Kapitel 25 - Amanda

Oliver hatte mich nicht gefeuert, aber er war fast vor einem Wutausbruch gewesen, als ich ihm von dem geheimen Interview mit Caiden O'Neill erzählte hatte. Einzig allein mein erster Entwurf des Artikels hatte ihn besänftigen können. Denn trotz dessen, dass wir kein Bild von O'Neill hatten, waren seine Aussagen so ehrlich gewesen, dass ich eine Art Steckbrief zur Stiftung entwickeln konnte. Das hatte Oliver zwar wieder beruhigt, als ich ihm jedoch gesagt habe, dass Caiden O'Neill den Artikel vor der Veröffentlichung lesen wollte, hatte Oliver ein Knurren von sich gegeben. Das war das erste Mal gewesen, dass er so ein Geräusch gemacht hatte. Da wir keine offizielle Deadline für den TiWo-Artikel hatten, musste ich den Beitrag auch nicht in einer Nacht schreiben, weshalb ich mir mehr Zeit und Mühe geben konnte. Oliver war zwar wie zu erwarten nicht begeistert von der Freigabe durch O'Neill, aber er akzeptierte es, da durch meinen Einsatz die Daily Mail nun ein Exklusivinterview mit dem neuen Vorsitzenden hatte. Er hatte auch eingesehen, dass wir kein Bild brauchten, um den Artikel populär zu machen.

Bevor Oliver mich aus seinem Büro warf, eröffnete er mir außerdem, dass ich nicht mehr auf Cadiz angesetzt war, was unglaublich tolle Nachrichten waren. Es kam mir fast wie eine Belohnung für das Interview mit O'Neill vor. Ich hatte mich zudem schon mehrere Tage nicht mehr mit dem Fall rund um den Senator auseinandergesetzt, aber ich war ja auch nur die Vertretung der Vertretung gewesen. Im Grunde waren also alle glücklich darüber, dass künftig nicht mehr mein Name unter den News zu dem Senator stehen würde. Beflügelt hatte ich gestern daraufhin Olivers Büro verlassen und mich den ganzen Tag lang um viele kleine und nervende Aufgaben gekümmert, die in der Woche liegengeblieben waren. Nachdem ich meine Minusstunden wieder ausgeglichen hatte und ich abgesehen von Oliver die letzte im Büro gewesen war, hatte er mir zu meinem Feierabend kurz zugelächelt und mir ein angenehmes Wochenende gewünscht. Erleichtert darüber, dass Oliver mir meinen Alleingang scheinbar verziehen hatte, hatte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus zu Grandpa gemacht. Nachdem ich noch eine Weile bei ihm geblieben war, hatte ich ihm versprochen bei seiner Entlassung dabei zu sein.

Nun stand ich an dem Tresen bei den Krankenschwestern und wartete, dass der Arzt Grandpa die Papiere gab, damit er das Krankenhaus wieder verlassen konnte. Ich wusste nicht genau, wie lange sowas dauerte, aber ich wollte die Krankenschwestern auch nicht nerven, weshalb ich einfach versuchte, geduldig zu sein.

Zu meinem Glück musste ich nicht lange allein warten, da mein Bruder plötzlich neben mir auftauchte.

„Noah!" Erfreut sah ich auf und umarmte ihn. „Hallo Amy. Alles gut bei dir?", fragte er mich. Ich nickte und löste mich aus der Umarmung. „Ja, alles bestens. Was machst du hier?"

„Ich wollte dich und Grandpa begleiten. Du wolltest doch kein Taxi rufen, oder?", fragte er und sah mich grinsend mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ich biss mir ertappt auf die Unterlippe. Noah lachte leise. „Du hättest ruhig fragen können, weißt du Amy?" Ich nickte, weil wir beide wussten, dass er recht hatte. Nach unserem letzten Gespräch in dem Pub, bei dem ich in Tränen ausgebrochen war, fühlte ich mich etwas seltsam in Noahs Nähe. Er schien das zu spüren. Noah spürte immer, wenn zu viele Dinge in meinem Kopf herumspukten, denn er nahm mich erneut  wortlos in den Arm und legte sein Kinn auf meinen Scheitel. Ich entspannte mich sofort und schalt mich selbst für meine Feigheit. Wann hatte ich angefangen, mich von meinem großen Bruder zu entfremden? Er war wie immer, aber ich hatte das Gefühl, eine andere zu sein. Und das gefiel mir nicht.

„Wie ich sagte", murmelte Noah leise. „Dass, was zwischen Dad und Mum ist, hat nichts mit uns beiden zu tun." Das hatte Noah am Mittwoch auch gesagt, als wir im Pub über unsere Familiensituation gesprochen hatten. Und kurz danach hatte ich geweint wie eine Fünfjährige, weil ich mich so schuldig gefühlt hatte, nicht nur meine Eltern, sondern auch Noah von mir weggestoßen zu haben.

