Kapitel 31
Lächelnd tippte ich den letzten Satz und vollendete mit einem abschließenden Punkt meine Bachelorarbeit.
Zufrieden sah ich auf mein fertiges Werk. Wie eine Besessene hatte ich die letzte Woche daran gearbeitet, hatte kaum geschlafen, nur nebenbei gegessen und sonst so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt gehabt. Meine volle Konzentration galt den fünfundvierzig Seiten meiner Arbeit, die einfach perfekt werden sollte. Sie kamen mir zwar vor wie hundert, aber es waren tatsächlich "nur" fünfundvierzig.
Jetzt fühlte ich mich komplett ausgelaugt, aber erleichtert, dass der Großteil der Arbeit geschafft war. Heute würde ich zwar noch einmal eine Nachtschicht einlegen müssen, um alles Korrektur zu lesen, aber morgen könnte ich die Bachelorarbeit endlich abgeben und der Spuk wäre vorbei.
Ich beschloss, dass ich mir eine Pause redlich verdient hatte und warf einen Blick auf die Uhr. Eigentlich sollte ich mal wieder etwas essen. Seit dem Frühstück hatte mein Magen nichts mehr abbekommen und das war jetzt fast acht Stunden her.
Da die plötzliche Erkenntnis sofort auch das Hungergefühl mit sich brachte, beschloss ich, mir etwas zu essen zu holen, bevor ich selbst kochen musste. Wobei mein Kühlschrank so leer war, dass ich noch nicht einmal Zutaten zum Kochen gehabt hätte. Morgen müsste ich nach der Abgabe erst einmal einkaufen gehen, so viel stand fest.
Als ich nach draußen trat, sog ich erst mal tief die frische Luft in meine Lungen und genoss das Kitzeln der Sonnenstrahlen in meinem Gesicht.
Ich hatte die letzten Tage noch nicht einmal die Wohnung verlassen, hatte mir teilweise auch einfach das Essen liefern lassen. Ich schüttelte den Kopf über mich selber. Es war doch immer das Gleiche mit mir, wenn ich unter Zeitdruck stand.
Ich lief zu dem Thailänder bei mir um die Ecke und bestellte mein Essen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, mich einfach hinzusetzen und hier zu essen, aber ich musste so schnell wie möglich mit der Überarbeitung anfangen, wenn ich bis morgen fertig werden wollte.
Nawin, der Besitzer des Restaurants, kam lächelnd zu mir.
"Wagst du dich auch einmal wieder aus dem Haus?", fragte er grinsend, aber so leise und mit einem leichten Akzent, dass ich ihn kaum verstand.
Ebenfalls lächelnd, nickte ich. "Aber nur kurz, ich muss gleich wieder zurück und weiterarbeiten. Aber du warst letzte Woche meine Rettung", gab ich offen zu. Ich hatte nicht nur einmal bei Nawin angerufen, um Essen zu bestellen.
"Stets zu Diensten", meinte er spielerisch und deutete eine kleine Verbeugung an, als auch schon mein Essen fertig war und ich mich verabschiedete.
Höchste Zeit, sich fünfundvierzig Seiten über Salvador Dalís Destino und die Unterschiede der Zeit in Bild und Film zu widmen.
____
Die Nacht war kurz gewesen. Wirklich kurz.
Nach einer ganzen Woche, in der ich kaum geschlafen hatte, sah ich dementsprechend aus. Die Haare hatte ich nur zu einem leicht zerzausten Pferdeschwanz hochgebunden, ich hatte dunkle Ringe unter den Augen und mich gab es nur mit Kaffeebecher in der Hand.
Trotzdem fiel mir ein Stein vom Herzen, als ich das Unigebäude wieder verließ, in dem Wissen, dass ich einen großen, zeitintensiven Teil meines Studiums gerade abgegeben hatte.
Ich stand also vor dem Unigebäude, meinen Coffee to go in der Hand und schloss die Augen vor Erleichterung und einfach, weil ich so hundemüde war.
"Ciao, Ceil." Überrascht öffnete ich die Augen und blickte direkt in Fabios warme, braune Augen.
"Was machst du denn hier?"
"Welch herzliche Begrüßung." Fabio lachte leise und ich schmolz dahin. Schlimme Sache. Ganz schlimme Sache.
