5. Türchen

von Qatarcookie

Wofür, wenn nicht, um dich zu spüren?

Wir trafen uns, weil er einen Böller gegen mein Fenster schmiss. Ein Muster aus Rissen klirrte auf der Scheibe, dann Dunkelheit, dann nichts. Ich öffnete sie und Rauch quoll gegen meine Wangen. Er stand unten auf der Straße, sah mir entgegen, zuckte mit den Schultern. Schneeflocken tänzelten im Laternenschein und hafteten gegen seine kantigen Wangen. Ein Schatten schnitt seinen Dutt genau in der Mitte. Er trug ein durchsichtiges Baumwollshirt, Jeans und Flipflops.

„Was soll das?", rief ich.

„Sorry", sagte er, seine Stimme tief und rau.

Wir starrten uns entgegen. Im Hintergrund raschelten Autoreifen gegen Eis. Wolkenschlieren verwoben sich vor dem Vollmond mit Schneeflocken. Eine davon hüpfte gegen meine Lippen, schmolz. Ich zuckte, schmierte sie mit dem Handrücken von mir. „Willst du, dass ich die Cops rufe?"

Er zuckte mit den Schultern und grinste. „Dachte nicht, dass am Ende der Welt jemand wohnt."

„Als ob." Ich deutete zur Lichterkette unter mir, die Ana an die bröckelnde Fassade genagelt hatte: Bunte Sterne, die in unregelmäßigen Abständen flackerten, manche davon dunkel, andere mit gebrochener Fassung. Hinter unseren Fenstern glimmerte Kerzenschein.

„Na ja", sagte er gedehnt, zuckte wieder mit den Schultern. „Musste ein bisschen atmen."

„Andere meditieren oder machen Yoga." Ich krallte meine Finger in den feuchten Böller, der noch auf der Fensterbank haftete. „Oder besorgen sich ein Asthmaspray."

Er nickte ernst. „Und ich sachbeschädige. So hat jeder seine Methoden."

Ich blinzelte mehrmals gegen die nassen Flocken. „Okay."

Unser Haus lag am Wendehammer einer Sackgasse, am Saum zum Wald. Tannen schossen dicht aus dem Boden, lagerten schwarz gegen den Himmel und überschatteten unser Dach. Auf der Straße lagen umgekippte Mülltonnen und zerrissene Tüten. Eine schwarze Katze jagte zwischen ihnen und stürzte sich auf die Reste eines Lachsfilets. Links stand ein verlassenes Wohnmobil, eingeschneit, mit luftleeren Reifen und zerschlagenen Scheiben.

Ein Windstoß trieb Schnee gegen sein Gesicht. Er lächelte und Grübchen erschienen auf seinen Wangen. „Sorry jedenfalls."

„Schon okay", sagte ich und zuckte selbst mit den Schultern, als wäre das Fenster auch nur Glas, unser Haus ein Spiel. Ich schubste den Böller hinab. Er klatschte dumpf gegen einen Mülltonnendeckel. Die Katze zuckte zusammen, floh in die Schwärze des Waldes, ihre Fußspuren wie kleine Halbmonde im Schnee.

„Oh", murmelte ich.

„Ich bin übrigens Harry", sagte er.

Ich seufzte. „Kein Problem."

Er grinste. „Kann ich hochkommen?"

„Nein", sagte ich.

„Okay", sagte er.

„Okay", sagte ich. Und dann kam er doch hoch.

*

„Wieso Kunstdiebstahl, wenn nicht, um gay zu sein?", fragt er jetzt – ein Jahr später – und zwinkert.

Wir klicken goldene Weihnachtskugeln und Lametta in die Triebe einer Nordmanntanne. Im Hintergrund dreht sich unsere Schallplatte und ein Cello klimpert Last Christmas. Schneeflocken flimmern gegen die bodenlangen Fenster des Salons.

„Na ja", sage ich und klippe eine zerbrochene Kugel von ihrer Halterung. „Um Geld zu machen?"

„Das geht auch einfacher." Harry schnalzt mit der Zunge. „Wieso in ein videoüberwachtes, alarmgeschütztes Museum einbrechen und dann drei Jahre warten, um die Ware zu verkaufen, wenn man auch-"

„Worüber redet ihr?" Ana betritt den Salon. Sie trägt ein Tablett mit drei Tassen Kakao, aus deren Sahnehäubchen Zimtstangen ragen, daneben Lebkuchensterne, die heiß dampfen.