Noah nahm mir das alles nicht übel. Er war zwar oft ein Hitzkopf, aber wenn ich dabei war durchzudrehen, war er es, der die Ruhe bewahrte. Das war nur ein Grund, warum ich ihn so liebte, aber ein sehr wichtiger.

„Ich habe ja ein richtiges Empfangskomitee... oder eher Entlassungskomitee?", scherzte Grandpa hinter mir. Ich löste mich von Noah und er sah mir kurz prüfend ins Gesicht. Als er keine Tränen entdeckte, grinste er kurz und entließ mich dann aus der Umarmung. Ich drehte mich zu Grandpa um, der auf einen Gehstock gestützt neben einem Arzt stand und uns anlächelte.

„Ich hatte eigentlich vorgehabt Konfetti und Luftschlangen mitzubringen, aber dann kam mir in den Sinn, dass das vielleicht nicht jedem so gut gefallen würde", sagte ich und deutete heimlich auf die Krankenschwestern, die das ganze dann hätten ausräumen müssen. Grandpa lachte und auch der Arzt schmunzelte, da immerhin er meine Geste wohl doch bemerkt hatte.

Noah ging zu Grandpa und nahm ihm die kleine Reisetasche ab. „Die nehme ich. Du passt auf dein Stöckchen auf." Er deutete auf Grandpas dunkelbraunen Gehstock.

„Stöckchen?", Grandpa holte gespielt schockiert Luft und sah Noah mit großen Augen an. Seine Augen funkelten amüsiert, als er sagte: „Noah Samuel Davies, wenn hier einer auf sein Stöckchen aufpassen sollte, dann bist du das." Noah sah verwirrt Grandpa an. „Mein Stöckchen?", fragte er verständnislos.

Ich biss mir auf die Lippe, um nicht laut loszulachen. Grandpa hingegen hob eine Augenbraue und sah Noah eindringlich an, so als könnte er ihm gedanklich die Antwort zuspielen. Da Noah noch immer nicht verstand, sagte ich: „Grandpa. Lass das. Du kannst Noah sein Stöckchen nicht wegnehmen oder es kaputtmachen. So wirst du nie Urenkel bekommen." Grandpa runzelte die Stirn, nickte dann aber, als er mir zustimmte. Noah hingegen schnappte in diesem Moment nach Luft und ich kicherte leise.

„Ich habe kein Stöckchen!", rief er lauter als notwendig. Grandpa machte große Augen. „Also keine Urenkel?", fragte er gespielt schockiert.

„Was? Doch, natürlich! Ich habe aber kein Stöckchen. Ein Knüppel trifft es eher", erklärte Noah hitzig. Damit war es vorbei, ich hatte mich noch umdrehen wollen, um den schockierten Blick von Noah nicht sehen zu müssen, als ihm bewusst wurde, was er da gerade laut gesagt hatte. Doch ich konnte nicht anders. Schallend fing ich an zu lachen und stützte mich am Tresen ab, während ich versuchte nicht vor Lachen umzukippen.

Nebenbei bemerkte ich die roten Köpfe der zwei Krankenschwestern auf der anderen Seite des Tresens und das Lachen meines Grandpas gefolgt von Noahs weiteren Erklärungsversuchen. Mein Lachen jedoch übertönte alles, sodass ich nichts verstehen konnte. Tränen liefen mir plötzlich über die Wangen, aber ich schaffte es nicht, mich zu beruhigend. Grandpa hingegen schien auch nicht daran zu denken, Noah von seinem Leid zu erlösen, und lachte ebenfalls weiter.

Ein paar Augenblicke später, hatte ich mich wieder einigermaßen gefangen. Ich grinste noch breit, aber immerhin konnte ich das Lachen zurückhalten. „Lasst uns gehen, bevor wir alle drei für verrückt erklärt und weggesperrt werden." Noah funkelte mich böse an, doch ich ignorierte ihn und hakte mich bei Grandpa unter. Dann verließen wir beide langsamen Schrittes und immer wieder kichernd das Krankenhaus. Noah folgte uns und murmelte die ganze Zeit etwas vor sich hin, was ich nicht verstand, aber mit Sicherheit auch nicht hören wollte.

