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Noch während ich mich in den Viewfinder einloggte, fragte ich mich immer und immer wieder, ob das alles bloß Einbildung war. In diesem Modul, mit dem man sich über das Gerät mit Leuten in der virtuellen Realität treffen konnte, fühlte es sich jedoch so reell an.

Kurz darauf saß ich neben Lilith, fähig, sie anzufassen und mit ihr zu reden. Sie schien wie ein normaler Mensch, einer der Mitarbeitenden aus der Redaktion, mit denen ich mich im gebügelten Anzug zum Kaffee traf und Manuskripte verglich.

Ein Ort, der in meiner Vorstellung nach Plastikpflanzen und Papierkram roch, Zahnräder in meinem Kopf anstieß, ein Ort, in dem Konzentration in der Luft lag wie flimmernde Hitze an einem Sommertag.

Lilith passte keinesfalls in diese Vorstellung. Diesmal trug sie ein schlichtes weißes Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte und im Kontrast zu ihrer Hautfarbe stand. Ihre nackten Füße baumelten haltlos herum. Ihr ungebundenes, schwarzes Haar war immer noch wie ein Kreuz um ihre Schultern gelegt, und ihre Augen lächelten mich zur Begrüßung an.

"Hallo", sagte ich. Lilith nickte, dann wandte sie sich von mir ab und schaute nach oben in die Unendlichkeit. Mir schien, als ließe sie mir Zeit, um meine Gedanken zu sammeln.
"Ist alles okay?"
"Hm", erwiderte ich. "Ich frage mich nur, ob das wirklich passiert. Oder ob es ein Traum ist".

"Warum sollte es einer sein?", fragte sie, und freudlos lachte ich auf.
"Weil das so unrealistisch ist. Ich treffe mich hier immer mit Kollegen zum Meeting und stoße nicht plötzlich auf wildfremde Menschen, die im Wachkoma liegen, doch deren Bewusstsein im Viewfinder auf wundersame Weise funktioniert".

Lilith grübelte darüber nach. "Stimmt schon. Ich würde auch gern wissen, was da vorgefallen ist. Für mich selbst bin ich zumindest keine Einbildung, da bin ich mir sicher".
"Und ich hatte wahrscheinlich einen anstrengenden Tag und spinne mir im Schlaf deshalb komische Dinge zusammen".

"Wenn ich nur ein Traum bin, bin ich dann wenigstens ein guter?", hakte sie nach.
"Wird sich noch herausstellen", entgegnete ich schulterzuckend und ein herausforderndes Grinsen war die Antwort.
"Das finde ich zufriedenstellend, Riley".

Ein Schauer schlich über meinen Rücken bei der Art, wie sie meinen Namen aussprach. Wie eine Zauberformel, mit der man verblasste Runen entschlüsseln konnte, die einem den Weg zum Schatz verrieten. Als hätte sie stattdessen "Es gibt Hoffnung!" gesagt, wo diese alle anderen längst aufgegeben hatten.

"Aber eigentlich war die Frage auf etwas anderes bezogen".
Ich blinzelte verwirrt. "Ob du ein guter Traum wärst? Entschuldige, ich wollte es nicht so wirken lassen, als könne ich dich nicht leiden oder..."
"Das meinte ich nicht", unterbrach sie mich. "Sondern die Frage, ob alles okay ist".

"Mit mir ist eigentlich nichts okay. Manchmal ist es besser, manchmal schlechter, aber die Schmerzen gehen nie ganz weg", entgegnete ich ohne zu zögern. Solange meine Fassade der Gleichgültigkeit nicht in sich zusammenstürzte wie gestern das morsche Regal über meinem Schreibtisch, war das zuzugeben kein Problem.

Ich hätte es aufräumen sollen.

"Wer weiß das noch?", bohrte Lilith weiter nach.
"Die, die dafür gesorgt haben", knurrte ich.
"Haben sie das?", fragte sie.
"Ja. Das ist die Schuld von... gelegentlich denke ich, es ist die der ganzen Welt".
"Die Welt?"
"Die Welt". Lilith rieb sich das Kinn. "Aber kann dir die Welt auch helfen?"

Ich guckte etwas verwirrt drein. "Was soll das heißen?"
,,Na, kann ein Teil von der Welt deine Schmerzen lindern. Oder tut alles in der Welt dir weh?"
"Ich... Ich weiß nicht".
"Wir können es herausfinden. Dafür musst du mich nur kurz verlassen". Sie musterte meine skeptische Miene, ehe sie fortfuhr: "Stell dich vor ein Fenster, sieh dir die Landschaft an. Erzähl mir, was du feststellst".
Erst dachte ich mir, was für eine komische Idee das war. Dann gefiel mir aus unerklärlichen Gründen genau das daran. Was hatte ich schon zu verlieren?
"Wenn es sein muss", murmelte ich.

Ich loggte mich aus dem Viewfinder aus und landete wieder in meiner schummrigen, verstaubten Wohnung, in der mir der Gestank von Alkohol und Zigarettenrauch in die Nase biss. Und das, obwohl ich eigentlich daran gewöhnt war. Doch zu diesem Zeitpunkt war etwas anders. Ich konnte nicht benennen, was, aber ich spürte an dem mir fremden Kribbeln im Magen, dass es so war.