„Harry versucht sich als Literaturkritiker." Ich löse mich vom Baum und schlinge meinen Arm um ihre warme Taille, küsse gegen ihre roten Haare. Sie duftet nach Nelken und Muskat und Mehl. Ana ist kleiner als ich, hat spitze Schultern, die selbst unter ihrem Schafswollkleid hervorstehen. Ihr Gesicht ist rund mit rot leuchtenden Wangen. Ich küsse das Muttermal an ihrer Schläfe und sie lehnt sich gegen meinen Brustkorb.

„Hast du das gelesen?" Harry zieht sein Buch von unserem Wohnzimmertisch. Der Einband ist in der Mitte gerissen und runde Kaffeeflecken prangen auf dem Cover. Der Titel verblasst dahinter.

„Natürlich." Ana kichert und löst sich von mir. Sie stellt das Tablett auf den Tisch. „Sie hätten am Ende zusammenkommen sollen."

„Hab ich deinem Mann auch gesagt", sagt Harry und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. „Sex in der Kunstgalerie, wer könnte da wiederstehen?"

„Sag mal, woher hast du das Buch eigentlich?", frage ich. „Sieht aus, als hätte das jemand als Topfuntersetzer benutzt."

Harry zuckt mit den Schultern. „Aus der Bibliothek gestohlen."

Ana kichert, aber ich ziehe meine Braue hoch. Harrys Blick klickt in meinen und er lächelt verlegen. Wir haben darüber gesprochen, will ich sagen, aber stattdessen sage ich gar nichts – und Ana verteilt den Kakao und wir widmen uns den Weihnachtskugeln.

*

Als Harry später geht, streift seine Hand meinen Unterarm. Ich weiche zurück, öffne die Haustür. Finsternis fällt gegen unsere Füße und Kälte schwappt rein. Das Wohnmobil, das er geflickt und eingerichtet hat, liegt in der Dunkelheit. Er hat keine Heizung, nur einen Wasserkocher und eine Gewichtsdecke, ein paar Kerzen. Wir haben drei Gästezimmer. Ich biete ihm nicht an, bei uns zu überwintern. Ich sage nie etwas, wenn er abends von unserem Haus durch den Schnee stapft und seine Silhouette hinter der Wohnwagentür verschwindet. Manchmal öffne ich nachts unser Schlafzimmerfenster und Kälte kippt gegen meinen Körper. Ich frage nie, ob auch er friert.

Harry beugt sich zu meiner Schulter, aber berührt sie nicht. „Überleg es dir, Lou."

„Ich kann nicht", flüstere ich, obwohl Ana in der Küche ist und die Tür geschlossen ist und der Mixer dumpf dahinter dröhnt. Ein Windstoß weht Schneeflocken in den Hausflur. Ich seufze. Die Kälte drückt gegen meinen Brustkorb. „Sie will, dass du nicht so oft hier bist", wisperte ich schließlich.

„Ich weiß", sagt Harry und lächelt müde. „Sie will, dass ich ihrem Mann fernbleibe."

Ich öffne den Mund, aber sage nichts, und Harry klopft gegen meinen Rücken, verschwindet nach draußen, sein Körper eine schwarze Klinge gegen den Schnee.

Die Berührung brennt noch nach, als ich unter meiner Bettdecke liege. Neben mir atmet Ana gleichmäßig. Wind heult durch unsere Fenster und klatscht Flocken an die Scheiben. Der Himmel ist tintenschwarz und Sterne flackern darin dumpf. Ich schäle mich von meiner Decke und tapse zur Scheibe.

In Harrys Wohnwagen glimmert eine Kerze und sein Körper schneidet ihr Licht. Jeden Abend sehe ich seine Bewegungen und frage mich, wie ein Leben wäre, in dem ich meinen Morgenmantel überwerfe, Schuhe anziehe, an seine Tür klopfe. Ich berühre meine Wirbelsäule, wo er sie berührt hat. Meine Finger sind kalt und rau. Ich gehe zurück ins Bett und presse meine Lider zusammen, damit Schlaf mich erdrücken kann.