Die Fahrt zum Altersheim sprach Noah kein Wort und so unterhielten Grandpa und ich uns über meine Arbeit. Er fragte mich nach meinen letzten Artikeln und ich versprach ihm bei meinem nächsten Besuch diese mitzubringen. Je weiter wir uns vom Krankenhaus entfernten, desto entspannter wurde Noah und als ich für einen Moment seinen Mundwinkel zucken sah, wusste ich, dass er nicht mehr sauer war, sondern nun ebenfalls über die ganze Situation lachen konnte. Zugeben würde er es aber nicht. Dafür war er zu stolz.

Als Noah in eine Parklücke vor dem Altersheim fuhr, drehte ich mich zu Grandpa um. „Hast du heute noch was vor, oder willst du mich mal im Schach gewinnen lassen?"

Grandpa grinste. „Du und gewinnen? Im nächsten Leben vielleicht. Aber du kannst es sehr gern versuchen."

Wir stiegen aus und Noah half Grandpa aus dem Auto. Zu dritt liefen wir zum Eingang des Altersheims. Es war ein moderner Neubau, in blau gestrichen mit sieben Etagen. Was uns damals sehr gefallen hat, war, dass wir selbst die Einrichtung des Zimmers mit Grandpa zusammen bestimmen konnten und er nicht in ein lieblos eingerichtetes Zimmer verfrachtet wurde. Natürlich kostete das Altersheim eine Menge, aber wir alle teilten die Kosten, denn jeder einzelne von uns liebte Grandpa.

Als wir das Gebäude betraten, wurden wir sofort von einer Pflegerin empfangen, die Grandpa überschwänglich begrüßte und sich freute, dass seine Enkel ihn zurückgebracht hatten. Soweit ich es beurteilen konnte, waren die Pfleger und Pflegerinnen allesamt sehr nett und wirkten kompetent.

Ein Pfleger kam zu uns und nahm Noah die Reisetasche ab. Dann drehte er sich mit der anderen Pflegerin um und zusammen mit Grandpa gingen sie durch die weiße und recht steril wirkende Eingangshalle zu den Fahrstühlen. Ich wollte ihnen folgen, doch Noah hielt mich am Handgelenk zurück. Verwundert sah ich ihn an. „Hast du einen Moment für mich?"

„Klar." Ich nickte, sah kurz zu Grandpa und rief, dass wir gleich nachkommen würden. Dann folgte ich Noah nach draußen. Es war Mitte April und angenehm warm. Die Sonne war stark genug, um meine dunkle Jeans und den dunklen Cardigan zu wärmen. Frühling war eindeutig meine Lieblingsjahreszeit, gefolgt vom Herbst, Winter und Sommer.

„Was gibt es?", fragte ich und sah Noah an.

Noah ging ein paar Schritte weiter und setzte sich dann auf eine alte Holzbank. Ich folgte ihm und ließ mich neben nieder, während ich wartete, dass er anfing zu sprechen.

„Nach Mittwoch wollte ich nur wissen, wie es dir geht", sagte er und sah über den kleinen, grünen Vorhof. Überrascht musterte ich Noah. „Was meinst du?"

Noah schwieg einen Moment, dann sah er mich an. „Du hast mir am Mittwoch gesagt, dass du dir jetzt sicher bist, dass Liebe nur ein flüchtiges Gefühl ist, dass stets vergehen kann. Von uns beiden bist eigentlich du die, die an ein Happy End glaubt. Das hat mich vollkommen unvorbereitet getroffen. Und ich weiß nicht, ob ich dir wirklich deutlich gemacht habe, dass Mum und Dad ihre Beziehung vielleicht beendet haben, das aber nichts mit deinem Glück zu tun hat."

Ich seufzte und sah auf meine Hände, da ich den Blickkontakt mit Noah nicht halten konnte und wollte. „Ich dachte, dass sie glücklich waren", wiederholte ich traurig meine Worte, die ich am Mittwoch schon zu Noah gesagt hatte.

Noah seufzte. „Das waren sie auch. Aber..." Er zögerte und nun sah ich wieder auf, weil ich das Gefühl hatte, dass Noah mir am Mittwoch etwas Wichtiges verschwiegen hatte. Gut, am Mittwoch hatte vor allem ich geredet, aber trotzdem.

„Nachdem du aufs College gegangen bist, haben die beiden fast augenblicklich aufgehört zusammen zu frühstücken und Dad ist in ein anderes Zimmer gezogen. Die verliebten Blicke und alles war von heute auf morgen vorbei."

„Was?" Ich war ehrlich schockiert. „Aber wieso?" Ein schmerzhafter Stich durchzog mein Herz. Wie viel hatte mir meine Familie vorgemacht? Verheimlichte Noah auch etwas von mir? Ich konnte Menschen für gewöhnlich lesen wie ein offenes Buch, aber scheinbar nicht meine Familie.

„Das habe ich die beiden auch gefragt."

