7. Türchen

von LariApril

Wintersturm, Kaminfeuer und himmlischer Geheimkakao

„Setzt euch, ich hole noch schnell den Kakao und dann erzähle ich euch die ganze Geschichte", schmunzelte ich und ging in die Küche, um die Tassen mit dem Wundergetränk nach meinem absoluten Geheimrezept zu holen. Draußen herrschte ein fürchterlicher Sturm, leider wieder ohne Schnee, doch hier drinnen ging eine herrliche Wärme von dem gemütlichen Kaminfeuer aus. Meine beiden Nichten und mein Neffe waren endlich mal wieder zu Besuch, seit sie im Teenager-Alter waren, hatten sie eindeutig zu wenig Zeit für solche Abende, also war es umso schöner, sie jetzt hier zu haben.

Kaum waren sie die Tür herein gekommen, noch immer klitschnass vom Regen draußen, wollten sie wissen, wie ihr Onkel und ich uns kennengelernt hatten. Nachdem ich sie nach und nach ins Bad geschickt und ihnen trockene Klamotten von mir geliehen hatte, damit sie wieder trocken waren und sich nicht erkälteten, saßen sie jetzt in unserem Wohnzimmer auf dem weichen Teppich vor dem Kamin und warteten mit ihren großen Tassen in der Hand darauf, dass ich mit meiner Erzählung begann. „Das alles geht zurück bis ins Jahr 2019...", fing ich an. Damals war ich neu in eine Musicalgruppe gekommen. Ich würde nicht behaupten, dass ich sonderlich unsicher gewesen bin, immerhin kannte ich schon ein paar Gesichter von anderen Begebenheiten, doch ich hatte mir schon immer zu viele Gedanken darüber gemacht, was andere Leute von mir denken könnten.

„Zu dem Zeitpunkt hatten Harry und ich recht wenig miteinander zu tun. Die typische Umarmung zur Begrüßung, ein paar wenige kleine Sticheleien und kurze Gespräche beim Essen nach den Proben... Doch ich wusste nicht sonderlich viel über den Riesen der Gruppe", schmunzelte ich, „Dann kam irgendwann Corona und wir mussten unsere Produktion auf Eis legen, keiner von uns war wirklich glücklich darüber. Ihr wisst ja inzwischen teilweise aus eigener Erfahrung wie familiär diese Gruppe ist und dann waren da Monate ohne Proben, ohne die Möglichkeit, sich zu sehen. Doch mit der Zeit wurden wir kreativ und haben unsere Spieleabende einfach online gemacht. Einmal haben wir ‚Wer würde eher?' gespielt und da hat er mich dann zum ersten Mal so richtig geschockt, weil er mich, ohne mich wirklich zu kennen, viel zu gut einschätzen konnte."

Trotz der ganzen Corona Situation saß ich glücklich im Esszimmer meiner Großeltern und schaute auf den Bildschirm meines Laptops, auf dem alle meine Musicalmenschen per Facetime versammelt waren. „Wer würde eher...", setzte Marie an zur nächsten Frage. Schon seit geraumer Zeit waren wir dabei, dieses Spiel zu spielen, wer auch immer auf die Idee gekommen war, es war jedenfalls verdammt lustig. „...am wenigsten Vanilla beim Sex sein?" Oh Gott, war ja klar, dass das Internet irgendwann auch solche Fragen ausspuckt. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich dazu, Harry aufzuschreiben, warum genau weiß ich auch nicht. „3, 2, 1...", und schon drehten wir alle unsere Zettel um, ich würde sicherlich nirgends dabei sein, ich als absolute Jungfrau... Oder doch... Wie zur Hölle kam Harry darauf mich zu nehmen? Nicht, dass er komplett falsch läge, wenn man sich mal überlegt, welche Bücher ich lese, aber das konnte er doch gar nicht wissen!

„Danach hatten wir aber auch nicht mehr Kontakt als vorher, eher im Gegenteil. Je länger der Lockdown anhielt, desto weniger wurden unsere Spieleabende. Erst im September 2021 haben wir wieder angefangen jede Woche mit allen zu proben, vorher hat nur eine kleine ausgewählte Gruppe ein kleines Ersatzstück für Ende 2021 vorbereitet. Da war ich dann im Verkauf von Getränken mit dabei und habe eurem Onkel nach den Shows öfter mal seine Bühnenkette ausgezogen. Auch in den wöchentlichen Proben hatten wir dann ein bisschen mehr Kontakt als vorher. Vor allem unsere Sticheleien wurden immer mehr, ihr wisst ja, wie gerne wir uns gegenseitig aufziehen und dumme Sprüche an den Kopf hauen", sagte ich und brachte die drei Teenager dadurch zum Lachen.