Ich klappte das handliche Gerät zusammen und trat ans Fenster.

Mein Kopf war in dichten Nebel gehüllt wie die Tannen in der Ferne. Regen prasselte gegen die Glasscheibe. Ich versuchte zu erkennen, was sie meinte, doch ich sah nur von Frost überzogene Dächer und endlosen, grauen Himmel.

Ich kehrte zu ihr zurück. "Und?", erkundigte sich Lilith in gelassenem Tonfall. Falls sie Erwartungen hatte, zeigte sie es nicht.
Dieses Mal zögerte ich. In meinen dickflüssigen Gedankensaft mischte sich ein Tropfen Verlegenheit. 'Welcher Mensch hat dich zuletzt an einer so einfachen Antwort zweifeln lassen?'

"Es ist sehr matschig draußen. Und kalt", sagte ich. "Aber warum willst du das wissen?"
"Stell dir vor, das Wetter wäre anders. Es ist Frühling, die Sonne wärmt deine Haut, bunte Blumen auf saftig grünen Wiesen strecken ihr ihre Hälse entgegen. Ich will wissen, verändere das etwas? Würdest du dich besser fühlen?"

Ich schluckte das Unwohlsein hinunter, das sich in meiner Kehle bildete. "Nein, nicht direkt. Warum sollte ich?"
"Da haben wir es", rief Lilith glücklich. "Wenn die Umwelt noch so strahlen kann und sich nichts bessert, dann liegt das Problem tiefer.

Ich starrte sie an, als hätte sie mir gesagt, dass sie gerne Nutella mit Fischstäbchen aß. "Wie dem auch sei, lass uns erstmal über nettere Dinge quatschen. Ich will deinen Tag nicht verderben".
Ich war wie aufgelöst. Bevor Lilith beginnen konnte, über irrelevante Banalitäten zu sprechen, bekam ich mich in den Griff.

"Was soll dieser plötzliche Umschwung?", schimpfte ich. "Erst erzählst du mir so was und dann dann möchtest du aus dem Nichts wieder über Alltagsscheiß reden?"
Sie zog einen Schmollmund. "Ich wollte mich mit dir eigentlich über Pokémon unterhalten. Aber na gut. Hat dich das denn so sehr getroffen?"

Ich machte eine Handbewegung, als wöllte ich ein lästiges Insekt vertreiben. "Es geht ums Prinzip. Ich habe keine Ahnung, was du von mir willst. Es kann nicht alles nach deiner Pfeife tanzen".
"Das will ich auch nicht", verteidigte sie sich und strich nebenbei ihre Locken glatt, als sprächen wir bereits über Banalitäten.

"Wenn wir schon dabei sind", feixte ich und verschränkte die Arme, "können wir uns auch weiter über ernste Sachen unterhalten. Über Wahrheiten. Ohne drum herum zu lavieren oder etwas schönzureden, wenn es nichts schönzureden gibt".
Die freundliche Gemütlichkeit verließ mit einem Schlag ihre Mimik. "Super Idee. Bekommt uns bestimmt gut".

Ihr Spott ließ meine Wangen glühen. "Warum hast du etwas dagegen? Du kannst doch anscheinend locker damit umgehen".
Ihr Blick hätte Glas zerschneiden und zugleich verlorenen Seelen den Weg weisen können.
"Ich weiß nicht, ob wir ein ähnliches Dasein gelebt haben- oder leben werden- aber du weißt offenbar nicht, dass man die kleinen, alltäglichen Dinge genießen sollte. Wie ein Gespräch über das Lieblingsessen und Pokémon".

Lilith kam mir vor, als mache sie beides hobbymäßig.

Denn genau so schnell, wie sie gegangen war, kehrte die alte Lilith mit den Grübchen und funkelnden Augen wieder zurück.
"Du bist wie jeder andere auch, der sich stark und unerschütterlich präsentieren will", meinte sie. "Wir wollen immer die Wahrheit wissen, dabei ertragen wir sie nicht". Sie rutschte näher zu mir.

"Stärke bedeutet nicht nur, alles auszuhalten, das weh tut. Stärke bedeutet auch, zu wissen, wann nicht der richtige Moment ist, und sich einfach mal zu entspannen, wenn man Lust darauf hat- sodass man sich später den harten Themen mit neuer Energie widmen kann, ohne in die alten Muster zu verfallen".

Zufrieden lehnte sie sich zurück und freute sich im Stillen über meinen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Ich war mir sicher, dass sie das tat.
"Hot Take", schwadronierte Lilith, "das ist ein wirklich tiefgründiges Zitat. Man sollte es verewigen".

"Nächster Hot Take", warf ich ein, "Psiana ist viel cooler als Glaziola".
"Was?", antwortete sie empört. "Es ist genau anders herum!"
"Nö".
"Also bei einer Konversation über Pokémon soll wirklich alles nach meiner Pfeife tanzen, sonst ist es inakzeptabel. Aus Prinzip".

Der Nebel in meinem Kopf wich einem Sonnenstrahl, der durch das Gefängnis aus dichten Wolken brach. Ich grinste sie an und etwas in mir blühte auf-
Wie eine Blume im Frühling.

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