Prolog

Ein Märchen der Einsamkeit
Artikel von Amanda Davies

London, März 2020

Da ist diese Frau. Sie steht allein im Scheinwerferlicht. Nur ein Spot auf einer sonst stockdunklen Bühne. Ihre Arme weit zu den Seiten ausgestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt. Ihre Brust hebt und senkt sich schnell. Sie ist vollkommen außer Atem. Beinahe höre ich noch den letzten Ton, den sie gerade in die Welt hinausgeschrien hat. Eine Welle, die immer kleiner wird, je weiter sie vorantreibt, bis sie irgendwann nur noch ein sanftes Pulsieren ist.

Das Publikum schweigt, es scheint, als würde die ganze Welt stillstehen und diesen Moment genießen. Die Frau lässt ihre Arme sinken. Sie atmet tief ein und aus. Ihr Blick richtet sich in die Menge, doch sie kann das Publikum nicht sehen. Das Licht blendet sie und sie ist versucht die Augen zuzukneifen. Einen Moment lang huscht ein ängstlicher Ausdruck über ihr Gesicht. Nur so kurz, sodass ihn wahrscheinlich nur die wenigstens im Theaterpublikum bemerkt haben. Aber er war da.

Das Gesicht der Frau verändert sich. Erleichterung, Freunde, Glück. Das Publikum klatsch so laut, wie ich es selten in einem Theater gehört habe. Sie stehen auf, pfeifen. Andere stampfen mit ihren Füßen auf den Boden. Das ganze Gebäude vibriert und transportiert die Gefühle jedes Einzelnen hin zu der Frau, die auf der Bühne steht. Sie trägt jetzt ein glückliches Lächeln im Gesicht. Die ganze harte Arbeit, der Schauspielunterricht, der Tadel und die schlaflosen Nächte. All das hatte sich für sie gelohnt. Sie war in ihrem Element, sie war glücklich und dort, wo sie sein wollte. Auf der Bühne.

Natasha ist, wie sie mir selbst nach dem Auftritt versichert, nur ein anderer Mensch, wenn sie auf der Bühne steht. Sonst unterscheidet sich ihr Leben nicht von anderen, sagt sie. Sie muss einkaufen und die Wohnung putzen. Wäsche waschen und manchmal den tropfenden Wasserhahn reparieren. Sie muss auch an Tagen zur Arbeit, an denen sie lieber im Bett bleiben würde, selbst wenn sie ihren Job als Theater-Schauspielerin ja eigentlich liebt. Sie hat gute Tage, schlechte Tage. Durchschnittlich – dieses Wort benutzte sie sehr oft, als ich sie fragte, wie sie ihr Leben beschreiben würde. „Jeder hat glückliche Momente. Und jeder hat diese traurigen Augenblicke. Das macht unser Dasein doch aus, oder nicht?"

Ich selbst stimme ihr zu und mit mir wahrscheinlich auch sehr viele andere Menschen. Wie nah Glück und Traurigkeit am Ende beieinander liegen, erfuhr ich aber erst, als sie mir ihre Geschichte erzählte.

Natasha kam mit 12 Jahren nach Großbritannien. Ihre Eltern hatten Russland verlassen, um ihrer Tochter eine bessere und sichere Zukunft zu bieten. Sie wartete vor dem Klassenzimmer, in dem sich schon ihre neuen Klassenkameraden aufhielten und wartete auf den Lehrer. Sie war schüchtern. Trug ihr langes schwarzes Haar offen, sodass sie einen Großteil ihres Gesichtes verstecken konnten. Der Lehrer kam, bat sie hinein und sie stellte sich vor.

Ihre Mitschüler waren nett, und doch stellte sich nach einem Monat noch immer nicht das Gefühl für sie ein, angekommen zu sein. Eines Tages war sie in der Bibliothek auf der Suche nach einem Buch für eine Projektarbeit. Sie zog den dicken Wälzer aus dem Regal und erspähte im nächsten Gang ein anderes Mädchen, dass vertieft in einem Buch las. An das Regal angelehnt, Kopfhörer in den Ohren, bewegten sich ihre Lippen leicht, während sie das Gelesene vor sich hinmurmelte. Natasha konnte nur einen Teil des Titels lesen. Doch er begann mit „Theater". Sie wusste, dass die Schule einen eigenen Theater-Club hatte und am nächsten Tag fand sie sich vor dem Eingang wieder. Zögernd betrachtete sie das Schild, schüttelte den Kopf und drehte sich um. Sie wollte gehen. Theater war nichts für sie. Sie stand immer in der letzten Reihe bei Bildern und auch nur dann, wenn sie sich nicht vor dem Fotografen verstecken konnte. Sonst stand sie hinter der Kamera in Sicherheit.

Ein Mädchen hielt sie auf und fragte, ob sie nicht Interesse an dem Theater-Club hätte. Natasha verneinte, das Mädchen schien sie aber zu durchschauen, denn sie drückte ihr einen Stapel Papier in die Hand, und zog sie am Ellenbogen in den Theater-Club.

Die anderen Mitglieder waren erfreut. Ein neues Gesicht. Und noch dazu ein so hübsches. Jemand schob Natasha die Haare hinter die Ohren und alle schienen zufrieden mit dem Neuzugang zu sein. Der Reihe nach stellten sie sich vor. Es waren sieben an der Zahl. Plötzlich öffnete sich hinter ihr die Tür und ein weiteres Mädchen betrat den Raum.

