20. Türchen

von dylansplace

Coming Home for Christmas

Ich bin nervös. Ich bin so nervös, dass ich das Gefühl habe mich gleich übergeben zu müssen. Nicht grade die optimale Voraussetzung für einen zehn stündigen Flug. Zum Glück kommt in diesem Moment eine Flugbegleiterin vorbei, die mir mit den Worten: „Sie sehen ja gar nicht gut aus", ein Glas Wasser reicht. Das Wasser beruhigt meinen Magen etwas, aber die Nervosität ist immer noch da. Ich atme tief durch und versuche meine Hände davon abzuhalten ununterbrochen zu zittern. In meinem Kopf ist nur ein Gedanke. Harry. In weniger als zwölf Stunden werde ich Harry wiedersehen. Nach sechs Monaten Fernbeziehung.

Das Schicksal hatte es leider nicht gut mit uns gemeint. Wir haben uns vor neun Monaten auf einem Konzert meiner Lieblingsband kennengelernt, bei dem Harry hinter der Bar gearbeitet hat. Als ich bei ihm ein Bier bestellt habe, hat er mir seine Nummer auf dem Etikett der Bierflasche hinterlassen. Ich war so hin und weg von Harry, dass ich ihm noch am selben Abend geschrieben habe. Als wir uns zwei Tage später wieder getroffen haben, war es so als würden wir uns schon ewig kennen. Wir haben pausenlos über Gott und die Welt gesprochen und gemerkt, dass wir dieselben Interessen verfolgen und Ansichten teilen. Auch haben wir den gleichen Humor und können uns stundenlang über Dinge kaputtlachen. Nur bei einer Sache sind wir uns nicht einig geworden: Avocados. Harry liebt Avocado auf Toast und macht sich das auch jeden Morgen. Ich hingegen habe für diesen neumodischen Food-Trend wenig übrig. Dass dieses Thema immer wieder zu Sticheleien zwischen uns führt, stört mich aber keinesfalls. Nach unserem zweiten Date war uns beiden klar, dass wir kein Interesse daran hatten andere Personen zu daten, da wir beide gemerkt haben, dass wir uns schon über beide Ohren ineinander verliebt hatten. Von da an haben wir uns jeden Tag gesehen und so gut wie alles zusammen unternommen. Ich war natürlich ziemlich nervös, als ich seine Familie und seine Freunde kennen gelernt habe, aber glücklicherweise wurde ich mit offenen Armen aufgenommen.

Kurz nachdem wir drei Monate zusammen waren, bekam ich allerdings die Möglichkeit für sechs Monate in Los Angeles einen großen Kosmetikkonzern im Namen der Anwaltskanzlei, für die ich arbeite, vertreten zu dürfen. Ich freute mich natürlich sehr über das Angebot, gleichzeitig wollte ich nicht von Harry getrennt sein. Er meinte allerdings sofort, dass ich das Angebot annehmen soll, da sich so eine Chance unter Umständen nie wieder ergibt. Also bin ich für sechs Monate nach Los Angeles gezogen. Wenn ich an die Verabschiedung von Harry am Flughafen denke zieht sich mein Herz immer noch zusammen. So etwas schreckliches will ich nie wieder fühlen. Anfangs hat mir die Fernbeziehung wenig ausgemacht, da wir ständig miteinander geskypt, gechattet oder uns Bilder zugeschickt haben. Aber die Zeitverschiebung und der stetig anspruchsvollere Job haben dazu geführt, dass wir manchmal nur zweimal in der Woche miteinander gesprochen haben. Aber das ist nun endlich vorbei. Heute Morgen hatte ich meinen letzten Termin mit dem Geschäftsführer des Kosmetikkonzerns und von da aus bin ich direkt zum Flughafen gefahren. Auf dem Weg zum Flughafen war ich voller Euphorie und dachte, dass ich den Flug mit Leichtigkeit überstehe und dann endlich Harry wieder in meine Arme schließen kann.

