ihm aufpassen? Oder hat er keine Probleme gemacht?", fragte er. Señor Lazlo räusperte sich und zerrte mich auf einen Tisch zu, der in der Mitte des Raumes stand.

„Ein ganz nettes Tier. Keine Angst, der macht nichts. Wahrscheinlich, weil er uns noch nicht kennt."

„Na dann wird sich das sicherlich bald ändern. Los, heb ihn hoch!"

Ich wurde hochgehoben. Der Weißkittel zog sich Handschuhe an. Das schnalzende Geräusch jagte mir einen Schauder über den Rücken. Ich merkte, wie mein Adrenalinspiegel anstieg. Hier stimmte etwas nicht. Ich traute dem Frieden nicht, als der Kerl mir am Nacken das Fell durchsuchte.

„Die Flöhe sind ganz gut weggegangen. Ich nehme ihm gleich Blut ab und verabreiche ihn dann ein Antiparasitmittel. Du kannst schon mal die Injektion vorbereiten", der Weißkittel ließ kurz von mir ab, um ein kleines Messer und eine Nadel zu holen. Das gefiel mir noch weniger, als die Tatsache, dass mir ständig die Bilder meiner verstümmelten Artgenossen im Hinterkopf saßen. Als er mich losließ wollte ich schnell abhauen, doch Señor Lazlo packte mich und hielt mich zurück.

„Señor Diego Picatrez hat uns doch gewarnt, dass das Vieh ziemlich gerissen ist. Er hatte wohl recht damit."

Er legte die Spritze zur Seite und widmete sich meiner Fixierung. Er griff über meinen Nacken und griff von unten an mein Halsband. Mit dem anderen Arm hob er meinen Kopf, sodass ich ihn nicht herumschwenken konnte.

„Vielleicht brauchen wir Verstärkung, wenn er Schwierigkeiten macht!", sagte der Weißkittel, schnappte sich meine Pfote, band sie mit einer Schlaufe eng ab, sodass es unangenehm pochte, suchte meine Vene und schabte mit dem Messer an der richtigen Stelle etwas Fell weg. Dann steckte er eine Nadel in mein Bein. Bei dem Stich winselte ich einmal laut, doch der Griff von dem Assistenten wurde nur noch fester. Ich fing an vor Unruhe zu zappeln.

„Gut, gleich haben wir's!", sagte der Weißkittel und hob ein kleines Röhrchen an die Nadel, aus der mein Blut in kleinen Tröpfchen in das Röhrchen floss. Ich konnte da nicht hinsehen. Immer wieder schlug ich mit meiner Pfote, doch der Weißkittel hielt sie fest. Dann zog er die Nadel endlich aus meinem Bein, drückte mit einem Tupfer auf die Stelle, an der die Nadel gesteckt hatte und löste die Schlaufe. Erleichtert leckte ich dem Assistenten das Gesicht.

„Bäh, böser Hund! Ich will gar nicht wissen, wo du zuletzt deine Schnauze hattest!", er klopfte meinen Kopf unsanft weg. Der Weißkittel ging nun an meine Schnauze. Er hob eine Lefze und sah sich meine Zähne an.

„Er hat wohl irgendetwas erbeutet. Zwischen seinen Zähnen ist Blut und ich glaube kaum, dass es sein eigenes ist", ja, da hatte er recht. Es war tatsächlich nicht meines...

„Er hat etwas Zahnstein. Na ja, nicht so wichtig. Falls er sich für die Versuchsreihe eignet, bräuchte er eigentlich überhaupt keine Zähne mehr. Ach ja, ich muss Señor Carter daran erinnern, dass er den neuen die Fangzähne noch ziehen muss!"

„Wie bitte?", knurrte ich entsetzt, „Die Fangzähne ziehen? Hey, aber ohne mich, Freundchen!"

Ohne meine Fangzähne war ich nur ein halber Hund. Und zur Not konnte ich mich nicht einmal wehren. Da plötzlich verstand ich, was sie damit bezwecken wollten.

