Kapitel 53 - Amanda
Teil 2 der Lesenacht
~~~~~~~~~~~~~~~~~
Pünktlich um 14:25 Uhr stand ich vor dem TiWo-Forschungszentrum. Wieder begrüßten mich Glas und graue Flächen, was mir wie schon beim letzten Mal ein eher kühles Gefühl vermittelte. Ein wenig aufgeregt betrat ich das Gebäude. Zu meiner Überraschung herrschte hier reger Betrieb. Die Wissenschaft schläft wohl nie, schoss es mir durch den Kopf, ehe ich mich wie beim letzten Mal auf den Weg zur Rezeption machte.
Kurz kamen mir meine Gedanken zu Caiden und dem gestrigen Treffen mit seinen Eltern in den Kopf. Wohlige Wärme breitete sich in mir aus. Wenn mich all dies hier nervös machte, dann würde ich eben an die schönen Momente mit Caiden denken. Das schien mein Herz generell schneller schlagen zu lassen, in einer stressigen Situation wieder dieser aber gleichzeitig beruhigend zu wirken.
Daniel hatte mir gestern noch die Unterlagen gegeben, die ich für das Treffen brauchte. Wir waren sie kurz durchgegangen und er hatte die entsprechenden Stellen, an denen Auffälligkeiten zu sehen waren, farblich markiert. Bei den echten Finanzberichten hatte er außerdem die Stellen markiert, wo ersichtlich wurde, dass tatsächlich Gelder verschwanden, hier aber kein einziger Hinweis dafür bestand, dass Caiden hinter der ganzen Sache steckte.
Mein Plan war es, Samantha mit genau diesen Fakten zu konfrontieren. Ich wollte ihr die Berichte regelrecht um die Ohren hauen und aus dem Konzept bringen. Danach würde ich Fragen stellen und vielleicht würde sie dann auch erkennen, dass Caiden das Opfer war. Noch immer verunsicherte mich das Risiko, dass sie sich einfach an einen anderen Journalisten wenden könnte, doch ich versuchte, optimistisch zu bleiben. Mein Eindruck von ihr konnte nicht so falsch sein. Die Arbeit für gehörlose Menschen schien ihr wirklich wichtig zu sein. Die Frage war letzten Endes nur, wie wichtig. Wichtiger als ein hinterhältiges Komplott?
Ich kündigte mich bei der Empfangsdame an, die mir wieder eine kurze Einweisung in die Funktionalität meines Besucherausweises gab und dann auf die Fahrstühle deutete. Mit klopfenden Herzen stieg ich in den nächsten freien Aufzug und fuhr in Samanthas Büro. Davor angekommen meldete ich mich bei ihrer Assistentin an und wartete, bis ich durchgelassen wurde.
Als ich schließlich das Büro betreten durfte, waren meine Hände schwitzig und mein Pulsschlag alles andere als in der Normalregion. Dennoch versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen.
„Amanda. Wie schön, dass wir uns endlich wieder sehen!" Samantha trat auf mich zu und reichte mir ihre Hand. Automatisch erwiderte ich den Händedruck. Dann wurde meine Aufmerksamkeit auf eine zweite Person im Raum gelenkt. Und mein erster Gedanke war: Das war nicht Teil des Plans gewesen. Ich versuchte, mir Mut zuzureden, dass der Mann gleich gehen würde, doch er gesellte sich zu uns und stellte sich vor. „Guten Tag. Mein Name ist Maximilian Murphy. Ich bin Samanthas Bruder."
Bruder. Maximilian. Richtig. Maximilian Murphy war Samanthas jüngerer Bruder. 39 Jahre alt, wenn ich mich richtig erinnerte. Wie seine Schwester hatte er dunkle Augen und glänzend schwarzes Haar, das er kurz trug, sodass ihm nicht einmal eine Strähne in die Stirn fiel und er war gute zehn Zentimeter größer als ich.
„Guten Tag Mister Murphy. Wie schön Sie kennenzulernen", erwiderte ich gewissenhaft. Ein smartes Lächeln huschte über sein attraktives Gesicht und ich war mir sicher, dass er reihenweise Frauenherzen erobern konnte.
„Maximilian bitte. Setzen Sie sich doch zu uns. Möchten sie etwas trinken?"