Ich blieb stumm, weil er mir meine Frage noch nicht beantwortet hatte. Und weil ich so müde war, dass mein Hirn nur schwer einen vollständigen Satz formulieren, geschweige denn ordentlich denken konnte.
"Ich hole dich ab, deswegen bin ich hier."
Irritiert sah ich Fabio an. "Aber wieso?"
"Weil du jetzt mit mir mitkommst und dann erst mal etwas zu essen bekommst. So wie ich dich kenne, hast du die letzte Woche kaum was gegessen", erklärte er und lag damit gar nicht mal so falsch.
"Aber du musst arbeiten", war das einzige, was mir in dem Moment einfiel. Es war Freitag. Fabio arbeitete nur montags nicht, wenn das Restaurant geschlossen hatte. Aber selbst dann war er meistens in der Küche und probierte neue Gerichte.
"Heute nicht", sagte Fabio jedoch nur schlicht, legte dann den Arm um mich und schob mich sanft vorwärts.
Heute nicht.
Dann hatte er sich also frei genommen?
Extra für mich.
Bei dem Gedanken wurde mir ganz warm ums Herz und ich musste mich zusammenreißen, dass ich mich nicht beim Gehen an Fabio kuschelte. Das war auch das höchste der Gefühle, was ich an Widerstand in meinem müden Zustand aufbringen konnte. Vielleicht hätte ich mich aus seiner halben Umarmung winden sollen. Vielleicht hätte ich die Nähe zu ihm nicht so genießen sollen. Aber ich tat es und bereute es keine Sekunde.
"Bist du zufrieden mit deiner Bachelorarbeit?", begann Fabio ein Gespräch und ich musste mich kurz auf den Smalltalk einstellen.
"Ja. Doch, ich bin zufrieden. Sollte ich auch, nach der krassen Woche, die ich deswegen hinter mir habe", gab ich erschöpft lächelnd zur Antwort und spürte, wie mich Fabio kurz ein kleines bisschen enger zu sich zog, als würde er mich aufmunternd drücken wollen.
"Was war eigentlich dein Thema?", wollte er wissen und kurz schmerzte mich die Erkenntnis, dass er so etwas früher als erster erfahren hätte.
"'Salvador Dalís Destino. Unterschiede in der Darstellung der Zeit in Bild und Film.' 1945 haben Dalí und Walt Disney einen Film begonnen - Destino, was so viel wie Schicksal heißt. Er dauert nur sieben Minuten, aber ich habe tatsächlich fünfundvierzig Seiten darüber schreiben können. Jetzt kannst du dir also in etwa vorstellen, wie viele Details es zu beachten und interpretieren gab. Typisch Dalí eben." Kurz stutzte ich, bevor ich schelmisch grinste. "Dalí kennst du doch wohl hoffentlich?", ärgerte ich Fabio dann ein klein wenig.
"Auch wenn ich von Kunst keine Ahnung habe, sind mir seine zerfließenden Uhren doch von der Schulzeit im Kopf geblieben. Du Frechdachs", fügte er hinzu und grinste mich an. "Wenn deine Bewertung gut ist, les' ich deine Arbeit vielleicht sogar mal", neckte er mich weiter.
"Hallo? Natürlich wird meine Bewertung gut!", gab ich gespielt entrüstet von mir.
"Daran hab ich keine Sekunde gezweifelt." Fabios Augen ruhten auf mir und ich hielt seinen Blick kurz fest, bevor wir uns wieder auf unseren Weg konzentrieren mussten. Zum Schluss rannten wir noch gegen eine Straßenlaterne oder so.
"Wo gehen wir eigentlich hin?", wollte ich dann wissen.
"Zu mir."
Schlagartig schien meine Müdigkeit wie verflogen.
"Nach Hause?", fragte ich irritiert nach und Fabio sah mich mit einem unergründlichen Lächeln an.
"Ja, nach Hause", bestätigte er meine Worte und ließ sie so tiefgründig klingen, dass mir ein wohliger Schauer über den Rücken lief.
Nach Hause.
Zu Fabio.
In seine Wohnung.
Ich musste mir eingestehen, dass ich mehr als neugierig war, zu sehen, wie er wohnte.
