4. Noch neun Tage

Mit jedem neuen Morgen schlägt ihr Herz schneller. Sie wacht auf, öffnet ihren Laptop, checkt ihre Emails, danach sofort tumblr. Auf tumblr ist sie nicht allein. Beyza folgt allen Emre-Tags. So sieht sie sofort, ob es einen neuen Post gibt. Heute hat love0emre ein Gif-Set aus dem US-amerikanischen Indie-Horror-Film „Night of Vengeance" hochgeladen. Emre war zwei Jahre nach seinem Serientod, in denen er nur kleinere Rollen in deutschen Fernsehproduktionen bekam, zuerst nach New York und später nach Los Angeles gezogen. Egal, was andere dazu sagten, Beyza fand seine Entschlossenheit und seinen Mut einfach nur bewundernswert. Er hatte durchgezogen, wovon viele träumten.

Emre war damals siebenunddreißig. „Zu alt!", sagt er jedes Mal mit seinem spitzbübischen Lachen, wenn er in Interviews darauf angesprochen wird. „Hab's aber trotzdem gemacht und nie bereut. Sowas wie zu alt gibt es ja auch gar nicht. Die Leute denken sich nur arbiträre Grenzen aus, um sich für ihre Angst zu rechtfertigen. Wir bauen Mauern, damit wir die endlose Weite der Welt nicht sehen müssen, damit wir verdrängen können, wie klein und unbedeutend wir sind. Nur in unseren eingezäunten Gehegen fühlen wir uns wichtig und sicher. Newsflash: You're never safe anyway, so you might as well just go for what you really want!"

Im ersten Gif lächelt Emre unsicher in die Kamera. Die Kostümbildnerin hat ihm eine dicke Hornbrille verpasst, die ihm einen unfokussierten Alienblick verleiht. Er trägt einen fleckigen Blaumann mit aufgenähtem Namensschild. Die maschinell gestickten Buchstaben gleiten dramatisch durch das zweite Gif, als die Kamera von dem kleinen hellen Rechteck aus Stoff weg über Emres Schulter in die Dunkelheit hinter ihm schwenkt. Zuschauende erfahren wenig über Winston, den verdächtigen Hausmeister. Nur dass er mit Ende dreißig noch bei seiner Mutter wohnt, die ihn, und das wird in einer einzigen Dialogzeile lediglich suggeriert, misshandelt. Es ist Emres Schauspiel zu verdanken, dass Winston trotzdem eine Handvoll Fans gefunden hat. In jeder der vier Szenen, in denen er auftaucht, schafft Emre es, Winston durch seine eingezogenen Schultern, seinen flackernden Blick und das leichte Zucken seines Mundwinkels, wenn er seinen Dialog hervorpresst, eine rührende Verwundbarkeit zu geben. Wo er auch auftaucht, wirkt er fehl am Platz. Leider wird seine Figur in der sechsundsechzigsten Minute des Films als Red Herring enttarnt, indem sie dem Slasher zum Opfer fällt. Der arme Winston verbrennt bei lebendigem Leib. Beyza ist dankbar, dass love0emre die Szene in ihrem Gifset ausgespart hat. Die letzten zwei Gifs zeigen Emre, als er die Pfütze Benzin entdeckt, die der Killer hinterlassen hat. Ahnungslos geht er in die Knie, streckt die Finger nach der schwarzen Fläche aus, so unnatürlich rund wie ein Loch in der Welt. Er zögert eine Sekunde, die Kamera zoomt näher. Emre dreht den Kopf. Sein Gesicht füllt das Bild, und in den Gläsern seiner Brille spiegelt sich ein Lichtpunkt, der über seine Pupillen zuckt.

Das Letzte, was man von Winston in „Night of Vengeance" sieht, ist sein versengtes Namensschild, das makabre Wortspiel, düsteres Foreshadowing, Winston Burns.


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