Ein sehr unangenehmes Kribbeln meldete sich in meinem Nacken. Obwohl Maximilian freundlich und höflich wirkte, war da etwas, was ich nicht benennen konnte. Aber es störte mich und ließ mich innerlich zusammenzucken. Es war ganz so, als würde sich hinter der gutaussehenden, höflichen Fassade ein ganz anderer Mensch verbergen.
Mein Blick glitt zu Samantha, die jetzt, da Maximilian das Wort ergriffen hatte, zwei Schritte zurückgetreten war und ihm die Führung überließ. Interessant. Immerhin war das ihr Forschungszentrum. Ich hatte einen Termin mit ihr und sie war die Ältere der beiden. Die Rollenverteilung schien dennoch eine andere zu sein.
„Ein Wasser wäre hervorragend. Vielen Dank." Maximilian nickte und wie erwartet gab Samantha ihrer Assistentin Bescheid uns allen etwas Wasser zu bringen. Mein Gefühl hatte mich nicht getäuscht. Dennoch stellte sich mir jetzt eine ganz andere Frage. Was wollte er hier?
Wir setzten uns und kurz darauf wurde das Wasser gebracht. Ich trank einen kleinen Schluck, ehe ich das Glas wieder abstellte. Dann sah ich erwartungsvoll zwischen den beiden Geschwistern hin und her.
„Mein Bruder möchte bei dem Treffen dabei sein. Er hat ein genauso großes Interesse an dem, was sie herausgefunden haben wie ich. Daher dachte ich, wäre es ratsam ihn gleich mit in das Gespräch einzubeziehen, anstatt ihm im Nachhinein alles erzählen zu müssen."
Ich nickte, fand die Idee aber alles andere als gut. Mein Plan hatte vorgesehen, Samantha in die Enge zu drängen. Sie ein wenig unter Druck zu setzen mit den Fakten. Maximilian machte mir nun mit seiner bloßen Anwesenheit einen Strich durch die Rechnung und ich war mir sicher, dass ich ihn nicht so einfach mit ein paar Zahlen aus dem Konzept bringen konnte.
Daher entscheid ich mich spontan um. „Sagen Sie Samantha, wer hat Ihnen die Berichte gegeben?"
Überrascht sah Samantha mich an. Ihr Blick flog kurz zu Maximilian, ehe sie wieder mich ansah. „Was spielt das für eine Rolle?"
„Beim letzten Treffen sagten Sie, ein Freund hätte Ihnen die Finanzberichte ausgehändigt. Ist es ein Angestellter bei TiWo gewesen?"
„Nun. Nicht direkt", räumte Samantha ein. Doch noch ehe sie weitersprechen konnte, mischte Maximilian sich ein. „Wieso wollen Sie das wissen?"
„Es ist wichtig für mich, die Glaubwürdigkeit meiner Quellen zu verifizieren", erwiderte ich ruhig.
„Wieso sollten Sie an unserer Glaubwürdigkeit zweifeln?", entgegnete Maximilian und Argwohn zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
„Ohje. So war das nicht gemeint. Ich stelle Ihre Integrität nicht infrage. Aber wenn Sie die Berichte von jemandem haben, dann muss ich sicher sein, dass man auch dieser Person vertrauen kann. Das hier ist immerhin eine sehr brisante Geschichte. Wenn wir da keine lückenlose Beweisführung intern haben, könnte das zu Komplikationen führen." Der Argwohn verschwand zum Großteil aus Maximilians Gesicht. Ich atmete erleichtert aus, da ich gehofft hatte, mit dieser Antwort auch Maximilian ein wenig für mich zu gewinnen.
„Ich habe die Berichte an meine Schwester weitergegeben."
Es kostete mich viel Mühe, um nicht die Augen aufzureißen und aufzuspringen. Maximilian hatte die Berichte seiner Schwester gegeben? Bedeutete das...? Schnell schloss ich mich vor möglichen Schlussfolgerungen und konzentrierte mich auf meine Fragen.
„Wieso haben Sie das getan? Sie hätten auch selbstständig Kontakt zur Presse aufnehmen können."
„Meine Schwester verfügt über eine bessere Reputation und größere Bekanntheit als ich. Daher erschien es uns klüger, dass sie die Informationen weiterleitet. Da wir nun aber wissen, dass sie Beweise für Caiden O'Neills Schuld haben, können wir Ihnen immerhin diese Wahrheit zugestehen." Er lächelte verschmitzt, doch in meinem Magen bildete sich ein Kloß.
