Kapitel 26

"Ceil?" Ein wenig verhalten und extrem vorsichtig kam Antonia in die Küche. Wahrscheinlich hatte sie Angst, Fabio und mich wieder in einer unpassenden Situation zu erwischen, aber inzwischen herrschte hier Hochbetrieb, also war das eher unwahrscheinlich bis unmöglich. Schließlich waren sämtliche Köche und Helfer anwesend.

"Ja, ich komme!", rief ich ihr zu, denn ich wusste, dass sie gleich gehen wollte. Ich stellte noch das mit schmutzigen Gläsern gefüllte Tablett beim Spülbecken ab, dann lief ich zu ihr. "Also, bring mich auf den neuesten Stand."

"Tisch drei und sieben bekommen die Menüs und an Tisch vier sind jeden Moment Gericht acht und siebzehn fällig", fing sie an runter zu rattern und ich gab mir Mühe, mir alles zu merken. Inzwischen hatte ich die Karte zwar schon ziemlich intus, aber meine kleinen grauen Zellen waren hier trotzdem jedes Mal ziemlich gut beschäftigt.

"Welche Tische übernehme ich von dir?", fragte ich noch und Antonia nannte mir alle.

"Ach ja, Tisch neun hat gerade den Wein bestellt." Auch der wurde mir genannt und ich merkte schon, wie mein Puls sich beschleunigte. Heute Abend war es wieder einmal brechend voll.

"Okay, das krieg ich hin." Umgezogen hatte ich mich vorhin schon, damit ich gleich startbereit wäre. Ich war nach dem Essensexperiment mit Fabio am Vormittag wieder nach Hause gefahren, bevor ich meine Schicht antreten musste. Als ich gegangen war, war alles noch ruhig und friedvoll gewesen, jetzt herrschte das reinste Chaos.

"Super! Dann mach ich mal Feierabend", grinste mich Antonia an und wandte sich dann um, ohne auch nur einen Piep wegen der Situation früher am Tag gesagt zu haben.

Ich verschwendete keine Minute und holte gleich einmal einen teuren Ripasso aus dem Weinschrank und ging damit zu Tisch neun.

"Schönen guten Abend, mein Name ist Ceil und ich werde Sie heute Abend bedienen", begrüßte ich das Paar am Tisch. "Hier ist der Wein", sagte ich dann, zeigte ihnen die Flasche und wollte gerade den Korken ziehen, als der Mann mich unterbrach.

"Entschuldigen Sie, aber wir haben keinen Ripasso bestellt, sondern den Amarone." Verdutzt starrte ich ihn an.

"Oh."

Hatte Antonia nicht 'Ripasso' gesagt?

"Das ist natürlich auch eine sehr gute Wahl", lächelte ich dann verwirrt. "Einen Moment bitte." Mit hochrotem Kopf verließ ich den Tisch und steuerte direkt auf den Computer mit den Bestellungen zu und überprüfte die Getränke.

Und ganz recht. 'Allegrini Amarone della Valpolicella' stand da schön deutlich. Gott, so ein Missgeschick war einfach nur peinlich! Wenn ich schon von Anfang an so verwirrt war, konnte das nur ein chaotischer Abend werden, dachte ich panisch.

Schnell holte ich die richtige Flasche und beeilte mich, damit zurück zum Tisch zu kommen.

"Entschuldigen Sie bitte vielmals. Hier ist der richtige Wein", lächelte ich charmant, zeigte dem Paar die Flasche und machte sie auf, als der Mann mir zugenickt hatte. Sobald ich ihre Gläser gefüllt hatte, hastete ich zurück in die Küche, wo der erste Gang der Menüs auf mich wartete und schleunigst brachte ich die Teller zu Tisch drei und sieben.

Mit mir waren noch Paolo und Grace als Bedienung da. Nie im Leben genug.

Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Das Lokal war proppenvoll, wir verkauften teuren Wein und die Küche arbeitete auf Hochtouren. Wie um Himmels Willen konnten wir dann nicht genug Einnahmen haben? Ich verstand es nicht.

Ich nahm eine neue Bestellung auf, brachte Brot und Olivenöl an Tisch zwei und trug leere Teller in die Küche.

"Tisch vier! Acht und siebzehn!", rief Fabio in dem Moment und schob zwei Teller an der Anrichte hervor. Das waren meine.

Kaum hatte ich sie mir geschnappt, hatte Fabio schon die nächsten fertigen Gerichte hergezaubert. Ich fragte mich echt, wie er an solchen Abenden die Ruhe bewahren konnte.

Francesca hatte auch allerhand zu tun. Sie ging von einem Tisch zum nächsten und plauderte mit den Gästen, sonst sorgte sie hinter der Bar für Ordnung.

Ich holte gerade bei ihr Getränke, als sie mich müde anlächelte.

"Falls es euch zu viel wird, rufe ich Lorenzo an", sagte sie mir.

