Kapitel 12 - Caiden

Mit der fast leeren Wasserflasche stellte ich mich an die Fensterfront vor dem Balkon, der sich direkt vor der Themse befand. Mein Reihenhaus war klein, aber es gab alles, was ich allein brauchte. Die Küche war groß genug und mit der Kücheninsel hatte man auch direkt Platz zum Essen. Das Schafzimmer mit dem dunklen Doppelbett, dem Kleiderschrank und dem recht großen Fernseher befand ich gleich nebenan. Sonst gab es nichts weiter außer dem Balkon im ersten Stock. Unten befand sich das Badezimmer. Gleich neben dem Wohnzimmer, das von einer riesigen Sofalandschaft und einem noch größeren Fernseher als im Schlafzimmer dominiert wurde. Aber gute Filme musste man nun einmal auf einem großen Fernseher genießen. Was würden The Avengers, James Bond und Co. schon mit einem kleinen Fernseher anfangen wollen?

Daniel kam zehn Minuten später die Treppe wieder hoch in die Küche. Ich hatte mich mittlerweile auf den Balkon gesetzt. Das Wetter war heute überraschend angenehm. Für Mitte April war der Tag sehr warm und die Sonne konnte sich heute hinter keiner Wolke verstecken. Daniel reichte mir eine weitere Wasserflasche, die er aus dem Kühlschrank geholt haben musste und setzte sich neben mich in einen weiteren ausladenden Korbstuhl. Schweigend tranken wir unser Wasser.

„Ich habe mich gestern Abend mit Amanda unterhalten", sagte ich schließlich irgendwann. Daniel, der gerade erneut zum Trinken ansetzten wollte, hielt in der Bewegung inne und sah mich verdutzt an. Er senkte die Flache und fragte: „Du hast ihr die Wahrheit gesagt?" Stirnrunzelnd schüttelte ich den Kopf. „Nein", gab ich fast kleinlaut zu. „Ich habe mich zu ihr an einen der Tische gesetzt und... na ja, weiter so getan als sei ich taub."

„Wieso?", fragte Daniel schockiert. Daniel sah mich verständnislos an. Ich verstand es genauso wenig wie er. Aber ich hatte mich nicht umdrehen und weggehen können. Der verletzte Blick, mit dem sie mich im Festsaal angesehen hatte, war einfach zu präsent in meinem Kopf gewesen. Und irgendwas hatte mich, trotz aller Bedenken, zu Amanda hingezogen.

„Keine Ahnung, vielleicht, weil ich Schuldgefühle hatte."

„Schuldgefühle? Weswegen? Wir haben dir eine nervige Reporterin vom Leib gehalten, Caiden? Wieso solltest du dich jetzt deswegen schuldig fühlen?"

„Weil sie keine nervige Reporterin ist. Das glaube ich zumindest nicht."

„Sie hat mir ihre Visitenkarte gegeben. Sie ist Reporterin."

„Mag sein, dass sie für die Daily Mail arbeitet, aber..." Ich stockte kurz. „Hast du dir ihren Artikel durchgelesen, den sie über die gestrige Veranstaltung geschrieben hat?" Daniel schüttelte wie erwartet den Kopf. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche, öffnete die Website der Daily Mail und kurz danach den Artikel. Wortlos reichte ich ihm das Handy.

Abwartend sah ich Daniel an, und wartete gespannt auf seine Reaktion, was vollkommen verrückt war, weil es ja nicht mein Artikel war, den er da gerade las. Aber ich fühlte mich so, als müsse ich alles tun, damit Daniel sah, dass der Artikel wirklich verdammt gut war. Ich wollte, dass er verstand, dass Amanda ein guter Mensch zu sein schien. In meinem Kopf regte sich ein Gedanke, dass ich Amanda wirklich mochte und ich daher auch wollte, dass Daniel sie sympatisch fand. Ich verdrängt den Gedanken aber sofort wieder.

Ein überraschtes Aufblitzen in seinen Augen verriet mir irgendwann, dass er sicherlich gerade die Beschreibung über sich selbst gelesen hatte. Es dauerte noch einige Minuten, bis er mir mein Handy zurückgab. „Der ist gut", sagte er ehrlich überrascht. Ich nickte. Mir war es ja nicht anders gegangen, als ich den Artikel das erste Mal gelesen hatte. „Aber du vergisst eine Sache, Caiden."