„Beweise für O'Neills Schuld?"
„Nun ja. Sonst wären Sie ja nicht hierher gekommen, oder?"
Der Kloß wurde größer und eine Woge der Übelkeit überkam mich. Fest umgriff ich meine Tasche, in der ich die Papiere hatte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, jetzt die beiden mit der Wahrheit zu konfrontieren. Daher setzte ich ein Lächeln auf. „Oh ja, natürlich. Ihre Berichte deuten ohne Zweifel darauf hin, dass O'Neill Spendengelder für private Zwecke verwendet hat."
„Was genau haben Sie?" Mit einem erwartungsvollen Blitzen in den Augen lehnte Maximilian sich nach vorn und stützte seine Unterarme auf dem Knien ab. „Sie haben doch bestimmt etwas dabei, dass Sie uns zeigen können. Dann besprechen wir, wie wir O'Neill für seine Schandtat büßen lassen und werden ihn der Öffentlichkeit zum Fraß vorwerfen."
Ich zuckte zusammen. Ganz egal, wie sehr ich es versucht hatte. Die Reaktion konnte ich nicht unterdrücken. Leider war Sie Maximilian nicht entgangen. Sein Blick fiel auf meine Tasche, die ich fest umklammert hielt.
„Amanda", begann er mit schmeichelnder Stimme. „Spannen Sie uns nicht auf die Folter und geben Sie uns Ihren Bericht." Gespannt streckte Maximilian seine Hand aus und wartete, dass ich ihm gab, was auch immer sich in meiner Tasche befand.
„Ich... denke nicht, dass ich Ihnen etwas geben kann, was verständlich ist. Sie wissen ja, die Zahlen in solchen Berichten sind sehr verworren."
„Ach was. Mein Bruder kennt sich in Buchführung und Finanzierung sehr gut aus. Wozu sonst hätte er das Fernstudium machen sollen?"
„Samantha", herrschte Maximilian seine Schwester an. Sie und ich zuckten bei seinem wütenden Tonfall heftig zusammen und blickten ihn mit großen Augen an.
Da war sie. Die Bestätigung. Maximilian hatte die Möglichkeit, die Zeit und das Motiv um diese Berichte zu fälschen. Ebenso wie Samantha wollte er Caiden loswerden. Dafür musste ich kein Psychologie-Studium absolviert haben, um diesen Hass zu sehen. Und plötzlich wurde mir noch etwas bewusst. Wenn Maximilian die Berichte fälschen konnte, und die Kenntnisse in Finanzierung und Buchführung hatte, wäre er dann nicht auch in der Lage, selbst Spendengelder zu hinterziehen?
Schockiert starrte ich den Mann vor mir an. Ich schnappte nach Luft, als mir das Ausmaß meiner Erkenntnis bewusst wurde. Wir hatten den Täter. Wir wussten jetzt, wo wir suchen mussten.
„Amanda, geht es Ihnen nicht gut?", fragte Samantha leicht besorgt. Ich sah sie an und erkannte die Unwissenheit. Sie hatte keine Ahnung, was ihr Bruder getan hatte. Sie glaubte ihm und seinen Lügen. Mein Blick glitt zu Maximilian, als dieser plötzlich aufstand.
Ich wollte mich ebenfalls erheben, um ihm nicht die Kontrolle über die Situation zu geben, aber sie war mir bereits abhandengekommen, als ich das Büro betreten hatte.
„Sie bleiben sitzen und geben mir ihre verdammte Tasche."
Samantha schnappte nach Luft, doch noch ehe sie etwas sagen konnte, zischte er: „Halt die Klappe, Sam." Dann entriss er mir meine Handtasche. Hilflos sah ich zu, wie er sie öffnete und den Umschlag mit den Berichten herausholte. Er zerriss den Umschlag fast. Dann überflog er die Berichte und mit jeder Seite, die er weiter umblätterte, sah ich, wie sich seine Wut in dunklen Zorn verwandelte. Mein Blick wanderte zur Bürotür, doch mir war bewusst, dass ich niemals schnell genug da sein würde.
„Max, was soll das alles?", fragte Samantha verunsichert.