*

Ich kenne Harry nur in zwei Zuständen: Unberechenbar oder kalt. Mit glühenden Wangen, geweiteten Pupillen, seine Worte pulsierend, die Silben springend – oder graue Lippen, vernebelter Blick, still. Er lagert einen ausgebeulten Wanderrucksack voller gestohlener Gegenstände im Wohnmobil und leert ihn regelmäßig in unserer Mülltonne, füllt ihn danach wieder auf. Ich fragte ihn einmal, warum er stahl und er zuckte mit den Schultern.

„Auch um zu atmen?", fragte ich.

„Kann sein", sagte er.

Einmal durchwühlte ich, was er weggeworfen hatte: Feuerzeuge, Schlüsselanhänger, einen abgelaufenen Müsliriegel, einen Kompass; nichts von Wert. Ich hob einen Kühlschrankmagneten gegen den Schein der Laterne, eine zierliche Katze in Blau. Dann sprang die Tür des Wohnmobils auf und Harry lehnte sich gegen den Schneefall. Er zögerte, verengte die Augen. Ich ließ den Magneten fallen und er ploppte gegen die Mülltonnen, aber Harry hatte ihn gesehen. Unsere Blicke verhakten sich. Er zuckte mit den Schultern, versank zurück im Wohnmobil. Ich klappte die Tonne zu, aber bewegte mich nicht, starrte auf den Schatten hinter seiner Fensterjalousie, der erstarrte und in meine Richtung sah. Wir sprachen nie darüber.

Am Anfang jeden Monats kauft er Wein in Tetrapacks, trinkt zwei Flaschen am ersten Morgen, öffnet die Deckel der Restlichen, aber lässt sie unberührt im Wohnmobil, bis er sie Mitte des Monats im Gully ausleert. Wenn er betrunken ist, hechtet er durch sein Wohnmobil, singt mit Kopfhörern in den Ohren, tanzt, wirft Säcke voller Müll vor die Tür. Am nächsten Morgen sitzt er dann gegen unseren Kamin gelehnt, starrt gegen die Fensterscheiben, rot unterlaufene Augen und dunkle Lippen. Ich frage ihn nicht danach. Stattdessen trinke ich einen mit ihm, vor seiner Tür in zerschlissene Campingstühle gelehnt, bis die orangenen Sonnenstrahlen hinter die Tannen kippen. Wir sprechen nicht, nippten nur abwechselnd am Rotwein – er am Tetrapack und ich an einem Plastikbecher – unsere Körper einen spaltbreit voneinander entfernt. Harry sagt nichts, weil er darauf wartet, dass ich es tue. Ich sage nichts, weil Worte Konsequenzen haben.

*

Ich fischte den Böller später aus dem Schnee, sperrte ihn in eine Holzkiste unter meinem Bett. Ana fand ihn beim Saugen, aber sagte nichts, weil sie das gesprengte Fenster sowieso gesehen hatte. Weil sie das Haus betrat, als unsere nackten Körper ineinander klickten und Harrys heißer Atem gegen meinen Hals stockte. Ich küsste seine Rippen und sie schmeckten nach Salz. Er strich durch meine Haare, krallte meinen Nacken. Das Laken löste sich von der Matratze, flocht unsere Beine zusammen. Seine Stoppeln kratzten gegen meine Haut. Wir atmeten nur zwischen Küssen, unsere Lippen kaum gespalten, recycelte Luft als indirekte Liebkosung.

Ich habe sein Wohnmobil nie betreten, die Tür wie eine Grenze, die nur in die eine Richtung übertreten werden kann. Er bittet mich auch nie rein, weil er weiß, dass ich ablehnen werde.

*

Harry kuschelt sich im Campingstuhl in die alte Wolldecke, die ich ihm geschenkt habe, weil Ana sie aussortiert hat. Manchmal bringe ich ihm Hagebuttentee in Anas Lieblingstasse mit, manchmal die aufgewärmten Reste ihres vorgekochten Mittagessens, die er in sich stopft, obwohl die Kürbisstücke seine Lippen verbrennen. Wenn mein Körper in Alkohol ertrinkt, pulsieren seine weichen Lippen und ich fühle seine Rippen auf meinen Fingerspitzen. Aber wir sitzen nur zusammen und trinken und starren auf den Sonnenuntergang. Ich verlasse ihn erst, wenn Anas Wagen auf dem Wendehammer knirscht und die Scheinwerfer gegen unsere Wangen fallen. Wenn ihr Körper uns spaltet: Glühend heiße Wangen zwischen unseren ausgekühlten Fingern.

