S i x | The kiss

≫How could I ever forgive you?≪
Im Vergleich zu diesem Tag kam Giselle der letzte vor wie das Vorbereitungslevel zu einem Horror-Videospiel. Schon am frühen Morgen begann der Tag mit einem schrecklichen Erlebnis.
Kaum fünf Sekunden nachdem Giselle um halb sieben ihren lärmenden Wecker durchs Zimmer geschleudert hatte, klingelte ihr inzwischen zutiefst verhasstes Handy. Mit verquollenen Augen tastete Giselle danach und ging grummelnd ran.
„Ja?", krächzte sie gereizt.
„Guten Morgen, Sonnenschein!"
„Nein!" Giselle legte schnell wieder auf. Es reichte ja schon, dass sie so früh aufstehen musste, da brauchte sie nicht auch noch so früh am Morgen ein Gespräch mit Alexander.
Leider war sie jetzt aber viel zu wach um wie üblich noch ein paar Minuten zu schlafen, also strich sie sich die verknoteten Haare aus dem Gesicht, zwang sich zum Aufstehen und schaffte es, eine halbe Stunde später an der Bushaltestelle zu stehen.
Als Ausgleich fürs frühe Aufstehen hätte sie zur Abwechslung mal gescheit mit ihrer Mutter frühstücken können, doch Giselle war nicht in der Stimmung gewesen, um mit ihr Zeit zu verbringen. Nicht, nach dem was gestern war. Während sie also nun auf den Bus wartete, betrachtete sie den Himmel. Zu ihrer Zufriedenheit erkannte sie, dass keine Wolke sich dort die Zeit vertrieb. Wenigstens würden ihre Haare heute trocken bleiben.
Doch Giselle wartete und wartete und wurde zunehmend genervter. Der Bus hatte nun schon zehn Minuten Verspätung und ihre Beine begannen, weh zu tun. Nach fünfzehn Minuten schnaubte Giselle auf und beschloss, einfach zu laufen. Ihre Mutter war gerade so komisch, dass sie sie lieber nicht bitten wollte, sie zur Schule zu fahren.
Mit griesgrämiger Miene lief Giselle los, doch sie kam nicht sehr weit. Ein Auto hupte neben ihr und sie machte einen erschrockenen Satz. Dann starrte sie wütend dem Auto nach, doch zu ihrer Verwunderung blieb es stehen und als das Mädchen daran vorbeimarschierte, rief eine Stimme:
„Giselle!"
Das Blut gefror ihr in den Adern. Sie hatte diese Stimme schon so lange nicht mehr gehört. Sie wandte sich langsam um und sah die Frau, die sich aus dem Fenster hängte und ihr zuwinkte. Anders als ihre Kinder hatte sie Haare von der Farbe von Zartbitterschokolade und eine wunderschöne, dunklere Haut.
„Dich habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen!"
Giselle lächelte unsicher. „Hallo, Mrs. Giant." Ihr Blick fiel auf den Rücksitz, von dem aus Alexander ihr zugrinste.
„Möchtest du nicht mit uns mitfahren?", fragte Mrs. Giant herzlich und deutete auf den Rücksitz. Dahinten? Mit Alexander? Niemals.
„Nein, danke, Mrs. Giant. Ich laufe gerne." Lüge.
„Ach nein, das muss doch nicht sein. Alexander, mach doch bitte die Tür auf und lass Giselle rein." Giselle erinnerte sich, dass Mrs. Giant schon immer beinahe zu aufdringlich und freundlich gewesen war. Das Mädchen hatte wirklich keine Lust, mitzufahren, doch sie brachte es nicht übers Herz, zu widersprechen.
Mrs. Giants dunkle Rehaugen strahlten sie so freundlich an, dass sie keine andere Wahl hatte, als sich neben Alexander auf die Rückbank zu quetschen. Sie spürte Alexanders Blick ständig auf sich, doch sie starrte stur nach vorne und lauschte Mrs. Giants Reden darüber, wie sehr sie Giselle doch in ihrem Haus vermisst hatte.
