19. Türchen
Make my wish come true
Louis Sicht:
„Fuck!", rief Louis wütend und völlig erschöpft auf dem Bahnsteig aus. Er hatte alles versucht um noch den letzten Zug nachhause zu erwischen, aber jetzt sah er nur noch wie dieser den Bahnhof verlies. Gleich würde er seine Mum erklären müssen, dass sie Heiligabend ohne ihn feiern werden. Er war geliefert, Geburtstag hin oder her. Völlig genervt stampfte er durch die schneebedeckten Straßen und brachte dabei auch gleich das Telefonat mit seiner Mum hinter sich. Er vermisste seine Familie mehr als zugeben wollte und dass er morgen seinen 23. Geburtstag auch noch allein verbringen muss, ließ in ihm bitteren Tränen der Wut und Enttäuschung aufkommen. Durchfroren und mit einem festen Plan betrat er den 24-Stunden-Shop an der Ecke seines Wohnheims. Er würde sich noch schnell mit dem Nötigsten versorgen, bevor er sich die nächsten Tage mit Netflix in seinem Zimmer verkriechen würde. Als er schließlich vollbeladen zur Kasse biegen wollte, stieß er unsanft mit jemandem zusammen. „Alter, hast du keine Augen im Kopf!", rief er wütend aus, hob seinen Kopf und blickte zornig in ein Paar moosgrünen Augen. Louis schluckte. Plötzlich stand die Welt um ihn herum still, kein Geräusch war mehr zu hören. Es war, als würden sich diese Augen tief in sein Innerstes bohren, um hier einen Anker für die Ewigkeit auszuwerfen. In dem Moment wusste er es. Hier ist sein Hafen, hier ist er zuhause. Louis wurde klar, dass er seine Mund jetzt wieder schließen musste, dass er weiteratmen musste und vor allem, dass er jetzt etwas zu der unbekannten mysteriösen Schönheit vor ihm sagen musste, aber in seinem Kopf war gerade Kirmes und sein Herz fuhr eine Runde in der Hochschaubahn. Er war sowas von geliefert.
Harrys Sicht:
Auch, wenn Harry sonst die Ruhe selbst war, jetzt gerade war es auch für ihn einfach zu viel. Es war zum aus der Haut fahren. Der plötzliche Wintereinbruch hatte den Verkehr in der Stadt völlig zum Erliegen gebracht. Harry musste sich geschlagen geben. Keine Chance heute noch aus der Stadt zu kommen. Schweren Herzens griff er zum Telefon und erklärte seiner Mutter Anne, dass er es nicht schaffen würde, an Heiligabend nachhause zu kommen. Natürlich war sie besorgt, er blieb für sie wohl immer ihr kleiner Sohn, auch wenn er nun schon 21 Jahre alt war und sie mit seinen 1,80 Meter längst überragte. Er gab sein Bestes, um ihr zu versicherten, dass er schon über die Runden kommen würde und dass er, sobald sich der Schneesturm gelegt hatte, die nächste Fahrgelegenheit nach Hause nehmen würde. Tief in ihm spürte er, wie sich die Tränen ihren Weg zu bahnen versuchten. Wie hatte er sich doch gefreut, sie endlich alle wieder zu sehen. Er vermisste die Neckereien seine Schwester Gemma, die tiefgründigen Gespräche mit seinem Stiefvater Robin und am meisten fehlte ihm die mütterliche Wärme von Anne, die ihn jedes Mal erdete, wenn sie ihn in ihre Arme schloss.
„Okay, genug Selbstmittleid!" sagte er zu sich selbst, straffte seine Schultern und betrat mit Schwung den 24-Stunden-Shop an der Ecke des Studentenheims, in das er vor kurzem gezogen war. Im Kopf ging er sein schmales Budget und eine Einkaufsliste für die nächsten Tage durch. Ganz in Gedanken versunken wollt er gerade zu einem der Einkaufskörbe vorne an der Kasse greifen als er heftig gegen etwas oder besser gesagt jemanden stieß. „Alter, hast Du keine Augen im Kopf!", schleuderte ihm diese Person wütend entgegen. Harry hob seinen Kopf und setzte zu einer Entschuldigung an: „Tut, tut mir leid. Ich war so in Gedanken..." Weiter kam er nicht als er das wunderschöne Gesicht des zierlichen Mannes vor ihm sah. Es traf ihn wie der Blitz. Plötzlich wurde ihm heiß, seine Knie wurden weich und er leuchtet gerade mit Sicherheit wie ein Glühwürmchen. Völlig aus der Bahn geworfen konnte er jetzt nur noch eines. Flüchten. Als wäre er die Nummer in einer magischen Show, verschwand er so plötzlich, wie er eben erst aufgetaucht war. So schnell ihn seine langen Beine trugen und so gut es die Schneemassen zuließen rannte er los. Was zur Höhle war das gerade und was zum Teufel tue ich hier bloß, war alles was dabei in seinem Kopf Platz hatte.
Einige Stunden später
Louis Sicht:
Louis lag mit geschlossenen Augen auf seinem Bett. Da waren sie wieder, die magisch grünen Augen, die vollen kirschroten Lippen, dieses wunderschöne Gesicht umrahmt von langen braunen Locken und diese tiefe warme Stimme die sich wie ein Mantel um ihn legte. Wüsste er es selbst nicht besser, würde er es glatt für einen Traum halten, so unwirklich war dieser Moment heute Nachmittag in dem Laden. „You're just too good to be true. Can't take my eyes off of you.", kam ihm mit einem sanften Lächeln über die Lippen.