Noah schwieg einen langen Moment und sah mich konzentriert an. Schließlich seufzte er ergeben und antwortete: „Sie lieben sich schon seit Jahren nicht mehr, aber sie wollten, dass du... na ja, ein normales Teenager-Leben haben kannst und du dir um sie keine Gedanken machen musst." Ich blinzelte, denn das Gesagte musste ich erst einmal sacken lassen. Als ich endlich verstand, was Noah mir gerade gesagt hatte, sprang ich von der Bank auf.„Und die Antwort war?" Noah zögerte undich seufzte, als mit etwas bewusst wurde. „Sie wird mir nicht gefallen, aberich will sie dennoch hören."

„Sie haben jahrelange eine Scharade aufrechterhalten? Meinetwegen?", fragte ich vollkommen perplex. Das war doch vollkommen absurd, gemein und irgendwie... auch lieb. Aber vor allem unfair für meine Eltern.

„Sie mögen sich noch. Keiner hat den anderen betrogen, beide lieben uns und sie haben noch immer dieselben Interessen. Nur halt die Liebe hat abgenommen über die Jahre."

„Also doch ein flüchtiges Gefühl", murrte ich und starrte auf einen Baum ein paar Meter vor mir.

„Nein. Amy. Das stimmt nicht." Noah fasste meine Hand, doch ich sah nicht zu ihm, sondern musterte weiter die brüchige Rinde des Baumes. Keine Ahnung, was ich gerade fühlen sollte. Wut. Frustration, Unglauben, Einsamkeit, Trauer, Schmerz?

„Amy." Noah zog sanft an meiner Hand und sah fragend zu mir auf. Ich seufzte. „Ich weiß gerade nicht, was ich denken soll. Also..." Noah nickte und stand auf, während er meine Hand drückte. „Schon okay, Amy. Ich will nur nicht durch die ganze Sache meine Schwester verlieren." Meine Augen wurden groß, als ich Noah ansah und er den Kopf senkte. „Wieso solltest du mich verlieren?" Hatte ich es wirklich schon so weit kommen lassen? Fühlte Noah sich verlassen? Wie hatte das nur passieren können? Wir waren doch Noah und Amy. Wir waren wie Pech und Schwefel.

„Du hast dich in den letzten Jahren immer weiter abgekapselt. Und so jämmerlich das auch klingen mag, aber ich vermisse meine quirlige kleine Schwester, die ich vor allem und jedem beschützen will", gestand er, ohne den Kopf zu heben. Mein Herz zog sich erneut scherzhaft zusammen. Ich hatte Noah wirklich verletzt. Um mich selbst zu schützen, weil ich die heile Welt meiner Familie nach der Scheidung nicht verstand, hatte ich meinen großen Bruder verletzt. Ich würde vieles in Kauf nehmen, damit es mir besser ging, aber nicht das. Nicht, wenn Noah darunter leiden musste.

„Es tut mir leid", sagte ich leise und nahm Noahs andere Hand. Er drückte sie, hob den Kopf aber immer noch nicht. Darum ließ ich seine Hände los und umarmte ihn fest. So ein Hitzkopf oder störrischer Esel er auch sein konnte. Noah war eigentlich ein frisch gebackenes Brot. Außen hart und krustig, aber innen weich und warm.

Noah erwiderte meine Umarmung. Als er sich kurz danach wieder von mir löste, sah er mich mit einem kleinen, aber ehrlichen Lächeln an. „Geh jetzt lieber mal nachsehen, ob Grandpa die Pfleger in den Wahnsinn treibt. Er ist etwas wehleidig seit dem Herzinfarkt."

Ich lachte. Grandpa war nicht wehleidig und er würde auch die Pfleger nicht zur Weißglut treiben, sondern wie immer, sie alle der Reihe nach um den Finger wickeln. Dann stutzte ich. „Du kommst nicht mit rein?" Noah schüttelte den Kopf.

„Ich habe noch viel zu tun in der Schreinerei. Außerdem würde ich neben eurem Schachspiel sowieso nur dumm dasitzen." Das stimmte nicht und das wussten wir beide, aber ich hatte Noah verstanden. Er wollte Abstand. Noah war nicht der Typ, der sich leicht öffnete. Aber das war in Ordnung für mich. Daher wusste ich auch, dass er seine Zeit brauchte, nachdem er seine Gefühle an die Oberfläche gelassen hatte. Irgendwann in der Pubertät hatte das angefangen und ich hatte mich damit arrangiert. Also verabschiedete ich mich von Noah und winkte ihm hinterher, als er zurück zu seinem Wagen ging, ehe ich mich auf den Weg zu Grandpa machte, um eine weitere Runde Schach zu verlieren.

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