Kapitel 36 - Amanda

„Bitte was?", fragte ich vollkommen fassungslos. Caiden? Geldhinterziehung? War das ihr Ernst? Mein Herzschlag beschleunigte sich und das Blut begann in meinen Ohren zu rauschen. Nur mit Mühe verstand ich Samantha nächste Worte.

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Finanzen nicht ganz so gut dastehen wie letztes Jahr, als mein Vater noch die Oberhand hatte. Daher habe auch ich meine Finanzierung in TiWo etwas zurückgeschraubt." Ich öffnete den Mund und wollte Caiden verteidigen, besann mich aber dann eines Besseren. Jetzt und hier war ich Journalistin und wenn Caiden wirklich Spenden für eigene Zwecke abzweigte, war ich es der Stiftung und den Spendern schuldig, dies zu beweisen. Daher steckte ich meine persönlichen Gefühle zurück und stelle Samantha eine Reihe an Fragen.

„Wann haben Sie davon das erste Mal gehört?"

„Kurz vor der Veranstaltung von TiWo zu Ehren von O'Neill. Meine Vermutung ist, dass er sich bei meinem Vater eingeschleimt hat, um den Posten als Vorsitzender zu bekommen. Jetzt hat er die Macht, das alles zu vertuschen."

Ich überging Samanthas Vermutung und konzentrierte mich auf die Fakten.

„Wissen Sie, von wie viel Geld wir hier reden?"

„Nicht genau, nein. Aber wir befinden uns im sechsstelligen Bereich." Meine Augen wurden groß, aber ich unterdrückte weiterhin den Drang, Partei zu ergreifen.

„Woher haben Sie die Information?"

„Von einem Freund, der bei TiWo arbeitet und genauso wie ich zweifelt, dass Caiden der richtige Mann für den Job als Vorsitzender ist."

„Was für Informationen waren das?"

„Finanzberichte aus den letzten Jahren, die alle ein paar Ungereimtheiten aufweisen. Buchungen zu denen es keine Belege gibt und so weiter. Aber was spielt das für eine Rolle?" Ich überging die Frage von Samantha und stellte die letzte und wahrscheinlich wichtigste Frage.

„Wieso Caiden O'Neill? Wieso denken Sie, er steckt dahinter?"

„Ganz einfach. Er hat die Gutherzigkeit unseres Vaters ausgenutzt und ihm weisgemacht, dass er ein durch und durch anständiger Mann ist, aber das ist er nicht. Er manipuliert, intrigiert und lügt, wenn er nur den Mund aufmacht. Diese lächerliche Rede auf der Veranstaltung ist doch ein perfekter Beweis", zische Samantha und jetzt zeichneten sich Wut und Abscheu Caiden gegenüber auf ihrem Gesicht deutlich ab. Das Blut war mit jedem weiteren Wort in ihre Wangen gestiegen. Zornesfalten durchzogen die eigentlich glatte Stirn der Frau und ihre Hände hatte sie fest in die Sessellehnen gepresst. Mit einem Mal sah Samantha Murphy nicht mehr ganz so hübsch aus.

„Was ist das Motiv?" Ich blieb äußerlich ruhig, auch wenn sich in mir ein beklemmendes Gefühl breitmachte. Ich vermutete, Samantha hasste Caiden abgrundtief. War er wirklich ein so schrecklicher Mensch, dass man ihn nicht mehr als Hass und Verachtung entgegenbringen konnte? Ich hatte einen anderen Eindruck gehabt. Aber was wusste ich schon? Ich kannte Caiden nicht wirklich. Hatte ich nicht genau das zu Charlie gesagt? Innerlich seufzte ich auf, als sich die ersten Zweifel zwischen meinen Beschützerinstinkt mischten.

„Ist das nicht offensichtlich? Caiden O'Neill ist bei einfachen Eltern aufgewachsen, die ihm nichts bieten konnten. Mit dem Geld der Stiftung kann er sich aber ein angenehmes Leben ermöglichen."

Caidens Vater hatte vielleicht keine Millionen auf dem Konto, aber er war ein verdammt anständiger und herzlicher Mensch. Ich war mir sicher, dass Caiden mit einer elterlichen Liebe großgeworden ist, wie man sie selten sah. War Caidens Hintergrund etwa der einzige Grund, warum sie ihn und niemand anderen beschuldigte? Die Zweifel begannen sich so schnell wieder zu verflüchtigen, wie sie gekommen waren. Auch wenn ein kleiner Rest noch blieb.

„Wissen Sie, ob er Geldprobleme hat?"

