Kapitel 16 - Pablo

Heute Nacht würde ich es wagen. Heute Nacht würde ich entkommen. Ein für allemal fliehen aus dieser Hölle der Unterdrückung. Ich lag in meiner Zelle und starrte die Decke an, starrte ins Dunkel und lauschte, ob der Boss in den Gängen herum schlich. Wenn ich heute Erfolg haben wollte, durfte er mich auf gar keinen Fall bemerken.

Die Nacht erhob sich gen Himmel. Es war Neumond. Ich hatte mir etwas Mut angetrunken und wartete nur auf den richtigen Moment. Meine Flucht war schon lange geplant, alles war genauestens berechnet. Wenn ich das Gelände verließ würde es so dunkel sein, dass kein Mensch mich sehen konnte. Aber wollte ich wirklich alleine gehen? Mich aus dem Staub machen, wie ein Feigling? Ich erhob mich und tappte barfuß zur Tür, um ein Ohr dagegen zu pressen.

Vereinzelt Hundegebell, sonst Stille. Ich zog meine Schuhe an, packte all mein Erspartes und meine Klamotten in meinem Rucksack zusammen und schlich hinaus. Roberto würde mich niemals alleine gehen lassen wollen, also klopfte ich leise an seiner Tür, um mich zu verabschieden.

„Was gibt's denn Boss – äh - Pablo!?", murmelte er verwundert, als er verschlafen die Tür öffnete, „Pablo, was ist los? Weißt du, wie spät es ist?"

„Ich haue ab", flüsterte ich, „Kommst du mit?"

Roberto steckte den Kopf in den Gang, sah sich um und zerrte mich dann in seine Zelle. Hinter uns schloss er die Tür, dann leuchtete er mir mit seinem Handy ins Gesicht und packte mich an der Schulter.

„Was soll das? Bist du verrückt geworden? Du willst abhauen? Was ist, wenn der Boss davon Wind bekommt?"

„Der sitzt an unseren freien Tagen doch eh immer nur in seinem Zimmer und starrt seine Trophäen an."

„Pablo! Das ist total bescheuert!", rief Roberto entrüstet, „Du weißt, wie gefährlich das ist! Du weißt, wie gefährlich er ist. Du weißt genauso gut auch, was er alles mit uns anstellt, wenn herauskommt, dass wir auch nur an Flucht gedacht haben."

Ich schüttelte mich aus Robertos Griff frei und ging zur Tür. Mein Entschluss stand fest und nicht einmal er konnte mich jetzt noch an meinem Vorhaben hindern.

„Es ist mir egal, was er mit mir anstellt, wenn er mich erwischt! Die Chance, dass ich entwische, ist um einiges größer. Ich habe dich gefragt, ob du mitkommst. Wenn du nicht willst, gehe ich alleine! Es ist mir egal, wie viele Verluste ich noch ertragen muss, aber ich möchte nicht sehen, wie er einen Menschen nach dem anderen vor meinen Augen zerbricht und sie zu willenlosen Marionetten macht!"

„Pablo, warte!", rief Roberto. Er griff nach seinem Rucksack. Ich drehte mich zu ihm um und sah, wie er lieblos all seine Habseligkeiten hineinstopfte, dann stand er hinter mir und nickte.

„Ich hoffe, du weißt, dass ich diese Idee hasse, aber ich lasse dich nicht alleine gehen! Wenn dir etwas passiert, dann könnte ich mir das nie verzeihen!"

„Es würde dich nur die ersten Wochen kümmern und dann langsam verblassen. Mein Verlust wäre kein großer für dich, ich bin auch nur ein Mensch!"

„Pablo! Das ist nicht wahr, das weißt du doch! Du bist mehr als nur ein Kollege für mich. Du bist wie - wie ein Bruder für mich."

„Komm jetzt! Wir dürfen keine Zeit verlieren."

Wir schlichen uns an den Zellen der anderen vorbei und ich bemerkte, wie Roberto sehnsüchtig seufzte, wann immer wir an einer weiteren Zelle vorbeikamen. Er wollte seine Kollegen nicht einfach so zurücklassen, das wusste ich. Er war einfach zu sensibel und genau das war sein Problem.

„Jetzt bitte nicht an die anderen denken!", sagte ich trocken, „Die kommen klar! Wenn zu viele fliehen, dann fliegen wir auf. Lass sie zurück, die werden schon noch davon kommen, wenn wir es ihnen vormachen."