Kurz schwiegen wir und ich versuchte, diese Information zu verarbeiten. Wenn Fabio und ich vor drei Jahren die Möglichkeit gehabt hätten, alleine in seiner Wohnung zu sein... Wir hätten nicht nur geredet.
"Was hast du vor?" Ich musste einfach wissen, worauf ich mich einließ, damit ich mich wenigstens ein klein wenig vorbereiten konnte. Was zum Geier würde mich erwarten, wenn ich Fabios Wohnung betrat?
"Neugierig und ungeduldig wie eh und je", schmunzelte Fabio. "Lass dich doch einfach mal überraschen!"
Ich gab einen missmutigen Laut von mir und brachte Fabio damit zum Lachen.
"Sagst du mir dann wenigstens, wie weit es noch ist?"
"Nur noch da vorne um die Ecke", sagte er und deutete auf die nächste Straßenkreuzung.
Geheimnisvoll grinste er, ging einfach unbeirrt weiter und sagte nichts mehr. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Früher waren wir auch immer Arm in Arm durch die Stadt geschlendert, doch heute war alles anders. Und das musste ich mir einfach merken.
"Hier", sagte Fabio dann plötzlich und zog mich durch ein Gusseisentor, das in einen Hinterhof einiger Hochhäuser führte. In der Mitte war ein fest montierter Wäscheständer aus Holz, an dem weiße Bettlaken hingen und sanft im Wind hin und her wehten. In einer Ecke stand ein Kinderfahrrad, daneben ein Café-Tisch und zwei Stühle.
Fabio ging voraus zu einem der Eingänge, sperrte die Tür auf und ließ mich als erstes eintreten. Es war ein altes, aber modernisiertes Gebäude, die Holzstufen der Treppe noch original und neulich geölt, aber trotzdem so abgewetzt, dass sie nicht mehr zu retten waren.
"Wo geht's hin?", fragte ich und sah über meine Schulter, als Fabio mich in dem Moment erreichte und wieder seinen Arm um meine Hüfte legte.
"Ganz nach oben", grinste er dann und wir machten uns an den Aufstieg. Als wir uns dem vierten Stock näherten, begann ich leise zu röcheln und mir war schwindlig. Ich hätte doch frühstücken sollen, dachte ich.
"Wie viele Stockwerke gibt es?", fragte ich atemlos und musste kurz stehen bleiben. Fabio sah mich besorgt an. Dann grinste er schief.
"Immer noch keine Kondition, unglaublich", lachte er leise und schüttelte den Kopf. "Wir müssen in den fünften Stock. Aber komm, ich trag dich", bot er an.
"Nein, ich kann selber gehen", protestierte ich und marschierte stur weiter. Fabio hatte mich früher immer huckepack getragen, wenn ich selber zu müde zum Laufen war. Und der Gedanke war eigentlich ziemlich verlockend. Aber ich wollte nicht so verdammt schwach wirken. Und ich wollte nicht zu nah an Fabio hängen, dann würde ihm mein pochendes Herz nur auffallen. Also kämpfte ich mich die letzten Stufen bis ins Dachgeschoss.
Fabio warf mir immer wieder amüsierte Blicke zu. Oben angekommen kramte er seine Schlüssel hervor, sperrte die Tür auf und ließ mir den Vortritt.
Fabios Wohnung war auf den ersten Blick irgendwie ganz anders als ich sie mir vorgestellt hatte, aber trotzdem passte sie zu ihm. Sie war kuschelig, heimelig, aber das konnte auch an der Mansarde liegen, die automatisch für Gemütlichkeit sorgte. Klassische Dekogegenstände gab es keine, dafür war fast jeder freie Zentimeter mit Büchern übers Kochen ausgefüllt. Fabio war noch nie eine wirkliche Leseratte gewesen. Er nahm nur ein Buch in die Hand, wenn es ihn auch interessierte und deswegen ging es darin schon früher meistens um Chemie oder ums Kochen.
"Setz dich doch", forderte mich Fabio auf und zeigte auf die bereits leicht abgenutzte braune Ledercouch. Dankbar ließ ich mich fallen und merkte, wie die Erschöpfung mich sofort in die Horizontale ziehen wollte. Da das keine Option war, lehnte ich nur meinen Kopf hinten an, schloss die Augen und genoss den warmen Lichtstrahl, der durch das schräge Dachfenster fiel, während Fabio die Terrassentür aufmachte, ein lauwarmer Wind hereinwehte, und ich hörte wie er seine Musikanlage anmachte. Spotify-Playlist, bestimmt.