Dumpf fragte sich Giselle, ob die Frau wusste, was ihr Sohn getan hatte, und schlug nebenbei Alexanders Hand weg, die sich an ihren Oberschenkel gewagt hatte. Es war Giselle ein Rätsel, wieso Alexander sie wieder für sich haben wollte.
Er hatte es verbockt, er war fremdgegangen. Doch seither versuchte er immer, in ihrer Nähe zu sein, redete mit ihr, wollte sie berühren und wieder mit ihr zusammen sein. Giselle jedoch war noch so wütend und in ihrem Stolz verletzt von seiner Tat, dass sie ihn nicht einmal ansehen wollte.
„Ach, da sind wir ja schon", lachte Mrs. Giant und hielt endlich den Wagen an. „Ich wünsche euch einen schönen Tag. Grüß mir lieb deine Mama, Giselle!"
Giselle lächelte und bedankte sich brav, versprach, die Grüße auszurichten und winkte ihr dann zum Abschied. Kaum war sie weg, warf sie Alexander einen Todesblick zu und rauschte von ihm weg zur Schule.
„Wenn du mich beim Telefonieren hättest ausreden lassen", sagte Alec betont langsam und nervig und eilte ihr hinterher, „dann hättest du gewusst, dass der Bus heute ausfällt."
„Ach, halt doch die Schnauze", fauchte Giselle.
„Ist es schon wieder vorbei mit dem Liebesglück?", ertönte eine schnarrende Stimme und beide wandten sich um. Chelsea kam auf sie zustolziert und warf achtungheischende Blicke durch die Gegend.
„Oh, Chelsea! Wie ich sehe, bist du den Eiskaffee losgeworden!"
Chelsea verengte die Augen zu winzig kleinen Schlitzen, was sie noch dämlicher aussehen ließ. „Glaub ja nicht, dass diese Schlampe Anastasia mir Angst gemacht hat. Das Foto hat in der Zeit, als es online war, die ganze Schule gesehen. Alle wissen von eurem kleinen Techtelmechtel. Tschüdeldü!"
Sie wedelte mit den Fingern und stolzierte wieder davon. Giselle war die Hitze ins Gesicht gestiegen und sie war kurz davor, etwas nach Chelseas wackelndem Arsch zu werfen, doch Alexander hielt sie am Arm zurück.
„Hör auf, Giselle. Bist du etwa so scharf auf noch mehr Nachsitzen? Ich hatte ja eher nicht den Eindruck, dass du das gestern so geil fandest."
Giselle stierte ihn mit vor Zorn verzerrtem Gesicht an. „Fass mich nicht an", zischte sie und riss sich von ihm los. „Ich hasse dich, Alexander Giant, also lass mich in Ruhe." Ohne einen Blick zurück stapfte sie zu ihrem Klassenzimmer.
Tatsächlich schaffte Giselle schon wieder, Nachsitzen zu bekommen. Sie war an diesem Tag so gereizt, dass sie eine Lehrerin anschrie, sie würde sie und ihr dämliches Fach hassen.
Das Fehlen ihrer Freunde und Alexanders aufdringliches Verhalten schlugen stark auf ihre Nerven. Außerdem hatte gefühlt jede Person auf der verdammten Schule das Foto gesehen.
Überall gab es nur ein Gesprächsthema: Waren Alexander Giant und Giselle Hellet wieder zusammen? Hatten sie es wirklich auf der Schultoilette getrieben?
Von dem, was Giselle heute von Alexander sah, trug er auch nicht gerade dazu bei, die Gerüchte auszuheben. Er begnügte sich mit schelmischem Grinsen und geheimnisvollen „Wer weiß"s.
Beim Mittagessen hatte Giselle sich demonstrativ zu Fray an den Tisch gesetzt, der sie zwar die ganze Zeit genervt und mit Fragen gelöchert hatte, aber immer noch eine angenehmere Gesellschaft war als Alec.