„Du kannst ihm was zu Fressen geben, wenn ich den Abstrich gemacht habe. Ich brauche noch Zellen für die DNA-Analyse."

Der Assistent ließ los und ging zu einem Schrank.

„Soll noch irgendwas ins Futter gemischt werden? Antiparasit, oder Antibiotikum?"

„Warte kurz! Er hat Fieber. Die Temperatur ist auf 39,9°C hoch. Das könnte am Stress liegen, aber eine Krankheit ist nicht ganz ausgeschlossen, wenn die Temperatur fast 2°C zu hoch ist (*bei Hunden ist die Normaltemperatur ca. 38°C). Du kannst eine halbe Tablette von dem Antibiotikum rein mischen. Das wird das Fieber senken!"

Der Weißkittel nahm die Spritze, die der Assistent vorbereitet hatte und drückte die mir in den Rücken, dann schnappte er sich eine Art Wattestäbchen und fuhr damit einmal an der Innenseite meiner Lefze entlang. Tat nicht wirklich weh, war einfach nur unangenehm.

„So, das sollte genügen!"

Er warf griff an meinen Kopf und legte zwei Finger unterhalb und oberhalb eines meiner Augen an, dann hielt er damit mein Auge auf und sah es sich an.

„Eine seltsame Augenfarbe, nicht wahr? Der hat entweder Husky oder Australian Shepherd in sich! Nur diese beiden Rassen haben ein Gen, das blaue Augen geben kann, egal welche Fellfarbe sie haben. Eine seltene Erscheinung. Pupille leicht geweitet, das liegt am Stress, sonst alles in Ordnung. Jetzt müssen wir noch die Blutwerte und die DNA analysieren. Gib ihm jetzt das Futter und bring ihn dann zurück. Morgen fangen wir dann, wenn er sich eignet mit den Testreihen an!"

Der Weißkittel notierte wieder etwas in die Akte, klappte sie zu und verließ den Raum. Der Assistent brachte mir etwas zu Essen. Hungrig stürzte ich mich darauf. Innerhalb von zehn Sekunden war alles weg, außer einer kleinen, weißen Kugel, die ich absichtlich ausgespart hatte. Der Assistent schaute in den Napf und sah dann mich an. Ich setzte meine Unschuldsmiene auf und legte den Kopf schief. So nach dem Thema: Wenn du willst, dass ich das eklige Ding schlucke, musst du schon mehr drauf haben!

So sehr er auch versuchte, kühl zu wirken, er musste einfach lächeln. Er tätschelte mir den Kopf und füllte noch etwas Futter nach. Wieder war alles in kürzester Zeit weg, nur die kleine Pille lag noch immer im Napf. Señor Lazlo nahm sie heraus und wickelte sie in ein Stück Wurst. Ich schnappte mir die Wurst und schluckte sie herunter. Siegessicher stemmte Señor Lazlo die Hände in die Seiten. Mit schelmischem Blick sah ich ihn an, senkte den Kopf etwas und wieder kullerte die kleine Kugel vor mir auf dem Tisch. Wieder legte ich den Kopf schief. Jetzt fand der Assistent es aber nicht mehr lustig. Er öffnete mir das Maul, steckte die Kugel tief in meinen Rachen und strich dann über meinen Hals. Schluck...weg war sie. Mist! Hätte ja klappen können. Jedoch hatte der Kerl inzwischen eine gewisse Sympathie zu mir entwickelt. Er lachte, als ich geschluckt hatte und ihn verdattert ansah.

„Schade, dass heute mein letzter Tag hier ist, sonst hätte ich dich gerne befreit, du armer!", sagte er und kraulte mich zwischen den Ohren. Er ging weg? Und ließ mich hier alleine? Warum hatte ich nur so viel Pech? Warum nur?