Noch heute könnte man meinen, wir würden uns abgrundtief hassen, wenn man uns nicht gut genug kannte. „In den ersten Monaten von 2022 hat sich das nur noch verstärkt und mit der Zeit kamen wir den Shows im Juli immer näher, was heiß, dass wir uns immer öfter auch am Wochenende zu Proben gesehen haben. Dann so Ende Mai oder Anfang Juni fing für mich eine sehr schwere Zeit an", erklärte ich weiter.

„Oh nein, bitte nicht! Das darf nicht wahr sein!", war alles, was in meinem Kopf vor sich ging. Verzweifelt sah ich auf das Video, welches mir gerade bereits zum zweiten Mal angezeigt wurde. Das erste Mal konnte ich es gut ignorieren und verdrängen, doch jetzt prasselte es voll auf mich ein. Ich schrie in mein Kissen, wand mich in meinem Bett als würde ich unter unendlichen körperlichen Schmerzen stehen. Mir ging es doch so gut damit, mich nicht zu labeln! Warum musste denn jetzt ein beschissenes Video auftauchen, das das alles hinfällig machte?! Schluchzend legte ich mein Handy zur Seite und beschloss, zu versuchen es einfach erneut zu vergessen, das hatte immerhin schon einmal geklappt. Zumindest wenn man außer acht lässt, dass ich nicht mehr ganz so gut gelaunt war wie sonst.

„Nur wenige Tage später habe ich es dann aber doch aufgegeben und mich im Internet schlau gemacht. ich habe eine wirklich gute Seite gefunden, die alle möglichen Begriffe, die auf dem Aroace Spektrum liegen, gut und verständlich definiert und erklärt. Schnell war klar, dass ich vermutlich sowohl cupiosexuell als auch cupiosromantisch bin. Das heißt, dass ich zwar das Bedürfnis verspüre, in beiderlei Hinsicht eine Beziehung zu führen, aber nicht in der Lage dazu bin, romantische oder sexuelle Anziehung zu verspüren. Mir ging es richtig schlecht damit, zumindest mit dem cupioromantischen Aspekt, zu allem anderen habe ich mir lediglich gedacht: ‚Sex kannst du auch haben, ohne jemanden heiß zu finden'.

Aber eine liebevolle, märchenhafte Beziehung war so ziemlich alles, was ich mir je für meine Zukunft vorgestellt und gewünscht hatte und von heute auf morgen musste ich mich von diesem Gedanken komplett verabschieden. Natürlich wusste ich, dass es Alternativen gibt, eine queerplatonische Beziehung beispielsweise oder eine ‚normale' Beziehung nur ohne romantische Liebe, aber das ist eben einfach nicht dasselbe. Ich war so bereit dafür, endlich jemandem meine romantische Liebe zu schenken, bis ich lernen musste, dass ich davon gar keine habe. Das hat mir wirklich den Boden unter den Füßen weggezogen. Tagsüber habe ich so gut es ging versucht zu verstecken, wie schlecht es mir ging, aber abends lag ich eigentlich jeden Tag weinend im Bett. Die meisten Menschen haben es mir nicht angemerkt, meine Familie zum Beispiel, aber in einigen Situationen war ich doch bedrückter und stiller als sonst, weil etwas von dem, was gesagt wurde, mich zurück in meine Gedanken geschickt hat. Harry hat es durchaus mehr als einmal bermerkt..."