„Ich sagte, du sollst deine Klappe halten", brüllte er nun und warf die Blätter auf den Tisch. Seine Stimme hallte laut von den Wänden wieder und ich fragte mich, ob die Assistentin draußen hören musste, was hier drin passierte. Ich hoffte es.
Vor Wut traten an Maximilians Schläfen die Adern deutlich hervor. Er biss die Zähne zusammen und fixierte mich, als wollte er mich hier und jetzt erwürgen. Leichte Panik machte sich in mir breit. So weit würde er doch nicht gehen, oder? Immerhin saß seine Schwester mit im Raum und viele Menschen haben mich das Büro betreten sehen. Caiden und Daniel wussten, dass ich hier war.
„Wieso haben Sie die Berichte nicht einfach veröffentlicht?", spie er mir entgegen. Ich schüttelte den Kopf. „Weil ich nicht wusste, ob sie echt sind oder nicht. Wie ich sagte, kann ich nicht einfach ungefragt etwas veröffentlichen."
„Was soll der Scheiß? Bei Cadiz konnten Sie das auch."
Ich versuchte, ruhig zu bleiben und Maximilian so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Wenn ich weiterhin sitzen blieb und die schwache Frau spielte, würde er vielleicht wie ein Wolf toben, aber nicht handgreiflich werden. Ich konnte nicht einschätzen, was in seinem Kopf vorging. Aber wie weit war der Sprung von jemanden, der Spendengelder hinterzog zu jemanden, der Frauen schlug?
„Die Sache um Cadiz wurde monatelang recherchiert. Und da hatte nicht nur ich meine Finger mit im Spiel." Tatsächlich hatte ich einen vergleichsweise kleinen Anteil an dem ganzen Chaos. Und es holte mich frustrierenderweise noch immer ein.
„Max." Samantha stand auf und legte eine Hand auf seinen Oberarm. „Beruhig dich erst einmal. Was ist denn los?"
„Fass mich nicht an!" Grob stieß Maximilian seine Schwester von sich. Mit einem Aufschrei prallte sie gegen ihren Sessel, ehe sie das Gleichgewicht verlor und nach vorne taumelte. Das dumpfe Geräusch, als sie mit dem Kopf gegen den Tisch schlug, schien ewig anzuhalten. Dann legte sich eine bleierne Stille über das Büro.
Ich reagierte instinktiv, ohne nachzudenken. „Was haben Sie getan?", rief ich und kniete mich neben Samantha auf den Boden. Eine kleine Blutspur zog sich von ihrem Haaransatz zu ihrer Augenbraue.
„Samantha, geht es Ihnen gut?"
Ein schmerzhaftes Stöhnen entwich ihrer Kehle, was mich aufatmen ließ. Sie lebte. Mit zitternden Lidern öffnete sie die Augen. „Mein Kopf. Verflucht, wieso tut der so weh?" Fast wäre ich versucht gewesen, zu lächeln, doch dann wandte ich mich an Maximilian. „Rufen Sie einen Krankenwagen. Ihre Schwester muss untersucht werden."
„Red keinen Unsinn. Die keine Beule verheilt von selbst."
„Jetzt seien Sie kein Arschloch und helfen Sie Ihrer Schwester!" Brüllte ich ihn an. Er stand nun näher bei mir, da ich neben seiner Schwester kniete. Die Ohrfeige traf mich daher so überraschend, dass ich mir Schreck die Luft wegblieb.
„Halt die Klappe. Ich muss nachdenken."
Nachdenken? Die Übelkeit kam mit aller Macht zurück und nur gerade so konnte ich ein Würgen unterdrücken. Mit der Übelkeit kam die Angst. Von einem leichten Schreck spürte ich nichts mehr. Jetzt hatte ich blanke Panik. Zitternd zog ich meine Strickjacke aus und drückte den Stoff auf Samanthas Kopfwunde. Sie stöhnte erneut auf. Wirklich bei Bewusstsein war sie nicht, aber bewusstlos war sie auch nicht. Kurz warf ich einen Blick auf Maximilian, der zwischen Bürotür und Sofa hin und her lief, während er scheinbar überlegte, was er nun machen sollte.
Mein Blick glitt zu meiner Tasche. Ganz unauffällig zog ich sie mit einem Bein heran und griff nach meinem Handy. Ich drückte auf Wahlwiederholung, was ich tun konnte, ohne zu lange auf das Display zu schauen. Dann schob ich es unter den Tisch und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Maximilian.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top