Er leinte mich wieder an und führte mich in den Zwinger mit der Nummer 394. Wir kamen dabei an Tomtoms Zwinger mit der Nummer 400 vorbei. Mein armer Freund sah gar nicht gut aus. Überall hatte man ihm Fell abrasiert und er sah aus, wie ein halb gerupftes Huhn - mit Streifen. Seine grünen Augen waren trüb und an seinem Kopf hing eine Art Trichter, weil man ihm etwas auf die Stirn getropft hatte. So sehr Tomtom auch versuchte, sich zu kratzen, es gelang ihm einfach nicht.

„Oh Gott, so hilft mir doch einer!", heulte er verzweifelt. „Es juckt so schrecklich! Macht das wieder weg! Macht das wieder weg!", er rannte ziellos in seinem Käfig umher und knallte gegen die Wände, doch er konnte sich nirgendwo kratzen. Wie gemein.

Ich rollte mich in einer Ecke meines Käfigs zusammen. Ich hatte Angst und das laute Gebell machte mich total kirre. Ich wollte irgendwie dem Lärm entkommen und fing an, mich sinnlos im Kreis zu drehen, doch nirgendwo war es ruhiger. Schließlich bellte ich selbst voller Verzweiflung, denn wenn man selbst mit bellte, dann schien es um einen herum nicht mehr so laut zu sein.

„Mein Gott, haltet endlich die Schnauze!", schrie einer der Angestellten, doch das änderte nichts. Die Hunde bellten weiter so laut sie konnten. Neben mir brachte man eine hübsche Hündin mit der Nummer 379 in ihren Zwinger zurück. Die Zahlen schienen hier nicht geordnet verteilt zu werden.

„Hey! Wer bist du denn?", fragte ich sie. Sie war ein Border Collie mit graubraun geflecktem Fell und wunderschönen, hellblauen Augen, die eine unglaubliche Tiefe ausstrahlten.

„Nana", antwortete sie. „Aber du kannst mich ruhig 379 nennen! Und du?"

„Sam", knurrte ich, „Glaubst du wirklich, dass du einfach deinen Namen verlierst, nur, weil so ein Schwachkopf ihn durch eine x-beliebige Zahl ersetzt hat? Was ist dir passiert? Du siehst nicht so aus, als wärst du auf der Straße aufgewachsen."

Nana blinzelte. „Nein, das stimmt. Ich hatte ein wundervolles Zuhause, doch dann, eines Nachts war ich alleine draußen unterwegs, weil meine Herrin mich versehentlich ausgesperrt hat. Und dann kam jemand, hat mich am Halsband gepackt und mich einfach mitgenommen."

„Bestimmt der Schwarze Mann", murmelte ich.

„Wie bitte?", fragte Nana.

„Das war mit Sicherheit der Schwarze Mann. Er entführt Hunde aller Art und tut ihnen schreckliche Dinge an. So wie er mir schreckliche Dinge antun wollte."

„Nun ja, er hatte schwarze Kleidung an. Könnte auch sein, dass es jemand anders war. Ich bin nicht so sehr mit den Mythen von euch Straßenhunden vertraut, musst du wissen. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke... Er hatte Narben im Gesicht."

„Das war er", wuffte ich düster. „Sein Gesicht ist gezeichnet von seiner unglaublichen Brutalität. Er hat meine halbe Familie getötet, doch mein Großvater hat ihm im Gesicht einige hübsche Souvenirs als Andenken hinterlassen."

„Aber das ist ja schrecklich!", japste Nana erschüttert. Ich legte mich zu ihr und sah in ihre wunderschönen, blauen Augen. Nur das Gitter unserer Zwinger trennte uns.

„Glaube mir, ich habe Glück, dass ich noch lebe und du auch! Ich bin mir sicher, dass der nicht davor zurück schreckt, jedem beliebigen Hund das Licht auszuknipsen, wenn er Lust dazu hat! Ich bin froh, dass es mich hierher verschlagen hat. Hier passiert ja nichts Schlimmes, außer, dass man an jeder erdenklichen Körperstelle abgetastet wird."

