8. Noch fünf Tage

Die Spannung in ihrem Körper flacht nicht mehr ab. Auf der Arbeit ist Beyza kaum ansprechbar, doch das macht keinen Unterschied. Sie könnte hirntot sein, und wäre dennoch dazu in der Lage, ihren Job genauso gut auszuführen wie an jedem anderen Tag. Das ist das einzig Schöne an einer anspruchslosen, aussichtslosen Stelle wie ihrer. Sie überlegt sich, was sie Emre erzählen soll, falls er sie fragt, was sie beruflich macht. Die Wahrheit ist ihr peinlich. Eine Lagerarbeiterin, die kann ein Schauspieler nicht ernst nehmen. Er ist Künstler, und was ist sie? Irgendwie in einer Sackgasse gestrandet? Wie erklärt man das?

Beyza träumt sich weg, während die anderen um sie herum auf Türkisch und Rumänisch Witze reißen, die sie, selbst wenn sie zuhört, nicht richtig versteht. Emre würde sie fragen, was genau sie macht, und was würde sie dann sagen? Die Banalität ihrer Aufgaben in Worte fassen zu müssen erscheint ihr wie Folter. Als sei sie gezwungen, sich ihre Kindheits- und Jugendfotos mit der Lupe anzuschauen, jeden ihrer Makel in zehnfacher Vergrößerung zu sehen. Emre wird denken, dass sie dumm ist. Oder zumindest ambitionslos. Das absolute Gegenteil von ihm. Kann man sich dafür rechtfertigen, dass man sein Leben so verbringt wie sie?

Aber manchmal denkt Beyza auch genau andersherum. Wieso bekommen Künstler und Sportler so viel Geld für etwas, das eigentlich doch niemand mehr braucht? Auf der Welt gibt es längst genug Kunst, um ein Leben zu füllen. Wer hat denn Zeit, alles anzuschauen, zu lesen, zu hören, was die Menschheit bisher hervorgebracht hat? Es wäre unmöglich, auch wenn man das ganze Leben lang nichts anderes täte.

Sogar Emre sagt das. „Diesen unbändigen Drang mehr zu erschaffen, den verstehe ich selbst eigentlich nicht. Kann man überhaupt noch originell sein? Hat es einen Sinn, den tausendsten Slasher-Film zu machen? Na ja, es macht eben Spaß, und die Leute haben auch Freude daran. In unserer Konsumgesellschaft schreiben wir dem Neuen mehr Wert zu als dem Alten, und durch das Internet und Memes spoilern wir uns ja alles. Rosebud, das hat jeder schon mal gehört, aber keiner kennt den Kontext. Es hat auch keiner Bock, sich hinzuhocken und einen Schwarz-Weiß-Film zu schauen. Dann lieber nochmal „Night of Vengeance", right? Die Stelle an der der Hausmeister verbrennt ist echt krass, spoiler alert!"

Ist es nicht ein ehrenhaftes Opfer, dass Beyza einen Job macht, der einfach gemacht werden muss, der in der Pandemie als systemrelevant erklärt wurde? Nicht dass das einen Einfluss auf das Ansehen oder die Bezahlung gehabt hätte, aber trotzdem. Beyza grübelt darüber nach, wie sie ihm das verkaufen kann, ohne direkt als uninteressant und fantasielos abgestempelt zu werden. Aber vielleicht ist sie das. Ihr wahres Ich ist so interessant wie ein Stück aufgeweichte Pappe.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top