Und doch sitze ich nun mit schweißnassen Händen in diesem Flugzeug. Auf dem Bildschirm vor mir sehe ich, dass wir bereits die Hälfte der Strecke geschafft haben. Als ich mein Handy aus der Hostentasche ziehe, um das Lied zu wechseln bleibt mein Blick an meinem Hintergrundbild hängen und halte ich einen Moment inne. Da ist er. Harry, in einem kuschligen blauen Pullover mit kleinen weißen Wölkchen drauf. Das Bild habe ich gemacht, als ich das erste Mal bei ihm übernachtet habe und wir zusammengekuschelt auf der Couch einen Film geschaut haben. Ich schaue mir das Bild etwas länger an und bekomme wieder dieses flaue Gefühl im Magen. Bevor ich mich irgendwie ablenken kann, fangen die Gedanken auch schon an zu kreisen. Was, wenn es komisch zwischen uns ist? Wir haben so lange über Messenger und soziale Netzwerke kommuniziert, was, wenn wir uns nichts zu sagen haben? Was, wenn Harry unsere Beziehung in den letzten sechs Monaten anders wahrgenommen hat als ich? Sechs Monate sind eine lange Zeit für zwei frischverliebte Personen. Was, wenn er in der Zwischenzeit jemand anderes kennengelernt hat und es mir nur nicht am Telefon sagen wollte? Was, wenn wir merken, dass wir uns in diesen sechs Monaten so verändert haben, dass es kein „uns" mehr gibt? Fragen über Fragen kreisen in meinen Kopf, aber ich habe auf keine der Fragen eine Antwort. Und so gebe ich mich geschlagen und schließe die Augen. Kurze Zeit später bin ich auch schon eingeschlafen.

Ich werde unsanft durch eine ziemlich laute Ansage des Piloten geweckt. Er teilt uns mit, dass wir in zehn Minuten in London-Heathrow landen. Allerdings sagt er auch, dass wir durch eine Wetteränderung mit drei Stunden Verspätung landen. Na toll, ich hatte Harry gesagt, dass ich um 20 Uhr bei ihm bin. Kurz nachdem ich das Flugzeug verlassen habe, mache ich mich auf den Weg um meinen Koffer zu holen. Anschließend stehe ich ziemlich unschlüssig im Terminal herum und muss mich gedanklich erstmal kurz sortieren. Ich weiß, dass Harry mich nicht abholen kann, da er den ganzen Tag auf seine kleine Schwester aufpassen musste. Trotzdem hätte ich mir gewünscht er wäre hier, damit wir völlig klischeehaft mit ausgebreiteten Armen aufeinander hätten zulaufen können.

Da es ein Tag vor Weihnachten ist, ist in London die Hölle los. Überall sieht man Leute, die die letzten Weihnachtsgeschenke kaufen oder die letzten Zutaten für das Weihnachtsessen einkaufen. Man hört Weihnachtslieder und alle Geschäfte sind weihnachtlich geschmückt. Ich hingegen bin dieses Jahr überhaupt nicht in Weihnachtsstimmung, was aber auch daran liegen kann, dass in Los Angeles aktuell 23°C sind. Ich zwänge mich durch die Menge am Bahnsteig und sobald meine Bahn einfährt, merke ich wieder dieses Gefühl in meiner Magengegend. Ich lasse mich davon aber nicht unterkriegen und steige ein. Je näher ich jedoch Harrys Wohnung komme, desto stärker und schneller scheint mein Puls zu schlagen. Und auch das Gedankenkarussell geht wieder los. Was, wenn er vergessen hat, dass ich heute komme? Noch drei Haltestellen. Noch schlimmer was, wenn ihm egal ist, dass ich heute komme? Noch zwei Haltestellen. Was, wenn er sich schon an ein Leben ohne mich gewöhnt hat? Noch eine Haltestelle. Was, wenn er in den sechs Monaten gemerkt hat, dass er mich gar nicht mehr liebt? Da ich so in Gedanken bin, hätte ich fast verpasst an der richtigen Station auszusteigen. Mit zitternden Knien laufe ich die 150m zu seiner Wohnung und gehe im Kopf alle möglichen Szenarien durch.

Als ich vor seinem Haus ankomme, atme ich nochmal tief durch und drücke die Klingel. Nichts passiert. Ich drücke noch einmal die Klingel. Wieder nichts. Panik kommt in mir hoch. Als sich nach dem vierten Klingeln immer noch nichts tut klingele ich bei Harrys Nachbarin. Sie lässt mich ins Haus und gibt mir sogar den Ersatzschlüssel für Harrys Wohnung, den sie für Notfälle besitzt. Langsam gehe ich auf Harrys Wohnung zu und schließe die Tür auf. Alles dunkel. Erst als ich die Tür zu seinem Wohnzimmer öffne bleibt mir der Mund offenstehen. Überall brennen Kerzen und Rosenblätter sind auf dem Boden verstreut. Der Weihnachtsbaum, der in der Ecke steht, spendet durch seine Lichterkette zusätzlich angenehmes Licht. Ich ziehe leise meine Jacke und Schuhe aus und gehe durch den Essbereich in das Wohnzimmer.