Nana schüttelte ängstlich den Kopf und begann zu zittern. „Du wirst sehen. Bald schon wirst du dir wünschen, dass du unter dem Messer deines Schwarzen Mannes umgekommen wärst, als hier, in dieser Hölle zu verrotten. Hier ist man nicht darauf aus, dich zu töten, sondern dich so lange wie nötig am Leben zu halten. Irgendwann wirst du am Ende deiner Kräfte sein und dein Lebensgeist wird dich vor Qualen verlassen. Dann wirst du von den Weißkitteln nicht mehr gebraucht und einfach wie Abfall entsorgt."

Ich hatte plötzlich ein ganz mieses Gefühl in meinem Hundebauch. Nachdenklich legte ich mich mit dem Rücken gegen das Gitter, das Nana und mich trennte. Sie tat es mir nach. Ihre Wärme tat mir gut nach all dem Stress der letzten Tage.

„Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht beunruhigen", wuffte sie leise und schob sachte ihre Nase durch das Gitter, um mein Ohr an zu stupsen. „Das wollte ich wirklich nicht."

„Ich glaube dir. Aber ich befürchte, dass alle Hoffnung für mich verloren ist, jemals wieder frei zu sein", brummte ich und wandte meinen Kopf ab. Meine Laune war so tief in den Keller gesunken, dass ich es in diesem Moment für klüger hielt, einfach nichts zu sagen.

Nana hinter mir winselte leise und ich meinte zu hören, wie sie sich mit ihrer Pfote, peinlich berührt, übers Gesicht fuhr.

„Meine Mutter sagte immer, dass die Hoffnung erst dann verloren ist, wenn man den Mut verliert."

Meine Ohren spitzten sich unmerklich. Ich hob den Kopf und sah zu der wunderschönen Hündin auf, die mich erwartungsvoll anblickte.

„Sie hat recht", entgegnete ich. „Ich bin auf der Straße aufgewachsen. Hätte ich aufgegeben, als mein Rudel kein Futter mehr finden konnte, dann wären wir jetzt alle tot."

Nanas Augen wurden groß. Sie hatte nie auf der Straße gelebt. Ich musste für sie wie ein Überlebenskünstler wirken. Aber nein. Ich war als Straßenhund genau so abhängig von den Menschen gewesen, wie sie selbst. Aber ihre Neugierde ehrte mich.

„Warum kämpft ihr nicht für eure Freiheit?", fragte ich. „Wenn es hier so schrecklich ist, warum wehrt ihr euch denn nicht? Ihr könnt sie doch einfach beißen, wenn es euch zu bunt wird."

Nana schüttelte vehement mit dem Kopf. „Ich bin ein guter Hund! Gute Hunde beißen nicht! Außerdem wissen wir, dass es sowieso keinen Ausweg gibt und dass wir umso schlechter behandelt werden, wenn wir uns wehren. Viele haben es versucht, glaub mir. Schau ihnen doch in die Augen. Sie alle waren einmal wie du, doch sie alle mussten einsehen, dass ihre Zeit gekommen ist. Hier gibt es keine Hoffnung mehr."

„Gute Hunde beißen nicht und gute Menschen quälen keine Tiere", lächelte ich verschmitzt. „Ich sehe keinen Grund, warum diese Menschen es nicht verdient hätten. Es hört sich für mich eher so an, als hättest du den Mut schon aufgegeben."

Nana grunzte ungehalten. Es schien, als wolle sie etwas sagen, fand jedoch nicht die richtigen Worte dafür.

„Hey, das war nur ein Scherz", lachte ich. Die Hündin blickte mich erst verständnislos an, dann musste auch sie schmunzeln. Mein Herz hüpfte, als ich sie zum ersten Mal lachen sah. Es war, als tanzten Funken in ihren wundervollen, himmelblauen Augen und für einen Augenblick verschwamm die Welt um uns herum.

„Hast ja recht", wuffte sie. „Komm, erzähl mir etwas von dir! Wie ist das Leben in Freiheit?"