"Hey, nicht einschlafen!", hörte ich Fabios Stimme sanft sagen und automatisch legte sich ein Lächeln auf meinen Mund.
"Niemals", beteuerte ich, wusste aber genau, dass ich locker innerhalb der nächsten zweieinhalb Sekunden schlafen könnte. Ich hörte Fabios leises Lachen, das sich langsam von mir entfernte. "Hast du vielleicht ein Glas Wasser für mich?", rief ich ihm mit geschlossenen Augen nach.
"Ich hab was viel besseres." Fabios Stimme kam wieder näher und blinzelnd öffnete ich die Augen.
Er setzte sich neben mich, stellte eine Servierplatte auf dem Tisch ab, die abgedeckt war und eine Flasche Wein daneben.
Amüsiert hob ich eine Augenbraue. "Wein um die Uhrzeit? Es ist gerade mal elf Uhr, Fabio."
"Aber zu dem Essen passt nichts anderes. Außerdem gibt's ja auch was zu feiern, da können wir eine Ausnahme machen", argumentierte er grinsend. Für einen Italiener war 'elf Uhr' wahrscheinlich eh viel zu spät, um mit dem Weintrinken anzufangen. "Aber keine Sorge, Wasser hab' ich auch. Ich will dich ja nicht abfüllen." Er zwinkerte mir zu und stand noch einmal auf, um zu einem Schrank im Wohnzimmer zu gehen und sowohl zwei Weißweingläser als auch zwei Wassergläser herauszuholen. Diese stellte er auf dem Tisch ab und holte eine Wasserflasche, die offenbar in der Küche gleich um die Ecke stand, sodass er mich die ganze Zeit im Auge behalten konnte.
"Was ist da drunter?", wollte ich wissen und war schon drauf und dran, die Abdeckung anzuheben, als mich Fabios Stimme zurückfahren ließ.
"Finger weg, Ceil! Lass dich doch einmal überraschen!", schimpfte er amüsiert mit mir.
"Okay, okay! Ist ja schon gut." Abwehrend hob ich die Hände und ließ mich wieder in die Couch zurücksinken.
Gekonnt öffnete Fabio den Wein und schenkte uns beiden ein. Ich beobachtete jede seiner Bewegungen, die so beherrscht und bedacht waren, mich trotzdem aber vollauf faszinierten. Ich konnte von Fabios Anblick einfach nicht genug kriegen.
"Und du willst diesen fantastischen Geschmack tatsächlich mit Wasser neutralisieren?", neckte mich Fabio, schenkte mir aber trotzdem ein. Ich trank das Glas gleich halb leer. Bevor ich auch nur an Wein denken konnte, musste ich irgendwie ein bisschen eine Grundlage schaffen, sonst wäre ich nach den ersten drei Schlucken schon stockbesoffen.
"Also. Du hast mir Essen versprochen." Mit Essen war bei mir nicht zu spaßen. Außerdem hatte ich inzwischen doch ein bisschen Appetit.
"Du kriegst Essen, keine Sorge, aber erst..." Fabio ließ den Satz verklingen und nahm nur ein Tuch von der Couchlehne, das bis dahin einfach dort gelegen hatte, ohne dass ich ihm große Beachtung geschenkt hatte. Fragend sah ich ihn an.
Er wollte doch wohl nicht etwa...
Geheimnisvoll lächelnd beugte er sich zu mir und hielt meinen Blick fest, bis er von dem Tuch unterbrochen wurde. Er knotete das Tuch fest und schon war meine Welt in Dunkelheit getaucht.
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Leute, ihr müsst euch echt den angehängten Kurzfilm reinziehen xD
Salvador Dalí und Walt Disney haben gemeinsam mit der Produktion dieses Films begonnen. Er dauert 7 Minuten und ja - man kann tatsächlich eine ganze Bachlorarbeit darüber schreiben xD
Viel Spaß beim Anschauen! ;)
Tyskerfie & HeyGuys77
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