Roberto wischte sich einige Schweißperlen von der Stirn und nickte dann. So leise wie nur irgend möglich drückten Roberto und ich uns an der Wand entlang, obwohl das gar keinen Sinn ergab, denn wenn der Boss jetzt vorbei gekommen wäre, dann wären wir in dem schmalen Gang so oder so entdeckt worden. Im Treppenhaus machte ich kurz Halt, weil ich gemeint hatte, dass unten eine Tür zugeschlagen worden war, doch da war nichts, außer Stille.

„Da war jemand!", flüsterte Roberto. Er hatte es also auch gehört. Dann war da also wirklich etwas oder jemand.

„Was macht ihr beiden Knalltüten denn da?"

Roberto und ich schrien vor Schreck auf, denn hinter uns stand Jorge und musterte uns mit gehobener Augenbraue. Sein Blick wanderte zu unseren Rucksäcken und er verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ihr wollt uns verlassen?", fragte er mit deutlich säuerlichem Unterton. Ich starrte in die Ferne, keine Antwort parat, um ihm zu widersprechen.

„Warum habt ihr uns nichts davon erzählt?", fragte Jorge mit Nachdruck, „Wir hätten euch helfen können!"

Roberto wachte wie aus einer Trance auf. „Du willst nicht mit uns kommen?"

„Nein. Euer Vorhaben ist total bescheuert. Der Boss ist wie ein Schießhund. So erwischt der euch mit Sicherheit. Wir hätten euch vielleicht den Rücken freihalten können, wenn ihr uns rechtzeitig Bescheid gegeben hättet."

„Wo sind Bill und Diego?", fragte Roberto.

„Unterwegs. Haben Nachtschicht!", antwortete ich, anstelle von Jorge, der uns noch immer mit vor Wut geröteten Wangen anstierte.

„Kannst du uns nicht doch noch ein bisschen beistehen? Vielleicht indem du ihn für eine Zeit lang ablenkst?", fragte Roberto Jorge, doch der schüttelte den Kopf.

„Du glaubst doch nicht, dass ich alleine mit dem in einem Raum bleibe. Nicht mal zehn tollwütige Bulldoggen bringen mich dazu, länger als zwei Minuten mit diesem Psychiatriefall zu reden!"

„Wir kriegen das alleine hin!", rief ich und sprang mit einem unangenehmen Kribbeln im Bauch die ersten Treppenstufen hinunter, „Viel Spaß noch hier, du alter Feigling! Wenn alle hier so wären wie du, dann könnten wir uns auf niemanden mehr verlassen!"

Im Nu war ich vom dritten in den zweiten Stock geschlichen, Roberto gab Jorge noch einmal einen freundschaftlichen Handschlag und folgte mir dann. Der andere stand oben und beobachtete uns, wie wir im Dunkeln die Treppenstufen hinunter wandelten.

„Pablo?", rief er leise. Ich sah nach oben, wo er stand und zögerte, „Bitte nehmt nicht die Hintertür. Wenn er euch irgendwo zuerst suchen wird, dann dort!"

Dann verschwand Jorge in Richtung Flur. Auf seinen Rat schlichen wir zum Haupteingang. Die Tür war jedoch abgesperrt. Leise wie Katzen schlichen Roberto und ich dann zur Hintertür. Ich stockte, als diese ebenfalls verschlossen war.

„Ich weiß, wo ein Schlüssel ist", sagte Roberto mit einem Blick auf die gefürchtete Bürotür vom Boss. Ich murrte und stapfte zum Haupteingang, doch der war ebenfalls verschlossen.

„Ich geh jetzt da rein und klau ihm die verfluchten Schlüssel", sagte ich und schleuderte den Rucksack zu Boden, „Wenn das jemand schafft, dann ich!"

„Pablo, hast du Drogen genommen? So kannst du doch nicht reingehen, der sieht doch sofort, was du vorhast!"

Trotz Robertos verzweifelten Versuchen, mich aufzuhalten, war ich schon an der Tür und klopfte leicht. Ich durfte jetzt bloß keine falschen Eindrücke erwecken. Ich betrat auf Rons patziges herein den Raum und stellte mich mitten ins Zimmer, da ich ihn nicht auf Anhieb sehen konnte.