Ich sog scharf Luft ein. Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet gewesen. Niemand hatte mich je danach gefragt.

„Wie es auf der Straße ist?", fragte ich, „Es ist meist recht anstrengend. Man ist die ganze Zeit auf Futtersuche, wenn man nicht verhungern will. Man wird von Menschen verjagt, weil sie Straßenhunde nicht leiden können und wenn man Pech hat, schläft man tagelang im Regen. Von den Flöhen ganz zu schweigen."

Nanas Gesichtsausdruck hatte sich indes von interessiert zu deprimiert gewandelt. Ich hatte selbst nicht gemerkt, wie negativ ich mein Leben auf der Straße in Erinnerung behalten hatte.

„Aber das ist nicht alles", fuhr ich fort, um die Situation zu retten. „Du kannst gehen, wohin du willst. Du kannst Löcher graben, du kannst alles beschnüffeln und du kannst Menschen um Futter anbetteln, solange du möchtest. Keiner sagt dir, wann du nach draußen gehen darfst und keiner sagt dir, was du zu tun oder zu lassen hast!"

„Du hast so ein Leuchten in den Augen, wenn du davon sprichst", brummte Nana neben mir. Überrascht blickte ich zu ihr hinüber.

„Wirklich?", fragte ich. „Wie ist es denn als Haushund gewesen?"

„Es ist wundervoll!", platzte es aus Nana heraus, „Mein Frauchen ist die Beste! Sie kümmert sich so liebevoll um mich, wie meine eigene Mutter. Sie krault mich, füttert mich und sie spielt mit mir. Sie geht mit mir spazieren und wenn ich brav bin, darf ich sogar nachts bei ihr im Bett schlafen!"

„Du hast mit einem Menschen in einem Bett geschlafen? Sie hat dich nicht mit Sachen beworfen oder nach dir getreten?", bellte ich verwirrt. Nana wackelte lachend mit den Ohren.

„Sie liebt mich. Und ich liebe sie. Ich würde alles für sie tun, wenn sie dadurch nur glücklich ist. Ich meine – ich würde, wenn ich nicht hier gefangen wäre."

Ein seltsames Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Ich hatte nie darüber nachgedacht. Aber auch ich hatte Jake sehr lieb gewonnen. Doch hatte ich ihn auch geliebt? Ich hatte immerhin ohne zu zögern mein Leben für ihn riskiert. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, war das äußerst schwer zu beurteilen.

Aber eines konnte ich durchaus sagen: Nanas Nähe beruhigte mich. Ihre aufmerksame, liebenswerte Art, ließ mich das Drecksloch, in dem ich steckte, für einen Moment vergessen. Ich setzte mich auf und legte eine Pfote an das Gitter. Nana sah erwartungsvoll zu mir auf.

„Wir schaffen das hier. Wir kommen hier wieder raus", wuffte ich leise. „Und dann finden wir deine Herrin. Ich bringe dich zu ihr."

„Es ist schön, dass du versuchst, mich aufzuheitern", bellte Nana sanft, „Ich bin froh, dass du hier bei mir bist."

Nana legte mit traurigem Blick ihre Pfote von der anderen Seite des Gitters an die meine. Wir beide wussten, dass weder sie noch ich so einfach hier raus kamen. Für einen Moment saßen wir einfach so da und sahen uns in die Augen. Und in diesem Moment wurde mir bewusst, dass sie mehr für mich war, als nur eine nette Gesprächspartnerin. Sie bedeutete mir etwas. Wahrscheinlich mehr, als es für einen Ort wie diesen, angemessen gewesen wäre.

„Was sie dir auch antun, Sam, bitte lass mich hier nicht alleine!", flehte sie. „Du bist für mich der letzte Funke Hoffnung an diesem trostlosen Ort."

„Das werde ich nicht, versprochen!", brummte ich leise, ohne meinen Blick von ihr abzuwenden, „Denn du – Nana - du machst mir Mut."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top