„Caiden? Nein, nicht direkt, es würde mich aber nicht wundern", erwiderte sie abfällig. Mein Verdacht bestätigte sich. Samantha hasste Caiden. Wieso genau, das konnte ich nicht sagen. Aber dieses Verhalten war weniger darauf zurückzuführen, dass es Probleme in der Stiftung gab als darauf, dass sie Caiden dafür verantwortlich machen wollte.

„Gibt es sonst noch jemanden, der ein Motiv hätte?"

„Wieso? Der Fall ist doch offensichtlich. Holen Sie sich Ihre Beweise und schreiben Sie über diesen Mann. Zerreißen Sie ihn in der Luft. Ich stelle Ihnen alles zur Verfügung, was ich habe. Nur tun sie etwas, damit er nicht die Chance bekommt, die Stiftung herunterzuwirtschaften. Herrgott, er hat ja noch nicht mal ein BWL Studium."

„Was hat er denn dann studiert?"

„Audiologie."

Wie Aden. Gut, dass ich damit jetzt etwas anfangen konnte. „Das ist doch auch sehr wichtig. So weiß er, worauf es beim Verteilen der Spenden ankommt."

„Natürlich macht das nach Außen den Schein, aber wenn er das Geld abzweigt, ist es egal, was er studiert hat."

„Da gebe ich Ihnen Recht", lenkte ich schnell ein. „Haben Sie irgendwelche Papiere, die Sie mir bereits mitgeben können? Die letzten Finanzberichte zum Beispiel?"

„Sie nehmen sich also der Sache an." Es war keine Frage, sondern nur die Bestätigung darüber, was Samantha sich schon von Anfang an gedacht hatte. Ich nickte. „Das werde ich." Wenn auch nicht so, wie sie es vermutete. Samantha nickte und stand auf. Sie ging zu ihrem Schreibtisch herüber und zog einen braunen Umschlag aus einer Schublade heraus. Ich erhob mich, als sie wieder zu mir trat, damit ich mit ihr auf Augenhöhe war. „Hier ist alles drin, was ich bisher sammeln konnte. Sehen Sie es sich an und wenn sie Fragen haben, melden Sie sich." Ich nahm den Umschlag, Samantha ließ aber nicht los, weshalb ich ihr wieder in die Augen sah. „Es ist mir wirklich wichtig, dass Sie dieser Farce ein Ende bereiten. TiWo hat meinem Vater alles bedeutet. Die Stiftung bedeutet auch mir und Maximilian viel."

Die Ernsthaftigkeit und das Flehen in Samanthas Augen ließ mich stocken und eine weitere Erkenntnis traf mich. Sie wollte Caiden nicht einfach loswerden und ihm eine Straftat zuschieben. Sie war wirklich um die Stiftung und ihre Zukunft besorgt. Das wiederum bedeutete, dass es wohl wirklich Probleme gab. Ob nun Caiden oder jemand anderes der Grund dafür war. Oder war sie so eine gute Schauspielerin? Die Antworten, die sie mir gegeben hat, zeugten eher darauf hin, dass sie Caiden einfach nur so schnell wie möglich loswerden wollte. Aber vielleicht täuschte ich mich auch und sie glaubte wirklich, Caiden wäre ein Krimineller.

„Ich verspreche Ihnen, aufzudecken, was sich hinter den seltsamen Berichten verbirgt. Darauf haben Sie mein Ehrenwort", erwiderte ich daher mit fester Stimme. Samantha nickte, ließ den Umschlag los und ging wieder zu ihrem Schreibtisch. Damit war das Treffen offiziell vorbei.

Zwanzig Minuten später stand ich vor dem Bürogebäude von TiWo. Ganze zwei Tage früher als geplant, aber in mir war auf dem ganzen Weg nicht einmal ein Zweifel aufgekommen, dass es ein Fehler war, Caiden direkt mit den Anschuldigungen zu konfrontieren. Mich hatte dieses Geheimspiel um Cadiz genervt, und wenn Caiden mich anlog, würde ich es sofort merken. Da war ich mir sicher. Wieder holte ich vor Eintreten meinen kleinen Spiegel aus meiner Tasche. Dann schnaubte ich und warf den Spiegel, ohne ihn geöffnet zu haben wieder zurück. Jetzt war nicht die Zeit, sich um meine Sommersprossen Gedanken zu machen. Wenn Samantha recht hatte, und Caiden etwas mit der Geldhinterziehung zu tun hatte, musste ich schnell handeln. Ganz gleich, wie nett er mir erschienen war. Jetzt war jede Minute kostbar.

Also trat ich ins Foyer und ging auf die junge Rezeptionistin zu.