„Bumble, Tinder und Co funktionieren für mich eh nicht, ich kann Menschen per Text einfach nicht wirklich kennenlernen, ich weiß meistens gar nicht, was ich überhaupt sagen soll", meinte Harry als wir abends nach der Probe wieder in unserem Stammlokal saßen. „Ja same, wobei das auch noch 'nen anderen Grund hat", erwiderte ich ein bisschen frustriert. „Der da wäre?", fragte der ältere sofort. „Erzähl ich dir wann anders mal, okay?", wehrte ich ihn ab und er nickte. Über die letzten Wochen war mein Bedürfnis, ihm den ganzen Mist, der gerade bei mir abging, zu erzählen, immer weiter gestiegen. Und das würde ich vermutlich auch irgendwann tun, aber nicht hier, nicht mit allen anderen. Langsam, aber sicher hatte er sich seit Beginn des Jahres mein Vertrauen erschlichen mit seinen dummen Sprüchen. Ich erinnerte mich an verschiedene Situationen der letzten Zeit, die die Berechtigung dazu nur bestätigten. In einer unserer Proben hatte ein dummer Spruch mich in meine endlose abwärts Spirale befördert und ich musste etwas trinken gehen, um mich davon abzulenken. Harry hatte sich sofort zu mir umgedreht, als wüsste er, dass irgendwas nicht stimmt. Und einen Abend als wir gegangen sind hat er mich extra fest in den Arm genommen, sodass danach meine Brille ganz verschmiert war, als hätte er gewusst, dass ich das in dem Moment extrem gebraucht hatte.

„Am ersten Juli hat er dann ein Konzert mit seiner Band gespielt und Marie und ich sind gemeinsam hingefahren. Wir hatten einen wirklich schönen Abend und irgendwann hinterher hat Harry mir nochmal gesagt, wie viel es ihm bedeutet hat, dass wir da waren. Am nächsten Tag war ich mit drei Mädels der Gruppe am See bei uns um die Ecke, dabei war auch Harrys Exfreundin. Die beiden haben sich zu dem Zeitpunkt noch regelmäßig gesehen, aber an dem Tag ist es eskaliert und danach hat Harry dann auf Anraten von mehreren Freunden den Kontakt erstmal abgebrochen. In der Nacht vom fünften auf den sechsten Juli habe ich ihm dann über Snapchat erzählt, was bei mir los ist, nachdem es zuvor im Restaurant wieder kurz thematisiert wurde. Ich dachte damals, er wäre die erste cis-hetero Person, der ich davon erzähle... Zumindest bis er gefragt hat, ob ich ihn wirklich als hetero ansehe und dann erzählt hat, dass er zwar kein fixes Label für sich hat, aber durchaus nicht abgeneigt ist von Jungs. Seit dieser Nacht sind wir als Freunde wirklich enger zusammengewachsen.

Am achten Juli bin ich dann nachts noch zu ihm gefahren, weil es ihm wegen der endgültigen Trennung nicht gut ging. Ich habe so einiges über die Beziehung erfahren, was ich vorher nicht wusste, die Situation war wirklich sehr toxisch, es ist ein Wunder, dass es überhaupt so lange funktioniert hat. Danach haben wir uns immer mal wieder gesehen und jeden Tag gesnappt. Die verbleibenden Proben für unser Stück vor der ersten Show wurden immer weniger und dann hat Harry auf einmal Corona bekommen und musste die ersten vier Shows aussetzen, ich habe ihn immer up to date gehalten und wir sind mehr als einmal über einen Discord Call eingeschlafen. Als er dann endlich wieder negativ war, haben wir vereinbart, dass ich gleich am nächsten Tag zu ihm fahre für 'nen Filmabend... Well, dann war ich morgens leider positiv und habe die letzten fünf Shows aussetzen müssen. Plötzlich waren die Rollen getauscht und ich war diejenige, die regelmäßig Updates bekommen hat. Tja und dann... Dann kam der Tag, an dem ich endlich wieder negativ war, nach 12 endlos langen Tagen Quarantäne. Wir haben direkt unsere Filmnacht nachgeholt, nur sind vielleicht irgendwann ein bisschen eskaliert... In dieser Nacht hatte ich meinen allerersten Kuss", kam ich zum Wendepunkt der Geschichte und schwelgte ein wenig in all den Erinnerungen.

Harry presste sanfte Küsse auf meine Haut, auf den Hals, auf die Wange, auf die Stirn, auf die Nase... Stück für Stück kam er meinen Lippen näher. Würde er es tatsächlich wagen? Als seine Lippen dann auf meinen lagen war ich im ersten Moment unfähig zu reagieren. Sollte ich überhaupt reagieren? Wollte er das wirklich? Oder kam es nur aus dem Moment heraus? Was soll ich tun? Gerade als ich genug Mut gesammelt hatte, um seinen Kuss zu erwidern, zog er sich zurück und hielt mich stumm weiter in seinem Arm. Er gab mir Zeit, wusste er doch, wie unerfahren ich war. Einige Minuten später küsste er mich erneut und endlich war ich in der Lage dazu, zu reagieren. Und so hatte ich meinen ersten Kuss an meinen besten Freund geschenkt. Danach schliefen wir dann, immerhin war es schon mitten in der Nacht, doch gut schlafen konnte ich nicht, meine Gedanken hielten mich wach. Was, wenn es jetzt komisch zwischen uns werden würde? War das alles ein Fehler? Würde Harry es als Fehler sehen? „Was ist los?", nuschelte der ältere in diesem Moment verschlafen. „Kann nur nicht mehr schlafen", entgegnete ich, wusste ich doch nicht, wie ich meine Gedanken in Worte packen sollte.