Natasha erstarrte, war es doch das Mädchen, dass sie erst einen Tag zuvor in der Bibliothek gesehen hatte. Das Mädchen, dass sie eigentlich ganz ohne Grund fasziniert hatte. Doch anders als die anderen Club Mitglieder war dieses Mädchen zurückhaltend, nickte Natasha nur knapp zu und setzte sich dann auf einen Stuhl.

Die Wochen vergingen und Natasha fühlte sich endlich wohl. Sie schien angekommen zu sein. Dort zu sein, wo sie hingehörte. Der Theater-Club. Sie war eine von neun Mitgliedern. Ihre Haare trug sie nun hochgesteckt oder geflochten. Immer wieder hatten die anderen Mädchen ihre Schönheit bewundert und sie gebeten sich nicht hinter einem Vorhang zu verstecken. Immerhin diente der Vorhang beim Theater auch nicht um Verstecken. Der Vorhang ging für wundervolle Momente, Erzählungen, Geschichten, Märchen auf. Er verbarg keine Traurigkeit, Schüchternheit oder Einsamkeit.

Eines Tages saß Natasha auf der Treppe und versuchte den Text für ein neues Theaterstück zu lernen. Ohne Erfolg. Die Zeilen wollten ihr einfach nicht im Gedächtnis bleiben. Egal wie oft sie die Worte wiederholte. Hinter ihr hörte sie Schritte und als sie sich umdrehte, sah sie in die dunklen Augen des einen Mädchens, dessen Freundschaft sie nie hatte gewinnen können. Sie sah wieder auf ihren Text und die bunten Markierungen. Notizen, wann sie etwas betonen sollte, wann sie eine Pause einlegen sollte.

Wider Erwarten setzte sich das Mädchen neben sie und half ihr beim Lernen. Sie übten über eine Stunde zusammen und als sie sich am nächsten Tag in der Schule trafen, aßen sie gemeinsam Mittag und gingen zusammen nach Hause. Eine Freundschaft erblühte, wie Natasha sie noch nie erlebt hatte. Das Mädchen verstand sie. Fast war es, als hätte sie Natashas Gedanken lesen können. Die Schuljahre vergingen, die erste Liebe mit ihnen, doch die Freundschaft zwischen den neun Mädchen blieb und wurde inniger.

Kurz vor ihrem Abschluss kam dann der Bruch. Es ist einfach, Freunde zu sein, wenn man sich jeden Tag sieht. Doch verliert man sich erst einmal aus dem Blick, wird es unheimlich schwer, den Kontakt zu halten. Telefonate können einfach nicht die echte Freundschaft aufrechterhalten, erklärt mir Natasha mit einem traurigen Ausdruck in den Augen.

Der neue Theater-Club auf dem College war professioneller und Natasha schaffte es schnell auf die Bühne als Hauptrolle und doch war da diese Einsamkeit, die sich in ihrem Herzen eingenistet hatte. Es gab nur einen Moment, da vergaß sie dieses Gefühl komplett. Der Moment, wenn sie in die Rolle einer anderen Person schlüpfte und sie vorgeben konnte, jemand ganz anderes zu sein. Sie konnte Menschen lieben und hassen. Schön sein oder ihrer Einsamkeit Ausdruck verleihen. Auf der Bühne musste sie nicht sie selbst sein.

Natasha ist heute die gefeierte Schauspielerin im Londoner Theater. Sie bekommt Blumen geschenkt, ständig Gratulationen und Glückwünsche. Neidische Blicke, bewundernde Blicke. Applaus über Applaus. Umarmungen. Und doch ist da diese Einsamkeit, von der sie mir berichtet. Sie hatte sie nie wieder verloren, da sie auch nie wieder den Kontakt zu ihren alten Freundinnen gefunden hatte.

Nur, sagte sie, einen Moment gab es. Vor drei Jahren, an dem sie für einen kurzen Augenblick überrascht und glücklich gewesen war. Zwar war die Traurigkeit danach auf sie hereingestürzt wie nie zuvor, doch das glückliche Lächeln ihrer alten Freundin, die sie zufällig auf der anderen Straßenseite mit ihrem Mann und ihrem Sohn gesehen hatte, hatte sie für einen Moment wieder in ihren geliebten Theater-Club aus der Schule zurückversetzt.

Es war nur ein Moment gewesen und die Tränen hatte sie danach nicht zurückhalten können. Sie weinte nie. Gestattete es nicht, doch in diesem Moment war sie erleichtert, traurig und glücklich zugleich gewesen. Es waren Freudentränen. Mehr Freude als Traurigkeit, versuchte sie sich zumindest einzureden. Einen Moment nur hatte sie die drei beobachtet ehe sie sich umgedreht und nach Hause gegangen war. Sie hatte Wäsche gewaschen, gekocht und ihren Text geübt. So wie jeden Abend. Allein. Ohne Hilfe.

Aber sie war glücklich. Zumindest dann, wenn sie auf der Bühne stand. Und sie versicherte mir, dass es sie glücklich machte, anderen Menschen eine Möglichkeit zu bieten, aus ihrem Alltag zu entfliehen. Und das tat sie, hatte ich es doch selbst gespürt. Für zwei Stunden war ich nicht die Journalistin gewesen, sondern einfach nur jemand, der mit Natashas Rolle gelitten, gelacht und geweint hat.

Natasha lächelte, als sie mir das sagte und ich hatte plötzlich einen Gedanken im Kopf. Nur, weil ein Mensch lächelte, hieß das nicht, dass er glücklich war. Und nur, weil er weinte, musste er nicht traurig sein. 

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Seid bereit! Am Freitag, den 13.03.2020 folgen die ersten Kapitel!

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