Louis schlug die Augen auf und grübelte. Er hatte den Mann noch nie vorhergesehen, ob er überhaupt aus der Gegend war? Er musste ungefähr sein Alter haben, vielleicht etwas jünger. Studierte er hier am Campus? Oder war er nur zu Besuch in der Stadt? Seine Gedanken kreisten um die namenlose Gestalt und fanden keine Ruh. Wie sollten sie auch, wenn alles was Louis wollte, war, ihn wieder zu sehen? Eine zweite Chance zu bekommen. Ja. Himmel noch eins, war der schnell wieder raus aus dem Laden, dachte er und musste schmunzeln. Das laute Knurren seines Magen holte ihn rasch wieder zurück in die Gegenwart. Immerhin war es bereits Abend und er hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Mit Schwung sprang er aus dem Bett und zog sich seinen geliebten, grünen Kapuzenpulli und seine abgetragenen, schwarzen Vans an. Louis wusste, dass der Herd in seinem Stock noch immer nicht repariert wurde und so packte er seine Lebensmittel in einen kleinen Karton, um mit dem Lift in die Küche des Stockwerks unter ihm zu fahren. Das Studentenheim war riesig und bot viele Möglichkeiten, aber Louis hielt sich dann doch meistens nur bei sich im 7. Stock auf. Er wollte gerade die Küche des 6. Stocks betreten als er verwundert feststellte, dass er wohl nicht so allein war, wie er annahm, drang doch gerade Licht und Musik aus dem Türspalt der Küche.
Harrys Sicht:
Verträumt saß Harry am Fenster und sah den tanzenden Schneeflocken zu. Er hoffte, die Ruhe, die sie dabei ausstrahlten, würde auch ihn erreichen. Viel zu aufgewühlt war er noch von dem Erlebnis in dem Laden. Er konnte selbst nicht verstehen, was vorhin mit ihm los war. So war er doch sonst nicht. Ja, er war zurückhaltend, manche würden sagen, schüchtern, aber seine filmreife Flucht war doch nicht normal. Aber das, was er fühlte, als er in die meeresblauen Augen des hübschen Fremden blickte, war auch alles andere als normal. Noch immer konnte er nicht in Worte fassen was da genau mit ihm geschah. Er fühlte nur eine tiefe Sehnsucht und den unbändigen Wunsch, ihn wieder zu sehen. Er schloss die Augen und sendete aus tiefsten Herzen ein Stoßgebet hinaus in die Nacht. Eine zweite Chance war alles, um das er bat. Wenn das Schicksal ihm diese doch nur gewährten würde. Seufzend erhob er sich. Sein Hunger holte ihn zurück in die Realität. Da Harry wusste, wie versifft die Küche in seinem Stock war, würde er heute sein Glück einfach mal in dem Stockwerk über ihm versuchen. Er war neu hier und hatte sich bisher nur in der 5. Etage aufgehalten. Etwas unheimlich war es ihm schon, als er sich allein in der Küche des 6. Stocks ans Werk ging und so machte er das alte Küchenradio an, um sich nicht mehr ganz so einsam zu fühlen. Harry musste schmunzeln; der Song, der gerade lief, passte perfekt zu seiner Situation. Mariah sang: „Make my wish come true. All I want for Christmas is you." Harry schnappe sich den Besen und tanzte lautstark singend umher, als sich unbemerkt die Küchentür öffnete.
Louis Sicht:
Zaghaft öffnete Louis die Türe. Er hatte keine Ahnung, was ihn gleich erwarten würde, hatte er doch nicht damit gerechnet, am Tag vor Heiligabend hier noch auf Andere zu treffen. Er wusste nicht so recht, ob er darüber erfreut sein sollte oder ob er nicht lieber für sich bleiben wollte. Smalltalk war das Letzte, auf der jetzt Lust hatte. Mit gemischten Gefühlen zog er an der Tür. Er konnte nicht glauben, welches Bild sich ihm gerade bot. Was er sah, verschlug ihm heute nun schon zum zweiten Mal den Atem. Mister Magic, hier vor ihm, in seiner Küche! Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, bevor er sich mit einem Lächeln auf den Lippen und einem sanften „Hi!" schließlich bemerkbar machte.
Harrys Sicht:
Harry erschrak, als er plötzlich eine Stimme hinter sich hörte. Blitzschnell drehte er sich um und landete wie schon heute Vormittag erneut in einer fremden Person. „Oops!", entkam es ihm dabei, als er bemerkte, wer hier eigentlich vor ihm stand. Der schöne Fremde aus dem Laden! Zig Gedanken schossen ihm gleichzeitig durch den Kopf. Angefangen vom hochtrabenden das Schicksal ist unausweichlich über ein sehr direktes verkack es jetzt bloß nicht war alles dabei. Harry atmete tief durch, schloss für einen Moment die Augen bevor er das Erstbeste sagte, das ihm gerade in den Sinn kam: „Wenn die Welt jetzt untergehen würde, kämst du dann mit raus, um mit mir gemeinsam noch schnell ein paar Schneeengel zu machen?" Glockenhell hörte er den unbekannten Fremden lachen, spürte wie dieser sanft nach seiner Hand griff und leise flüsterte: „Mit dir jederzeit."
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Und so fanden sich die Beiden kurze Zeit später hungrig, frierend, aber glücklich strahlend und laut lachend mit dem Rücken im tiefen Pulverschnee liegend wieder. Manchmal passieren Dinge, die kann man sich einfach nicht ausdenken – so unwirklich sind sie... und doch werden sie vom Leben geschrieben.
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