„Hallo, ich habe einen Termin mit Mister O'Neill", log ich, ohne rot zu werden. Die junge Frau blinzelte und schaute einen Moment auf den Monitor vor ihr. „Oh, ähm. Hier steht aber nichts im Terminkalender von Mister O'Neill", erwiderte sie mit zarter und unsicherer Stimme. Ich seufzte theatralisch. „Hat er mich schon wieder vergessen? Männer... wirklich. Jetzt bin ich den ganzen Weg hierhergefahren. Umsonst?" Bewusst hochnäsig übertrieb ich meinen Ärger, wobei mir die Frau ein wenig leidtat.

„Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich... ich kann versuchen bei Mister O'Neill anzurufen." Dankbar nickte ich und wartete, während die junge Frau den Telefonhörer ans Ohr legte.

„Hallo. Ich wollte nur kurz sagen, dass Caidens Termin hier ist. Eine Frau..." Erwartungsvoll sah sie mich an. „Murray", erfand ich spontan und die Rezeptionistin wiederholte meinen Namen.

Interessiert nahm ich zur Kenntnis, dass sie Caiden ebenfalls beim Vornamen nannte, obwohl er der Vorsitzende war. „Ja, ich konnte auch nichts im Kalender sehen, aber na ja... jetzt ist sie schonmal da. Darf ich sie hochschicken?" Eine kleine Pause entstand, gefolgt von einem Nicken und einem kurzen Abschiedsgruß.

„Miss Murray, fahren Sie bitte in die siebte Etage. Dort wird Sie Mister O'Neills Sekretärin erwarten."

„Vielen Dank, dass Sie sich für mich eingesetzt haben. Wirklich." Ich lächelte die Frau ehrlich dankbar an und entschuldigte mich im Stillen für meine Lügen. Dann ging ich zu den Aufzügen und fand ich zwei Minuten später vor Caiden O'Neills Büro wieder. Die Sekretärin bat mich, zu warten, während Sie an Caidens Bürotür klopfte und dann kurz darauf den Kopf hereinsteckte. Caiden schien sie aber nicht gehört zu haben, denn ich konnte seine aufgebrachte Stimme in den Moment vernehmen, als sie die Tür öffnete.

„Ich will, dass das unter uns bleibt. Wir müssen ohne großes Aufsehen den Finanzbericht wieder in Ordnung bringen. Die Belegschaft darf nichts davon merken. Habe ich deine Unterstützung?" Seine dunkle und verärgerte Stimme unterschied sich im wahren Leben nicht sehr viel von der am Telefon, auch wenn sie noch etwas klarer ohne den blechernen Nachhall wirkte. Dann wurde mir die Bedeutung seiner Worte bewusst und mir stockte der Atem. Kälte breitete sich in rasender Geschwindigkeit in meinem Körper aus. Bevor Caidens Sekretärin auf sich aufmerksam machen konnte, antwortete eine zweite Person.

„Du hast mein Wort. Was denkst du denn von mir? Finanzen sind mein Spezialgebiet seit dem Studium." Die Stimme des zweiten Mannes war nicht ganz so tief wie Caidens. Ich runzelte die Stirn, da sie mir bekannt vorkam. Schnell durchforstete ich meine Erinnerungen und stoppte abrupt bei der Veranstaltung von TiWo. War das Daniel? Adens Freund?

Was für ein abgekartetes Spiel trieben die beiden hier? Konnten Samanthas Vermutungen doch richtig sein? Wie sehr hatte ich mich in Caiden getäuscht? Ja, ich wusste, dass er nicht immer der netteste Mann war, aber das? Wut brodelte unerwartet heiß in mir hoch und löste die Kälte des Schocks ab. Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Wie konnte er nur ein so durchtriebener Mensch sein? Kein Wunder, dass Samantha ihn loswerden wollte und regelrecht hasste.

„Mister O'Neill ist störe wirklich ungern, aber hier ist eine Miss Murray, die sagt einen Termin mit Ihnen zu haben." Schließlich drang Caidens Sekretärin durch die Diskussion der beiden Männer. Auch ihre Stimme holte mich aus meinem Wutrausch etwas heraus, damit ich mich auf der Hier und Jetzt wieder konzentrieren konnte.

„Mit mir? Jetzt?", fragte Caiden. „Ja Sir, soll ich Sie im Wartebereich Platz nehmen lassen?"

„Vergisst du jetzt schon Termine?", fragte nun ein sehr amüsierter Daniel.

„Nein, ich kenne noch nicht mal eine Miss Murray." Ein weiterer Schauer folgte und mir war bewusst, dass ich einschreiten musste. Jetzt oder nie, dachte ich. Also schob die Frau vor mir sanft aber sehr bestimmt zur Seite und rauschte regelrecht in das Büro des Vorsitzenden.