*

Im Sommer befreit Harry unseren Garten von Unkraut, schneidet die Ligusterhecke, gräbt Schneckenfallen in den Garten. Einmal fanden wir drei Vogeljunge im kniehohen Gras, die aus einem Nest gestürzt waren, ihre Körper nackt und schrumpelig, die Schnäbel aufgerissen, als unsere Schatten über sie fielen. Harry nahm sie in seine Kapuze, kletterte die Eiche empor, setzte sie behutsam in ihr Nest und wartete am Fuß des Baumes, bis die Elternvögel heimkehrten. Er saß noch dort, als der Himmel rot anlief und eine laue Brise gegen meinen Nacken schlug. Ich trat neben ihn.

„Die werden schon kommen", sagte ich.

„Ich will nur sichergehen", sagte er und blieb, den Blick emporgerichtet, um ja nichts zu verpassen. Die Blätter raschelten und ich setzte mich dazu.

„Ist das was Persönliches?", fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. „Irgendwie schon."

„Wie alt warst du?", fragte ich und setzte mich neben ihn.

Er seufzte. „Sieben. Ein Autounfall. Sie sind beide noch am Unfallort gestorben."

Eine Amsel landete auf dem benachbarten Ast, warf ihren Kopf in beide Richtungen, sprang in das Nest, in dem die Jungen quiekten.

„Tut mir leid", flüsterte ich.

Harry zuckte mit den Schultern. „Bin bei meinem Onkel aufgewachsen. Hätte schlimmer sein können." Sein Kiefer verspannte sich.

Ich frage nie weiter, wenn er seine Vergangenheit anreißt. Ich frage nie, was seine Zukunft sein wird, wenn er nicht mehr im Wohnmobil vor unserem Haus bleibt, weil ich nicht weiß, ob ich die Antworten ertragen kann.

*

Im Winter schaufelt er jeden Morgen Schnee von unserer Einfahrt – kurzes Shirt und barfuß. Seine Muskeln pulsieren und Atem dampft zwischen seinen Lippen, die Fußsohlen rot. Er spaltet Schnee von den Eisplatten, die die Straße fressen. Die Sonne hängt über den Tannen und er hebt die Hand gegen ihre Strahlen. Um sein Gelenk baumelt ein schwarzes Lederarmband mit Halbmondanhänger, das er gestern noch nicht trug. Ich lehne meine Fingerspitzen gegen unser Schlafzimmerfenster. Warme Sonnenstrahlen prickeln gegen meine Hand. Er trägt Kopfhörer und singt und tanzt mit der Schaufel, wirft dazwischen Schaufeln voller Schnee gegen Haufen. Ich höre seine Stimme nicht, aber sie vibriert dennoch rau in meiner Brust. Dann stolpert er über den Schaufelstiel, kracht gegen den Boden: Schultern, dann linke Gesichtshälfte, sein rechtes Fußgelenk seltsam verdreht.

Ich haste zu ihm. Seine Wange ist aufgeschürft wie eine Mondlandschaft und ich stütze ihn, als er in unser Wohnzimmer humpelt. Er atmet stockend und ich presse meine Lippen zusammen, halte die Luft an, um seinen Sauerstoff nicht zu berühren. Er krallt seine Hand in meine Taille, heiße Fingerspitzen gegen Rippen. Wir setzen uns auf den Teppichboden zwischen Sofa und Tannenbaum. Das Feuer knistert hinter uns.

Ich tupfe seine Wange mit einem kalten Tuch sauber und Harry drückt eine Kühlkompresse gegen seinen Knöchel. Durch das Fenster fällt Sonne gegen seine verwundete Gesichtshälfte und er blinzelt mehrmals. Ich lasse das Tuch sinken, streiche über seine Wangenknochen. Sein Kiefer verspannt. Wir atmen gleichmäßig, lehnen unsere Schultern gegeneinander. Er riecht nach Tannennadeln und Schnee und Harz.

„Verlass uns nicht", wispere ich gegen seine Schulter.

Er weicht von mir zurück, zuckt mit den Schultern, aber seine Augen flimmern trüb. „Deine Frau will nicht, dass ich Heiligabend hier bin?"

„Ihre Familie besucht uns", sage ich statt einer Antwort.

„Okay."