Doch nun, als sie sich zum Nachsitzen in dem richtigen Raum einfand, und Alexander an einem der Tische sitzen sah, wurde ihr klar, dass sie ihm nicht mehr aus dem Weg gehen konnte. Mit zusammengekniffenen Lippen ging sie zu einem Tisch, möglichst weit entfernt von Alexander. Seine Blicke klebten an ihr wie Sekundenkleber.
Alec war heute noch schlimmer als gestern, was Giselle weder verstand noch gefiel. Die Lehrerin, die Giselle vorhin angschrien hatte, kam in den Raum.
„So ihr zwei. Ich muss noch auf eine Klasse nebenbei aufpassen, also komme ich nur ab und zu vorbei. Ich lasse die Tür offen", sagte sie und starrte Giselle an, wie eine Kröte eine Fliege anstarrt. Nur ein wenig feindseliger.
Kaum war die Lehrerin wieder aus dem Raum verschwunden, stand Alexander auf und ließ sich auf dem Platz direkt neben Giselle fallen.
„Also, Zuckerschnäuzchen", sagte er langsam. Giselle weigerte sich, auf so einen widerlich süßen Namen zu reagieren. „Lass uns über unsere vermissten- beziehungsweise nicht vermissten- Freunde reden. Ich habe mich ein wenig umgehört und scheinbar weiß niemand mehr, dass sie existiert haben."
„Was?!", fragte Giselle bestürzt und drehte sich nun doch zu ihm um. „Wie kann das sein? Wie kann niemandem auffallen, dass sechs Leute einfach so verschwinden?!"
Alexander zuckte die Schultern und kratzte sich im Nacken. „Das habe ich mich auch schon gefragt, aber mein dringenderes Problem ist eher, die Frage, wie wir sie finden. Ich halt nicht mehr lange ohne meine Freunde hier durch."
Giselle nickte langsam, doch die Tatsache, dass er über sie beide sprach, als gäbe es noch ein „wir", irritierte sie.
Als hätte Alec ihre Gedanken gelesen, seufzte er und sagte: „Giselle, ich... ich hatte gehofft..."
Giselle verengte die Augen und rückte etwas von ihm ab. Ihr schwahnte Übles. „Sag es nicht, Alexander", sagte sie schneidend und warf ihm einen warnenden Blick zu.
Zu ihrer Überraschung sagte er tatsächlich nichts. Er biss sich auf die Lippe, und bevor Giselle es kapierte, beugte er sich vor. Er legte seine Hand an ihren Hinterkopf und presste seine Lippen auf ihre.
Geschockt konnte Giselle für eine Sekunde nichts tun, spürte nur seine weichen Lippen, die sich noch so vertraut und so richtig anfühlten, und in diesem Moment wollte sie sich ihm hingeben.
Dann erwachte ihr Gehirn aus der Starre und Bilder und Gefühle überfluteten sie, die ihr das Herz zerfraßen. Ein bitterer Geschmack mischte sich unter das Süße seiner Lippen und es war falsch, sie waren falsch, diese Berührung war falsch. Sie biss zu, schmeckte Blut, stieß ihn zurück und sprang auf.
„Giselle, ich hatte doch nur gehofft, du könntest mir verzeihen!", rief Alexander verzweifelt und hielt sich dann fluchend die Lippe. Giselle starrte ihn an und spürte den Hass in ihrem Herzen.
„Wie könnte ich dir jemals verzeihen?"
Sie rannte aus dem Raum, auf die Mädchentoilette, wo sie sich in einer Kabine einschloss. Immer noch überfluteten sie die Erinnerungen an seinen Fehler, an die Tat, die sie zerstört hatte.
Sie spürte die heißen Tränen kaum, die ihre Wangen herunterliefen. Alles was sie wusste, war, dass diese Lippen sich nie wieder auf ihre legen durften. Sie wusste, dass sie diesen Schmerz nie wieder spüren wollte.
Und sie wusste, dass Alexander niemals von dem Moment erfahren durfte, in dem ihr Herz ihn erkannt hatte. Er durfte nie wissen, dass sie gezögert hatte, dass er für einen winzig kleinen Augenblick wichtig gewesen war.
(1568 Wörter)
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