Irgendwann küssten wir uns erneut, Berührungen kamen dazu und danach versprachen wir uns, dass sich nichts ändern dürfe in unserer Freundschaft.

„Dann haben wir uns noch viel öfter gesehen als vorher, bestimmt jeden zweiten oder dritten Tag. Manchmal sind wir wieder eskaliert, manchmal nicht, unsere Freundschaft stand immer im Vordergrund. Gedanken über Gefühle haben wir uns nie gemacht, immerhin war ich cupioromantisch und er musste erst noch heilen von den Wunden seiner letzten Beziehung. Im Laufe der Zeit mussten wir einige Schwierigkeiten bewältigen, aber wir waren immer füreinander da und einfach ein unschlagbares Team. Ich habe mich ihm aufgezwungen in einer Zeit, in der er sich sonst komplett von allen anderen zurückgezogen hatte, weil es ihm nicht gut ging. Er hat mich gehalten, wenn der Schmerz meiner Sexualität mich mal wieder überwältigt hat. Mir jedem Tag ist unsere Verbindung enger geworden. Wir sind uns in vielen Dingen sehr ähnlich und haben uns deshalb schon immer gut verstehen, aber dann konnten wir auch ohne Worte erkennen, wie es dem anderen geht oder was er denkt.

Zur Weihnachtszeit habe ich ihm einen Adventskalender mit Texten geschrieben, die ihm in 24 Details erzählten, was ich an ihm schätze. Er war damals schrecklich unsicher was sich selbst angeht, konnte nicht verstehen, was für ein toller Typ er ist. Sie haben ihn jeden Tag zum Weinen gebracht, weil er es einfach nicht glauben konnte. Tja und irgendwie hat er sein Herz wieder öffnen können. Und er war bereit, eine Person zu lieben, die ihn zwar mindestens genauso sehr lieben wird, aber eben immer auf eine andere Art und Weise. Vorher war ich der festen Überzeugung, nie so einen Menschen finden zu werden, aber jetzt sieh uns an. Das Ganze ist über zwanzig Jahre her und wir sind immer noch glücklich. Ich hatte mir schon gedacht, dass man über die Zeit und Intensität noch engere Verbindungen als eine reine Freundschaft knüpfen kann, ohne die romantische Anziehung, aber mit unserer Verbindung habe ich nicht gerechnet. Ich liebe euren Onkel wirklich sehr, habe ich schon immer und werde ich auch immer, nur eben auf meine Art", beendete ich meine Erzählung. Selbstverständlich hatte ich einige Details ausgelassen, die Kinder mussten nun wirklich nicht alles wissen, aber die wichtigsten Punkte kannten sie nun.

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. „Mhm, das riecht aber gut! Hast du wieder deinen himmlischen Geheimkakao gemacht, Love?", rief Harry schon aus dem Flur. Ich hatte über die Erzählung gar nicht gemerkt wie spät es bereits geworden war. „Onkel Harry! Onkel Lou hat uns eure Geschichte erzählt!", rief unsere jüngste Nichte Amélie ihm entgegen. „Na hallo, ihr drei! Was für eine schöne Überraschung!", sagte Harry, umarmte sie der Reihe nach, bevor er zu mir kam, mich in seine Arme zog und zart auf die Stirn küsste. Lächelnd sog ich seinen ganz eigenen Duft ein, um dann in die Küche zu gehen und ihm auch eine Tasse zu machen. Denn selbst mein wundervoller Freund kannte nicht alle Zutaten meines Rezepts, wäre ja noch schöner, dann bräuchte er mich ja gar nicht mehr. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam waren die vier schon in ein neues Gespräch vertieft und für einen Augenblick genoss ich einfach nur den Anblick dieses so friedlichen Moments. Ach, wie ich die Weihnachtszeit doch liebte.

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