p e r f e c t
✽+†+✽――
"Mein Zustand bessert sich".
"Bitte, was?"
Lilith sprach unbeirrt weiter.
"Was bedeutet, dass ich aus dem Krankenhaus entlassen werden würde".
Pause.
"Dann würde ich nicht mehr an den ganzen Maschinen hängen. Und auch nicht mehr an... am Viewfinder. Und das würde heißen, dass ich..."
Die Erkenntnis formte sich in meinem Kopf wie die Gewitterwolken am schiefergrauen Dach des Planeten.
"Dass ich mich von dir verabschieden muss, Lilith", vervollständigte ich ihren Satz.
Dann fingen die Gewitterwolken an zu grollen. Ob es die von draußen waren oder die in meinem Kopf, konnte ich nicht deuten.
"Du verschweigst mir etwas", murmelte ich.
Meine Gliedmaßen zitterten, ein brennender Knoten formte sich in meinem Magen, als hätte ich zu viel-
'Nicht daran denken', schärfte ich mir ein. Ich hatte mich jetzt auf Wichtigeres zu konzentrieren. Ich musste für sie da sein.
Nicht zuletzt, als Liliths Stimme den Klang von zerknirschtem Backpapier annahm.
"Merkst du nicht, dass ich einfach nur frei sein will?" Sie starrte händeringend ins Leere. Es klang ein wenig vorwurfsvoll, doch dieser mitschwingende Ton ging in der allumfassenden Verzweiflung unter.
"Was ich sagen will, ist bloß..." Sie lächelte schief. Wie konnte sie plötzlich wieder ein Lächeln auf ihre schönen, vollen Lippen zaubern? "Sei nicht so wie ich. Mach das Beste aus deinem Leben. Schätze es wert, gib ihm eine zweite Chance. Sonst wird sich irgendwann alles anfühlen wie Nebel, nicht mal den wirst du mehr fühlen können, und du wirst es dir zurückwünschen. Dann wirst du dich damit abfinden müssen, dass du an der Abbiegung dafür vorbei gefahren bist. Dann ist das proportionale Raster kaputt, das in Wahrheit nie existiert hat. Für immer".
Sie schnappte nach Luft und für einen entsetzlichen Moment lang flackerte Liliths Bild. Zum ersten Mal kam sie mir kleinlich vor, nicht mehr vollends sicher in dem, was sie tat, wie sonst immer. Zum ersten Mal kam sie mir vor wie ein realer Mensch mit Sorgen und Problemen, nicht wie ein Freigeist mit bitterem Beigeschmack.
Mir wurde schwindelig.
"Du gehst. Du lässt mich allein".
"Ich habe niemanden. Sie würden dich als eine Fremde nicht als Pflegeperson annehmen. Wenn ich dir überhaupt sagen könnte, wo ich wohne. Ich weiß es nicht mehr".
"Fuck! Lilith, du-"
Sie packte meine Schultern und küsste mich auf den Mund. Angst und Wut verebbten in meiner Brust, zurück blieb nur ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas Wunderschönes jemals wieder im nüchternen Zustand erleben würde.
Als wir uns voneinander lösten, fiel eine Last von mir, die mich jedes Mal, wenn ich sie traf, heruntergezogen hatte. Jetzt fühlte es sich an, als schwebe ich wirklich, nicht nur durch die virtuelle Realität des Viewfinders.
"...du hast keine Wahl", beendete ich meinen Satz.
"Nicht, wenn ich mich von den Schmerzen befreien will", sagte Lilith zustimmend und seufzte. "Ich werde die Sterbehilfe annehmen, die mir angeboten wurde. Ich schaffe es nicht mehr, aufzuwachen".
Ein Donnern hallte über unsere Köpfe hinweg, sodass Lilith kurz schwieg.
"Das ist die Wahrheit, die du dir immer so sehr wünschst. Du hast recht, sie ist meist nicht leicht, aber womöglich besser als eine rosarote Lüge, die dazu verdammt ist, in sich zusammenzubrechen und jegliche Hoffnung mit sich zu reißen".
Sie hob den Kopf und sah mich an. Ich konnte nicht anders und küsste sie noch einmal. Mir war abwechselnd heiß und kalt.
"Es tut mir leid, dass ich ausgerastet bin", sagte ich und meinte jedes Wort ehrlich. "Ich bin stolz auf dich. Du kannst mit deinen Problemen so viel klüger umgehen, du bist viel zu wunderbar für jemanden wie mich. Viel zu schön".
Jetzt lächelte sie wieder aufrichtig, wie ich es von ihr gewöhnt war. Doch Lilith schüttelte den Kopf. "So ein Bullshit. Ich habe alles falsch gemacht, was ich nur falsch machen konnte. So sehr, dass ich durch Drogenkonsum und einem Schlaganfall im Wachkoma gelandet bin. Ich passte nicht in eine scheinheilige Welt, die mich behandelte wie Abfall, vor der ich weglaufen musste. Ich bekam keine Hilfe, von niemandem. Dadurch habe ich zu spät realisiert, dass ich sie doch verdiene. Dass es sich lohnt, zu kämpfen".
"Und ich habe zu spät realisiert, wie sehr alles stimmt, was du mir erzählt hast".
"Meinst du, dass Glaziola cooler ist als Psiana?"
"Halt, stopp, das werde ich nie befürworten".
Sie machte einen Schmollmund und faltete unsere Hände ineinander.
"Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir einen ähnlichen Weg gegangen sind. Ich wünsche mir bloß, dass du anders als ich den richtigen Pfad einschlägst. Du stehst nun an der gleichen Wegkreuzung, an der ich vor einigen Wochen gestanden habe. Triff eine bessere Entscheidung als ich, darüber, ob und wofür du kämpfst. Bitte".
Ich dachte an den ganzen Alkohol, der sich in den morschen Schränken meiner engen, stickigen Einzimmerwohnung staute. An das Kokain, das Ketamin und das LSD in den Regalen. An die stummen Hilfeschreie, die Verluste und die Qualen, weil ich für meine Familie, für meine Umwelt, für gefühlt die gesamte Welt ein Fehler gewesen war. Die ganze Wahrheit, die ich fast vollständig vor Lilith verschwiegen hatte. Vor dem Menschen, dem ich am meisten vertraute.
Warum?
"Ich bin so dankbar, dass wir uns kennengelernt haben", würgte ich hervor. Ein Schauer schwappte über meinen Rücken. "Ich werde mich richtig entscheiden. Versprochen".
Ihre Augen funkelten auf wie Edelsteine, nachdem dieses Gelöbnis meinen Mund verlassen hatte. Als wären es die magischsten Worte, die ihr jemals zu Ohren gekommen waren. Vielleicht empfand man jeden Satz so, wenn man mit dem Menschen, den man liebte, seine letzten Minuten verbrachte.
"Danke", hauchte sie. "Ich habe gelernt. Heute wäre ein guter Tag, um zu sterben. Morgen auch. Und all die restlichen Momente, Atemzüge und Tage- Riley, die sind zum Leben da".
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