„Okay." Ich streichle seinen Hals, unter dem sein Blut warm pocht.

Harry schüttelte ruckartig den Kopf. „Du hast deine Entscheidung getroffen, Lou." Er löst sich, schiebt meine Hand weg und rappelt sich auf. „Du bist verheiratet. Das ist schon in Ordnung so."

*

Über Weihnachten besucht uns Anas Familie. Sie treffen drei Tage vorher ein und ihre Neuwägen blitzen gegen den Wendehammer. Wir schleppen Koffer und Taschen und zeigen ihnen ihre Betten. Ihre Präsenz schneidet die Stille unseres Hauses. Sie splittern unsere Routinen: Wir frühstücken zu lange, kochen scharf, trinken Crémant und spielen Brettspiele mit den Kindern. Wir unterhalten uns, bis die Uhrzeiger um Mitternacht zusammenlaufen, wir umarmen uns, lachen, besuchen den städtischen Weihnachtsmarkt und inhalieren Glühwein, beißen in warme Gebäcke.

Harry verlässt sein Wohnmobil kaum. Einmal stiefelt er bei Morgengrauen in Richtung Stadt, kommt abends mit zwei Ölkanistern und einem ausgebeulten Rucksack zurück. Er bringt das Wohnmobil zum Laufen und gleitet eine Runde über den Wendehammer, stoppt einige Meter neben dem ehemaligen Platz.

Ich schließe die Augen und meine Lider brennen. Bald wird er verschwinden.

Ana ruft mich zurück ins Bett. Ich schäle das Nachthemd von ihrem Körper und taste mich an ihr herab. Sie schiebt meine Shorts hinunter und schlingt die Beine um meine Hüfte. Ich stocke.

„Kann Harry nicht wenigstens an Heiligabend mitfeiern?"

Sie schiebt mich von sich, wickelt ihre Decke um den Körper. Tränen rollen über ihre Wangen und sie dreht mir ihren Rücken zu. „Ich wusste es."

„Ich liebe dich", flüstere ich.

Sie schnaubt. „Und ihn?"

Die Stille zwischen uns klirrt gegen meinen Brustkorb. Ich ziehe meine Shorts empor, werfe mich ins rücklings ins Bett. Die Matratzenfedern pressen gegen meine Wirbelsäule. Auf unserer Zimmerdecke prangt ein Wasserfleck in Form eines Halbmonds. „Für Harry empfinde ich auch."

„Und was?" Ihre Stimme ist tränenerstickt.

„Ich weiß es nicht", wispere ich. „Ich will ihn nur nicht verlieren."

*

Heiligabend versinkt schon morgens im Schneesturm. Flocken wirbeln gegen unsere Scheiben und ersticken die Einfahrt. Von den Tannen rutscht Schnee in regelmäßigen Abständen. Als ich das Schlafzimmerfenster öffne, wirbelt Kälte gegen mein Gesicht und Schnee rieselt gegen unseren Teppich, sodass ich es wieder schließe. Nebel bedeckt den Wendehammer und Harrys Wohnmobil versinkt darin.

Mittags veranstalten Anas Nichten und Neffen eine Schneeballschlacht und ihre bunten Bommelmützen hüpfen über den Hof. Sie verstecken sich hinter Mülltonnen, hinter Büschen, hinter Harrys Wohnmobil, ihr Lachen und Kreischen ein kreiselndes Hintergrundgeräusch, während wir das Essen vorbereiten. Einmal klatscht ein Schneeball gegen unsere Salonscheibe, splittert auseinander. Ich zucke zusammen.

Ana hebt eine Augenbraue. Sie trennt mit einem Küchenmesser Kerne aus einem Kürbis. „Immerhin kein Böller", sagt sie.

„Tut mir leid", sage ich, aber weiß nicht, was genau ich meine.

Harry verlässt sein Wohnmobil den gesamten Tag nicht. Dafür beobachte ich den Wendehammer, wann immer ich kann. Ich gehe ins obere Badezimmer, weil das Fenster zur Straße zeigt, bis Ana mich fragt warum. Ich hole Feuerholz aus dem Schuppen und verharre extra lange in seinem Sichtfeld. Ich gieße unsere Fensterpflanzen, schüttle die Bettwäsche über den Fenstersimsen aus, schlage unsere Fußmatte gegen den Laternenpfosten, bis ihre Borsten zerbröckeln. Ich spiele Fangverstecken mit den Kindern, atme Dunst gegen Schnee, stolpere zur Tür seines Wohnmobils, berühre sie, werde von einem Kind abgeklatscht, bevor ich einen Fehler machen kann.