"Noch geht es, aber viel mehr los sollte nicht sein, dann wird das zu viel", meinte ich ehrlich und lud eine Wasserflasche und Gläser auf ein Tablett, die ich daraufhin mit Eis füllte.

"Okay, dann frage ich ihn gleich, ob er kommen kann. Wir haben noch einige Tischreservierungen und draußen warten auch einige auf einen freien Tisch." Francesca kramte schon ihr Handy raus, während sie mit mir redete. Ich nickte ihr zu, dann ging ich mit den Getränken zu den Gästen.

Ich musste ehrlich zugeben, dass ich nie gedacht hätte, dass ich mal in so einem Restaurant arbeiten würde. Das Niveau und das Tempo waren hier so hoch, dass hätte ich mir nie erträumt.

Es war hart und es war anstrengend. Aber es bezahlte sowohl mein Studium als auch mein Leben.

Und ich konnte so jede Menge Zeit mit Fabio verbringen, schoss es mir durch den Kopf.

Eigentlich war es komisch. Die letzten drei Jahre hatte er keine Rolle in meinem Leben gespielt, wenn man mal mein Gefühlsleben außer Acht ließ, und jetzt sahen wir uns fast täglich.

So schnell konnte sich was verändern.

"Ceil, schnell, deine Teller warten", raunte mir Paolo gehetzt zu, als wir aneinander vorbeigingen.

"Meine Teller?"

"Für Tisch zwölf!", sagte er über die Schulter und schon war er weiter.

Tisch zwölf?

Tisch zwölf war nicht mein Tisch?

"Grace", fing ich meine Kollegin ab. "Welche Tische hast du?"

"Ähm, dreizehn bis vierundzwanzig. Paolo hat den Rest und die Terrasse", antwortete sie ein wenig verwirrt und huschte dann auch schon mit ihren Tellern weiter.

Hatte Antonia nicht eins bis elf zu mir gesagt?

Oder hatte ich ihr nicht ordentlich zugehört?

Ich versuchte mich zu erinnern. Doch, verdammt, sie hatte nur bis elf gesagt!

Oder?

Schnell ging ich in die Küche, wo immer noch das reinste, aber strukturiertes, Chaos herrschte.

"Welche sind für zwölf?", fragte ich Fabio, der gerade einem Gericht den letzten Schliff gab.

"Die zwei Suppen. Verdammt, Ceil, wo warst du? Das Essen wird noch kalt."

Ich schickte Fabio einen giftigen Blick, den er aber nicht bemerkte, da er zu beschäftigt war.

"Dann sollte mir verdammt nochmal vielleicht jemand sagen, dass das mein Tisch ist", fuhr ich ihn an, schnappte mir die Teller und verschwand damit.

Irgendwie fühlte ich mich, als würden alle verfluchten Fehler auf mich geschoben werden. Das war einfach nicht fair!

____

Ich war völlig erledigt, als sich der Abend endlich dem Ende zuneigte. Meine Füße taten weh, meine Augen brannten vor Müdigkeit und meine Glieder fühlten sich einfach nur schlapp und schwer an.

Was war das nur für ein verrückter Abend gewesen!

Francesca hatte Lorenzo nicht erreichen können, folglich waren wir drei Kellner allein geblieben und hatten den ganzen Abend lang rotiert.

Ich wusste bald gar nicht mehr, wo mir der Kopf stand. Am liebsten hätte ich mich an Ort und Stelle auf den Boden gelegt und wäre eingeschlafen. Wie ich noch nach Hause kommen sollte, war mir ein Rätsel. Aber irgendwie würde es schon gehen. Irgendwie ging es doch immer. Mit langsamen, müden Schritten schlich ich auf den Mitarbeiterraum zu, um mich umzuziehen, als mir Paolo und Grace mit einem müden Lächeln und bereits fertig umgezogen entgegen kamen und sich von mir verabschiedeten.

Dann hatte ich die Umkleide wenigstens für mich alleine.

Ich zog mich um, warf die Arbeitsklamotten in die Wäsche und schnappte mir meine Tasche.

In der Küche brannte noch Licht. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie er das durchhielt, aber Fabio war immer das Schlusslicht. Klar, es war auch sein Restaurant, aber trotzdem.

Erst wollte ich einfach gehen, allein der Gedanke, noch zwei Sätze zu reden, löste in mir schon einen riesigen Erschöpfungsanfall aus. Aber dann wollte ich doch nicht einfach gehen, ohne mich von Fabio verabschiedet zu haben.

"Gute Nacht, Fabio. Ich geh' jetzt", rief ich ihm zu, als ich meinen Kopf durch den Türspalt steckte.

"Gute Nacht, Ceil. Komm gut heim." Fabio stand mit einer riesigen Box vor dem Kühlschrank und legte dort Lebensmittel hinein.

Was tat er da?

Stirnrunzelnd ging ich näher.