Und dann sehe ich Harry. Er liegt zusammengerollt auf der Couch und schläft. Was für ein Empfang. Für einen Moment kann ich nur dastehen und ihn anschauen. Er sieht so friedlich aus, wenn er schläft. Ich kann nicht anders und streiche ihm eine Strähne seiner dunklen Locken aus dem Gesicht. Das muss ihn geweckt haben, denn er schaut mich mit großen Augen an. Er braucht wohl erstmal einen Moment, um zu realisieren, dass das hier alles kein Traum ist. Freudestrahlend springt er auf und wirft sich in meine Arme. „Na, gut geschlafen?", frage ich locker, während ich ihn fest an mich drücke. „Ich habe dich so vermisst, Louis." Während er das sagt, drückt er mich noch fester an sich. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter und atme seinen Geruch ein, auf den ich viel zu lange verzichten musste. Als ich mich von ihm löse, sehe ich, dass er Tränen in den Augen hat. „Harry, was ist denn los?" – „Ich freue mich einfach so sehr, dass du wieder da bist. Weißt du, in den letzten Wochen habe ich sehr viel darüber nachgedacht, was wäre, wenn du in LA jemand anderen kennen gelernt hättest und du nur über Weihnachten nach London kommst, um es mir persönlich zu sagen. Oder was wäre, wenn du in den letzten sechs Monaten gemerkt hättest, dass wir nicht zusammen pass-" Noch bevor Harry seinen Satz beenden kann drücke ich ihm einen Kuss auf die Lippen, den er liebevoll erwidert. Wir küssen uns so lange, bis uns die Luft ausgeht und wir uns voneinander lösen müssen.

Ich schaue Harry tief in die Augen. „Ich muss zugeben, dass ich diese Gedanken auch hatte, als ich im Flugzeug saß. Ich war so nervös und habe mir genau die gleichen Fragen, auf dich bezogen, gestellt. Aber allein der Anblick, der sich mir geboten hat, als du schlafend auf der Couch lagst, hat mir klar gemacht, dass ich nie jemand anderen so sehr lieben könnte wie dich. Bei dir zu sein fühlt sich an wie nach Hause kommen. Und das will ich nie wieder missen. Ich bin so froh, dass die sechs Monate rum sind. Denn alles, was ich will, ist bei dir zu sein." Auf Harrys Lippen erscheint ein Lächeln. „Das trifft sich sehr gut, denn ich lass dich nie wieder länger als zwei Tage geschäftlich verreisen. Das kann dein Chef aber sowas von vergessen." – „Na gut, dann sag ich ihm, dass er meine Dienstreisen in Zukunft mit dir absprechen muss." Wir beide fangen an zu lachen.

Als wir uns wieder beruhigt haben sehe ich mich im Wohnzimmer um. Bevor ich etwas sagen kann, kommt Harry mir zuvor. „Ich dachte es sollte möglichst romantisch für unser Wiedersehen sein. Dass ich am Ende schlafend auf der Couch liege und mich von dir wecken lassen muss, damit habe ich auch nicht gerechnet." Er schlingt liebevoll seine Arme um meine Schultern und zieht mich Richtung Bad. Als wir dort ankommen sehe ich, dass im Badezimmer ebenfalls Kerzen brennen und Harry ein Schaumbad eingelassen hat. „Eigentlich hatte ich geplant, dass wir ein gemeinsames Schaumbad nehmen, aber da dein Flug Verspätung hatte, ist das Wasser jetzt kalt." „Das macht nichts. Die Geste zählt. Ich habe eine bessere Idee, du gehst in die Küche und machst uns heiße Schokolade und ich bereite etwas vor, wir treffen uns im Wohnzimmer."

Als Harry zehn Minuten später mit zwei Tassen heißer Schokolade in der Hand ins Wohnzimmer kommt staunt er nicht schlecht. In der Zeit, die er in der Küche war, habe ich eine Höhle aus Kissen und Decken gebaut, in die man reinkriechen kann. Harry kniet sich hin und gibt mir die Tassen durch den Eingang, der mit einer Decke verhangen ist. Als er reingeklettert kommt, stelle ich fest, dass ich mich doch etwas verschätzt habe, da es ziemlich eng für zwei Personen ist. Aber Harry stört das nicht, er kuschelt sich eng an mich und genießt seine heiße Schokolade. Während im Hintergrund leise „Have Yourself a Merry Little Christmas" zu hören ist, schaut Harry mich lange an und vier kleine Worte verlassen seinen Mund. „Zieh bei mir ein." Freudestrahlend nehme ich sein Gesicht in meine Hände und kurz bevor sich unsere Lippen treffen, flüstere ich: „Liebend gern."

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