*

Abends vergrößern sich die Schneeflocken zu Kristallen. Sie haften gegen unsere Scheiben und trüben die Sicht. Draußen ist es finster. Nur das Innenlicht des Wohnmobils fällt über den Hof. Von unserer Schallplatte klimpern Weihnachtslieder. Die Kinder springen um den Weihnachtsbaum und die Erwachsenen sitzen in Anzügen und Wollkleidern um unseren Tisch, nippen an Rotweingläsern, reden zu hastig, lachen zu laut, erzählen Anekdoten von Leuten, die ich nicht kenne. Ana tischt Kürbissuppe auf und es riecht nach Muskat und Kartoffeln.

„Ich helfe dir." Ich stehe auf, aber gehe nicht zur Küche, sondern in unser Schlafzimmer. Ana folgt mir, sagt auch nichts. Wir lehnen uns gegen die Fensterbank, mein Gesicht nach draußen und ihrs zu unserer Tür gerichtet – Monde in verschiedenen Phasen. Kälte pocht hinter den Scheiben. Ich lege meinen Finger dagegen, als könnte ich Harrys Wohnmobil festhalten.

„Das hat er in unseren Briefkasten gesteckt", sagte sie und zieht ein quadratisches Päckchen hervor, eingewickelt in blaues Geschenkpapier. Ich zertrenne das Klebeband mit den Fingern und sie starrt dabei auf den Boden. Ein Schlüsselanhänger tröpfelt auf meine Handfläche. Es ist die Katze, die ich im Müll gefunden habe. Ich presse die Lippen zusammen, stecke sie in meine Hosentasche. „Cool."

Anas Wangen sind zum ersten Mal nicht rot, sondern gräulich. Tränen lösen sich von ihren Augen.

„Alles in Ordnung?", frage ich, greife an ihre Schulter, aber sie schüttelt mich ab.

„Du musst dich endlich entscheiden", sagt sie, ihre Stimme erstickt.

„Ich kann nicht", wispere ich. „Ich kann euch beide nicht verlieren."

Sie lacht auf, während sie weint. „Wenn du dich nicht für einen von uns entscheidest, dann entscheidest du dich gegen beide."

„Es tut mir leid", sage ich. Mir ist schlecht. Ich spüre den Katzenanhänger in meiner Hosentasche. „Wir sollten zurück. Deine Familie wartet."

Ana reibt mit dem Handrücken ihre Tränen fort. Gleichzeitig erlöschen die Lichter von Harrys Wohnmobil. Ich kneife die Lider zusammen, aber nichts passiert. Stattdessen löst sich Ana von mir, zieht ihren Ehering vom Finger und legt ihn in meine Hand, presst meine Finger zusammen. Metall schneidet in mein Fleisch, aber ich reagiere nicht. Ihre Wangen sind nass, die Ringe unter ihren Augen schwarz. Sie nickt. „Merry fucking Christmas, Lou."

„Nein." Ich schüttle den Kopf, strecke den Ring zu ihr, aber sie weicht zurück. „Ana, ich bitte dich."

„Du hast dich entschieden", sagt sie.

„Habe ich doch eben nicht!" Atem presst gegen meine Lippen. Ich werfe meinen Blick zwischen ihr und dem Wohnmobil hin und her.

Sie nickt. „Sage ich ja."

Dann springt das Wohnmobil an. Seine Scheinwerfer schneiden die Dunkelheit und Schnee rauscht in den Lichtkuppeln. Mein Atmen stockt. Die Reifen knirschen gegen den Schnee.

„Scheiße", flüstere ich, als ich verstehe. Ana wird mich verlassen, wenn Harry bleibt. Und Harry reist ab, weil ich an Ana gebunden bin.

„Ich kann das nicht", sage ich zu mir, zu beiden, zur Statik, die auf meinen Lippen prickelt.

*

Ich kenne Harry nur in zwei Zuständen. Harry kennt mich nur in einem: Dazwischen. Zwischen ihm und Ana, zwischen seinem Wohnmobil und Anas Haus, zwischen berühren und abweisen. Zwischen einer Entscheidung, die ich nie treffen wollte, weil ich lieber im Dazwischen bleibe, als Konsequenzen zu spüren.