Er lag auf seinem Schlafsofa und starrte die Wand an, ohne Notiz von mir zu nehmen. Er sah irgendwie traurig aus und einen Moment lang wusste ich nicht, ob ich nicht doch gleich wieder verschwinden sollte. Doch der Moment war zu lang und meine Anwesenheit wurde zur unangenehmen Spannung im Raum. Ron blickte über die Schulter und schwieg einen Augenblick. Als ich nichts sagte rollte er mit den Augen.

Mit einem Mal waren meine Zweifel verschwunden.

„Was ist?", fragte Ron.

„Kann nicht schlafen", antwortete ich kurz angebunden mit den Schultern kreisend.

„Bist du etwa betrunken?", fragte Ron, seine Stirn in Falten gelegt mit einem abwertenden Lächeln.

„Nicht weniger als du auch! Aber was kümmert's dich?", knurrte ich und taumelte zu seinem Schnapsschrank. Ron sprang auf und stellte sich vor mich.

„Ich denke für heute hast du genug. Geh schlafen!"

„Lass mich!", rief ich und drückte mich an ihm vorbei. Den kurzen Moment, den er brauchte, um sich zu mir umzudrehen nutzte ich, um zum Schlüsselbrett zu stolpern, das direkt neben dem Schnapsschränkchen hing. Hier zahlte sich meine gespielte Volltrunkenheit aus. Ich griff nach einem der beiden Schlüssel und schnappte ihn schneller, als man mit menschlichem Auge hätte sehen können. Keiner hatte es bemerkt.

Ron stürzte hinter mir her, um mich aufzufangen, als ich zu Boden fiel. Er zerrte mich hoch, drehte mich zur Tür und gab mir einen leichten Stoß, dann erstarrte er, als er mich genauer ansah.

„Gehen wir heute noch irgendwo hin?", fragte er skeptisch. Sein Blick lastete wie ein glühendes Eisen auf meinen Schultern. Ich drehte mich zögerlich um und merkte, wie meine Beine unwillkürlich zu zittern begannen.

„Ja.Nein, ich meine...nirgendwo bestimmtes. Ich wollte was trinken, damit ich schlafen kann, aber wenn du willst, dass ich morgen den halben Tag verschlafe-"

„Du hast Schuhe an und Straßenkleidung. Bist du sicher, dass du nichts mehr vorhast?", Ron kam langsam auf mich zu, bis sein Gesicht direkt vor meinem war. Jetzt keine Angst zeigen. Ich hoffte, dass ich ausgerechnet jetzt keinen Schweißausbruch erlitt.

„Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, mich umzuziehen. Glaubst du wirklich, ich wäre so dumm und würde bei dir so aufkreuzen, wenn ich wirklich fliehen wollte?"

„Wer hat denn etwas von Fliehen gesagt, Pablo?"

Mein Herz stand für einen Moment still, als mein Gehirn sich in Panik eine Ausrede zusammenbraute.

„Man weiß auch ohne dass du es aussprichst genau, auf was du hinaus willst", entgegnete ich trocken, „Kriege ich nun etwas zu Trinken oder willst du mich morgen aus dem Bett prügeln müssen?"

Ron musterte mich mit zusammengekniffenen Augen und seinen typisch steinernen Zügen.

„Glaub ja nicht, dass ich dir weiter traue, als ich spucken kann!", zischte er mir zu und reichte mir ein Glas Wasser, dessen Inhalt ich mit trockener Kehle hinunterkippte. Als ich fertig war, drückte ich ihm das Glas in die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und stakste mit zittrigen Beinen hinaus auf den Flur, wo Roberto bereits auf mich wartete.

„Und, hast du den Schlüssel?", fragte der.

„Scheiße, ich glaube, ich habe den Schlüssel für die Hintertür erwischt. Egal. Wir müssen uns höllisch beeilen, ich glaube, er hat eine Ahnung."

„Ach du Schande! Ich wusste, dass das eine miese Idee war!", zischte Roberto und riss mir den Schlüssel aus der Hand, „Was ist denn da drinnen passiert?"

„Keine Zeit für Erklärungen! Wir müssen hier raus!"

Wir packten unsere Sachen und eilten zur Hintertür. Mit zittrigen Fingern versuchte Roberto den Schlüssel ins Schloss zu stecken, doch er fiel ihm aus der Hand, sodass er einen zweiten Anlauf brauchte. Es klappte jedoch erst beim dritten Mal.

