15. Jetzt
Und dann geht alles auf einmal ganz schnell. Sie steht vor dem Tisch oder Stand oder was auch immer. Ihr Gehirn kann nicht richtig aufnehmen, wo sie ist, was passiert. Das Weiß einer Lawine bricht über Beyza herein. Für einen Moment füllen Emres Augen ihre gesamte Wahrnehmung. Sie spürt ihren Körper nicht mehr, hört das Stimmengewirr in der Halle nicht mehr. Da sind nur noch Emre und das panische Pochen in ihrer zu engen Brust.
„Hi, wie heißt du?" Es ist etwas ganz anderes, Emres Stimme so nah vor sich zu hören. Ungefiltert. Die Schallwellen, die seine Kehle, sein Körper erzeugt, direkt aufzunehmen. Ihre Trommelfelle vibrieren, weil er sie berührt. Etwas, das in ihm entstanden ist, ist in ihr.
Sie sieht ihn an, und zum ersten Mal in ihrem Leben schaut er zurück.
Er sieht sie.
In echt sieht er sie, so wie sie ist.
Beyza sieht sich auch. Von oben, von außen, und dann, mit einem knochensplitternden Schlag, durch seine Augen.
Und sie ist erbärmlich.
Ihre Lippen kleben aneinander. Sie fühlt, wie die verstreichenden Sekunden sie erodieren, wie sie vor seinen Augen altert und verwelkt. Das Licht in der Halle kommt ihr gleißend vor. Es entblößt sie vor ihm.
"Hey, everything okay? Calm down, take a breath." Er lächelt schief. Eine kleine Falte hat sich zwischen seine Augenbrauen gegraben. Emre in echt ist älter, kleiner. Emre in echt ist ein Mann, ein gepflegter Mann, aber trotzdem ein Mann, nicht viel anders als andere Männer.
Beyza denkt an all die Worte, die sie ihm – nicht ihm –, aber doch ihm geschrieben hat. Warum bringt sie jetzt keines heraus? Wo sind sie alle hin? Auf einem Server, den Algorithmen nach ihren Daten durchforsten, die dann verscherbelt werden, damit irgendwelche Konzerne ihr Dinge anbieten können, die traurige Frauen in ihrem Alter, die sonst nichts haben, kaufen?
Und wie viel ist das alles am Ende wert?
Wie viel ist sie wert? Ihre Gefühle? Ihre verdrehten Hoffnungen? So wenig wie ihre Arbeit im Lager?
„Möchtest du ein Foto, oder ...?" Klingt er besorgt? Oder genervt? Huscht sein Blick hilfesuchend zu den Security-Typen?
Beyza spürt ein heißes Brennen in ihren Augen. Die erste Träne gräbt eine glühende Furche in ihre Wange, dann verschwimmt der Schmerz in der Sturmflut und sie schluchzt. Steht vor ihm und heult, bis jemand kommt und sie mit sanfter Gewalt wegführt.
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