*

Ich haste durch den Schnee, trage weder Jacke noch Schuhe. Harrys Scheinwerfer flackern dumpf in der Dunkelheit, während er vom Wendehammer steuert. Meine Füße brennen vor Kälte und Eiskristalle stechen in meine Wangen.

„Warte!", rufe ich, aber der Schnee und der Wind und sein Motor schlucken die Silben. „Verdammt, warte!" Ich renne und wedele mit den Armen, als er um die Ecke biegt.

„Scheiße. Du kannst doch nicht ausgerechnet jetzt abhauen!", schreie ich gegen den Sturm und sinke auf die Knie. Eis frisst sich in meine Anzugshose. Meine Wangen sind feucht – vielleicht vom Sturm, vielleicht von Tränen. Eigentlich ist beides auch nur Wasser.

„Kann ich." Das Wohnmobil steht und Harry hüpft seitlich heraus. Seine Haare sind zum Dutt gebunden. In der Düsternis schneiden tiefe Schatten sein Gesicht. Die Augen sind rot. Er trägt ein kurzes Shirt und Flipflops, zuckt mit den Schultern. „Was genau tust du da eigentlich?"

Plötzlich werden meine Beine ganz leicht. Ich rappele mich auf, laufe zu ihm, aber er hebt seine Arme nicht, weicht zurück. Also bleibe ich vor ihm stehen. „Es tut mir leid."

„Das sagst du öfter", sagt er mild lächelnd.

„Ich habe dein Geschenk bekommen", sage ich.

„Okay", sagt Harry.

„Ich habe auch eins für dich", flüstere ich.

Harry schluckt, schüttelt den Kopf. Sein Kiefer verspannt sich. „Lass stecken. Merry Christmas und so, aber ich werde jetzt fahren."

„Okay", sage ich. „Okay, schon okay. Ich verstehe das. Okay."

„Okay", sagt er trocken. Der Motor brummt im Hintergrund und ein Rabe schreit in die Nacht. Als er sich abwenden will, stoppe ich ihn.

„Nur noch eine Sache." Ich lege meine Hand in seinen warmen Nacken. „Nimm mich mit."

Harry öffnet seine Lippen, schließt sie. Er blinzelt mehrmals. „Was?"

„Bitte", wispere ich. Meine Hände zittern. Ich bin nicht mehr dazwischen, nicht mehr abhängig von meiner Entscheidung, sondern von ihm. Ich bin ablehnbar.

Harry zieht die Brauen zusammen. „Und Ana?"

„Ich habe mich für dich entschieden", flüstere ich erstickt. „Jetzt musst du dich nur für mich entscheiden."

Harry lacht auf und legt eine Hand um meine Taille. Er atmet lange aus und lächelt mich dann an. „Endlich."

Seine Lippen treffen meine und ich öffne sie leicht. Schneeflocken prasseln gegen unsere Körper, als wir uns küssen. Kälte gegen heißen Atem.

*

„Was ist das Geschenk?", fragt Harry, als wir uns lösen.

Ich grinse, ziehe das Buch hervor, das ich zwischen Rücken und Jeans steckte. „Zweiter Band. Ich habe reingelesen."

„Ach?" Er zieht die Brauen hoch.

„Um sicherzugehen, dass sie auch gay sind, wenn sie Kunst stehlen."

„Idiot." Er lacht und ich kichere. Er lächelt. Grübchen erscheinen auf seinem Gesicht und ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.

„Okay", sagt er und küsst gegen meinen Scheitel.

„Frohe Weihnachten", sage ich und reiche ihm das Buch.

„Frohe Weihnachten", sagt er und lacht leise. „Wenn du schnarchst, bringe ich dich gleich morgen wieder zurück."

Wir lachen, obwohl wir beide vermutlich ein Stechen in unserem Brustkorb spüren. Ich denke an Ana und an das, was ich zurücklassen muss. Ich weiß nicht, woran er denkt, aber irgendwann will ich ihn fragen. Das hier ist ein Anfang. Ein schmerzhafter, aber verdammt richtiger Anfang. Ich drücke seine Hand und spüre keinen Ehering mehr. Irgendwann wird es nicht mehr schmerzhaft sein. Irgendwann werden wir heilen können. Irgendwann wird alles gut.

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