„Wir haben einen Termin, wenn ich es sage, denn das, was ich mit Ihnen zu besprechen haben, Mister O'Neill ist alles andere als amüsant", sagte ich laut und voller Wut. Nach drei Schritten, blieb ich jedoch stocksteif stehen, als ich mich Aden gegenübersah. Mein Gott, sag mir nicht, er war auch darin verwickelt. Schockiert riss ich die Augen auf und Aden tat es mir gleich. Ich registrierte Daniel schräg hinter Aden, als er aufstand und mich mit ebenso schreckgeweiteten Augen ansah. Dann blinzelte ich und sah mich um.

Mein Blick flog nach links zu der Couch und den zwei Sesseln, nach rechts zum Schreibtisch und weiter zu einigen Regalen voller Bücher, deren Titel ich nicht erkennen konnte. Wo war Caiden? Ehrlich irritiert sah ich wieder zurück zu den beiden Männern. Aden war blass geworden und sah mich noch immer wie ein Reh im Scheinwerferlicht an.

„Mister O'Neill, es tut mir leid, sie ist einfach an mir vorbei." Ich spürte eine Hand an meinem Handgelenk. Irritiert, dass sie noch immer ihren Boss ansprach, sah ich zu der Frau neben mir. Mit einem flauen Gefühl im Magen folgte ich ihrem Blick, als sie sagte: „Ich werde sie direkt wieder mit nach draußen nehmen. Entschuldigen Sie bitte."

Ihr Blick galt Aden. Aber wieso Aden? Wieso sollte sie ihn anschauen und ihn als Mister O'Neill anreden? Ich starrte den Mann vor mir an, als sich ganz langsam und heimlich eine Ahnung in mir breitmachte. Meine Augen konnten gar nicht mehr größer werden. Mein Unglaube bekämpfte jeden klaren Gedanken. Entsetzt schüttelte ich den Kopf. Immer und immer wieder. Nein, das war sicher ein Fehler. Das konnte einfach nicht wahr sein. Das war vollkommen unmöglich.

Schmerz zeichnete sich in Adens Augen ab, als er zögerlich einen Schritt auf mich zukam und ich im selben Moment zurückwich. Immer noch schüttelte ich den Kopf. Der Schmerz blieb, aber ein Flehen und die Bitte um Verständnis konnte ich nun ebenso von seinen Augen ablesen. Doch was genau sollte ich verstehen? Worum flehte er mich an?

Zögerlich, so als wollte er sich einem verängstigten Tier nähern, trat Aden einen weiteren Schritt auf mich zu und hob eine Hand. Doch mein Herzschlag schnellte in die Höhe und Tränen schossen mir in die Augen. Das veranlasste Aden sofort in der Bewegung innezuhalten. Er öffnete den Mund.

„Nein!", schrie ich regelrecht und presste meine Handflächen auf meine Ohren. „Nein", schluchzte ich weiter, während ich einfach nicht aufhören konnte, mit dem Kopf zu schütteln. Solange ich keinen Ton aus Adens Mund hören würde, konnte es nicht wahr sein. Solange ich mich einfach taub stellte, konnte es nicht wahr werden. Ich merkte erst, dass ich weinte, als ich die salzigen Tränen an meinen Lippen spürte, die immer wieder tonlos ein Nein formten.

Wärme umfing mich, als sich zwei starke Arme schützend um mich legten und mich fest an eine Männerbrust zogen. Ich atmete Adens Geruch ein: Sandelholz und Schokolade. Aber es war Caidens Stimme, die mir immer wieder voller Schmerz und Kummer meinen Namen ins Ohr flüsterte. „Amanda... Amanda... Amanda..."

Und plötzlich wurde die Lüge real. Alles brach über mich herein. Die Gespräche mit Caiden, Aden der mich danach hatte versucht aufzumuntern und abzulenken. Aden, der mich von der Feierlichkeit ausschloss, damit Caiden seine Rede in Ruhe halten konnte, nur um mit mir danach in dem Innenhof des Hotels zu flirten. Caiden, der mir für die guten Artikel dankte, und Aden der sich ruhig mit mir über meine Arbeit und meinen Traum unterhielt.

Meine Beine gaben unter mir nach und ich hörte mein eigenes Schluchzen so laut, als würde ich schreien. Vielleicht tat ich das auch gerade, denn der Schmerz, der sich in meinem Herz und in jeder Faser meines Körpers ausbreitete, war furchtbar. Meine Eltern hatten mich jahrelang belogen, doch dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu den Gefühlen, die mich jetzt übermannten.

Angst, Trauer, Hilflosigkeit und dieser verflucht beklemmende Schmerz. Ich wollte Caiden anschreien, ihn zum Teufel jagen, oder ihm so sehr wehtun, wie seine Lüge mich verletzt hatte. Doch alles, was ich rausbrachte, war ein gekrächztes: „Du hast gelogen."

Und ich wusste mir bitterer Sicherheit: Etwas tief in mir zerbrach in diesem Moment.

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