Atemlos sahen wir uns an, als der Schlüssel passte. Ich drängte mich vor Roberto, um als erster den Geruch der Freiheit schnuppern zu können und ich öffnete die Tür mit einem vorfreudigen Grinsen in Robertos Richtung. Als ich jedoch einen Schritt hinaus tat, stieß ich dort mit jemandem zusammen, der dort im Rahmen gelehnt und offensichtlich auf uns gewartet hatte. Ich schrie auf, als ich erkannte, wer es gewesen war und vor Schreck wurden meine Glieder ganz schwer.

Ein dunkles Lachen hallte in der Luft wieder und ich meinte fast, dass alle Dämonen mit ihm lachen würden. Dass sie über mich und meine Dummheit lachten, in der ich Roberto auch noch mit ins Verderben gezogen hatte.

„Ihr haltet euch für ganz schlau, nicht wahr?", lachte Ron, „Ihr dachtet wohl, ihr könnt mich austricksen und ich würde es nicht bemerken!"

Der Boss griff nach mir, dann spürte ich etwas Kaltes um mein Handgelenk, das sich so eng zusammenzog, dass es schmerzte und pochte. Plötzlich riss er mich herum, packte mein anderes Handgelenk und zog ebenfalls etwas darum herum zu, sodass meine Hände hinter dem Rücken gefesselt waren.

Roberto machte es Ron da nicht so einfach. Er schlug um sich, doch der Ron war geschickt und schneller, als der breite, massige Roberto und wich seinen Schlägen so geschickt aus, dass ihn kein einziger traf. Stattdessen ging er auf Robertos Schwachstellen los, nahm Anlauf und rannte ihm mit seiner Schulter voraus in die Magengrube hinein. Roberto knallte gegen die Flurwand hinter sich, bevor Ron ihm dann einen harten Kinnhaken verpasste. Als Roberto sich wieder aufrichten wollte, kniff Ron ihm jedoch in die Furche zwischen Schulter und Hals. Mein bester Freund war vor Schmerz wie gelähmt und riss den Mund zu einem hilflosen, stummen Schrei auf.

„Gibst du auf?", schrie Ron. Roberto nickte stumm, doch Ron drückte noch fester zu, sodass der arme Roberto stöhnte.

„Ich sagte: Gibst. Du. Auf?!"

„Ja!", schrie Roberto mit Tränen in den Augen, „Ja! Ja, ich gebe ja auf! Verdammt! Ich gebe ja auf! Du scheiß Psychopath!"

Roberto kippte wimmernd zur Seite und Ron ließ endlich los, dann zog er einige Kabelbinder aus seiner Tasche, und fesselte Roberto ebenfalls. Nachdem er fertig war, stand er auf und kam zu mir herüber. Er stand kurz einfach nur da und starrte auf mich herab, dann ging er in die Hocke, riss meinen Kopf am Schopf hoch und sah mir in die Augen.

„Und ich Vollidiot habe noch versucht, nett zu dir zu sein! Das werde ich mir merken, mein Freund, das werde ich mir merken!", er patschte mir leicht auf die Backe, dann öffnete er die Tür, zerrte mich heraus und fesselte mir auch noch die Beine.

„Wenn du unbedingt frei sein willst, dann bitte! Du bist frei, wenn du es schaffst bis morgen früh von hier zu verschwinden. Viel Glück!"

Damit knallte er die Tür hinter sich zu und verriegelte sie wieder. Was er danach mit Roberto angestellt hat, weiß ich nicht. Er hatte am nächsten Morgen jedoch ein blaues Auge und zahlreiche blaue Flecken am ganzen Körper.

Bill und Diego kamen nach nicht allzu langer Zeit von ihrem Fangzug zurück. Sie hätten mich sicherlich losgebunden, wenn ich sie darum gebeten hätte, doch der Boss war durch das Hundegebell geweckt worden. Er behielt sie genau im Auge, sodass niemand auch nur auf die Idee kam, mir zu helfen.

Die Nacht war an diesem Tag besonders kalt und regnerisch. Ich schaffte es gerade so, unter ein Vordach zu robben, sodass ich nicht nass wurde.

Ich würde nicht mehr versuchen zu fliehen, denn es gab kein Entkommen. Es war nahezu unmöglich, den Boss auszutricksen und ich hatte weder die Intelligenz, noch das Durchhaltevermögen, um mir noch einmal einen solchen Fluchtplan auszudenken. Jetzt war es vorbei. Ich hatte die Hoffnung vollkommen aufgegeben.

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