"Was machst du da?", fragte ich neugierig und ignorierte dabei die bleierne Müdigkeit in meinem ganzen Körper.

"Ich sortiere die Lebensmittel aus", erklärte er, während er einen Salatkopf in die Box legte. Der sah doch völlig gut aus?

"Und was machst du damit? Alles zuhause alleine futtern?", scherzte ich und Fabio sah mich grinsend an.

"Nein, die Sachen werden weggeschmissen."

"Was?" Fassungslos sah ich erst ihn und dann die Lebensmittel in der Box an. "Aber wieso? Das ist doch alles noch gut?"

"Ceil, wir sind ein Nobelrestaurant und dementsprechende Qualität müssen wir auch bei den Lebensmitteln liefern. Ich kann den Gästen kein Brot vom Vortag oder labbrigen Salat servieren", erläuterte er mir nachsichtig, wie einem kleinen Kind.

Ja, das verstand ich.

"Aber deswegen muss man die Sachen doch nicht alle wegschmeißen!" Es war mir einfach zuwider, zu sehen, wenn gute Lebensmittel irgendwo weggeschmissen wurden, während andere Menschen Hunger litten.

"Was willst du dann damit machen? Etwa alles allein zuhause futtern?", ärgerte mich Fabio mit meinen eigenen Worten, aber ich runzelte nur die Stirn. Ich fand das nicht lustig.

"Es muss doch eine Möglichkeit geben, mit den Lebensmitteln noch etwas Sinnvolles anzustellen." Ich wollte einfach nicht locker lassen.

Wieder lächelte Fabio mich warm an. "Meine Ceil, will immer das Beste aus einer Situation herausholen." Er wandte sich wieder dem Kühlschrank zu, holte eine Aubergine heraus, die er begutachtete und dann zu den anderen Sachen in die Box legte.

Ich holte die Aubergine wieder raus und sah sie mir von allen Seiten an.

"Die hat nur eine kleine Druckstelle!"

"Ceil, bitte. Wenn du einen vernünftigen Vorschlag hast, dann gerne, aber bis dahin lass mich jetzt bitte einfach diesen Kühlschrank aussortieren, damit ich weiß, was nachgekauft werden muss." Fabio klang nicht gereizt, nur so unheimlich müde und ausgelaugt, wie ich mich fühlte.

"Koch für Studenten." Ich hatte keine Ahnung, wo die Idee plötzlich her kam, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto besser fand ich sie.

"Was meinst du?" Irritiert sah Fabio mich an.

"Naja, bevor du die guten", ich betonte das Wort besonders und sah ihn mit spöttisch gehobener Augenbraue an, "Lebensmittel wegschmeißt, kannst du damit doch Gerichte zum halben Preis kochen und das dann an Studenten oder andere verkaufen, die sich ein Essen bei dir sonst nicht leisten könnten. Du hast damit noch eine zusätzliche Einnahmequelle und es wird kein Essen verschwendet." Je mehr ich redete, desto besser wurde es. Was war das bitte für eine geniale Idee? Und es würde gleich noch Fabios Geldproblemen helfen – von denen ich ja eigentlich noch gar nichts wusste.

Fabios Gesicht erhellte sich. "Ceil, das ist wirklich gut! Am Ende von jedem Abend können für eine Stunde Gerichte zum halben Preis gekauft werden. Oder einfach für einen festgelegten Preis ein improvisiertes Gericht anbieten, je nachdem welche Zutaten noch da sind."

"Und ich könnte das in der Uni rumerzählen. Und dann wird das immer weiter erzählt und schon hast du auch nach Ladenschluss den Laden noch brechend voll." Grinsend sahen wir uns an und überschwänglich nahm Fabio mein Gesicht in beide Hände und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

Wir erstarrten beide.

Das war nicht geplant gewesen.

Noch immer hielt Fabio mein Gesicht in seinen Händen und seine braunen Augen sahen mich an. Geschockt. Liebevoll. Überrumpelt.

"Ja, ähm, also..." Ich löste mich von ihm und versuchte meinen Puls wieder unter Kontrolle zu bringen. "Ich werd' dann mal heim gehen. Du kannst dir das mit den Studenten ja überlegen", fügte ich noch leicht stammelnd hinzu.

"Ja, ja, das mache ich." Er fuhr sich mit einer Hand durch die zerzausten Haare, dieses Mal eindeutig eine Verlegenheitsgeste.

Ich nickte und wandte mich dann zum Gehen.

"Gute Nacht", murmelte ich noch, als ich schon halb aus der Tür war.

"Gute Nacht, Ceil", klang Fabios Antwort noch in meinem Ohr, während ich aus dem Lokal flüchtete.

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Die arme Ceil, schon wieder ein Abend voller Chaos...

Was sagt ihr zu ihrer Idee für das übrig gebliebene Essen? :)

Tyskerfie & HeyGuys77

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