Ich sah Daniel abwartend an. „Amanda schreibt Artikel. Und natürlich kann sie keine reißerische Schlagzeile für so ein Thema benutzen. Ihre Worte mögen hier nett und lieb wirken, aber erinnere dich daran, dass sie auch anders kann und jemanden verbal in so viele kleine Stücke zerhacken kann, dass nicht mehr als Hackfleisch von ihm übrig bleibt. Cadiz zumindest ist nicht mehr als Hackfleisch."

Über die Bemerkung musste ich schmunzeln, auch wenn mir die Story um Cadiz nicht gefiel. Und noch weniger, dass Amanda da mit drinsteckte. Dennoch. Mir kam das Telefonat mit ihrem Chef wieder in den Sinn. Amanda hatte gesagt, dass sie keine Enthüllungsreporterin sei, sondern Geschichten anderer Menschen erzählte. Als ich das Daniel erklärte, hob er eine Augenbraue. „Und das glaubst du ihr?"

„Wieso hätte sie sowas sagen sollen?"

„Vielleicht, um dich zu beeindrucken?"

„Nein. Sie denkt doch, ich sei taub und sie weiß, dass ich miserabel im Lippenlesen bin. Sie hatte also keinen Grund ihrem Chef gegen sich aufzubringen, außer es stimmt, was sie sagt."

„Dir fällt auf, dass du sie extrem verteidigst?" Daniels Frage überrumpelte mich vollkommen. Blinzelnd sah ich meinen besten Freund an. „Wieso?", setzte er schließlich nach.

Einen langen Augenblick schwieg ich. Dann schüttelte ich hilflos mit dem Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie nicht die Frau ist, für die wir sie gestern gehalten haben. Ich weiß es einfach. Gut, sie macht Gewinn aus den Fehlern anderer, aber dieser Artikel ist ganz anders. Es ist nicht so... gehässig", versuchte ich Daniel zu erklären. Auch wenn es nicht die ganze Wahrheit war. Er würde mich für verrückt halten, wenn ich ihm sagen würde, dass ich Amanda irgendwie mochte.

„Was schreibt sie denn sonst noch so?" Auf die Frage konnte ich nur mit den Schultern zucken. „Ich kann dir nicht sagen, ob du mit deiner Vermutung richtig liegst, und sie nicht wie diese miesen Reporter ist, die alles versuchen, um dir das Leben schwer zu machen." Seine Miene verfinsterte sich. Doch einen Moment später entspannte Daniel sich wieder. „Ich kann dir nur sagen, dass sie sich, bevor wir dich getroffen haben, über die Kosten des Events beschwert hat."

„Die Kosten? Wieso?"

„Das Hotel ist verdammt teuer und das sieht man. Sie hat sich gefragt, woher das Geld für so eine Feier kommt. Vor allem, weil es ja alles Spenden sind, die das Event finanzieren."

Ich schüttelte den Kopf. „Das waren nicht alles Spenden. Als ich die Kostenaufstellung gesehen habe, habe ich die Hälfte übernommen." Daniel nickte. „Ja, das weißt du, das weiß ich. Aber wissen das auch all die anderen Menschen da draußen? Die Menschen, die Geld spenden, oder die Menschen, die Artikel über dich schreiben? Worauf ich aber hinaus will, ist, dass sie dich verurteilt hat, noch bevor sie dich kennenlernen konnte."

„Das stimmt so nicht", räumte ich ein. Daniel sah mich verwirrt an. Zeit einen weiteren Teil der Wahrheit zu erzählen. „Wir hatten am selben Morgen ein Telefoninterview zusammen. Und... na ja, sagen wir so, das lief in etwa so ab, dass sie was gefragt, aber ich nicht geantwortet habe."

„Arschloch. Wieso bietest du dann überhaupt ein Interview an?", erwiderte Daniel kopfschüttelnd und grinsend zugleich. „Hätte ich das gewusst, hätte ich dir vielleicht nicht geholfen." Ich lächelte freudlos.

„Aber selbst, wenn du dich wie ein Arschloch verhalten hast, hätte sie nicht solche Mutmaßungen vor einem Dritten anstellen müssen. Sie hatte ja keine Ahnung wer ich bin. Im schlimmsten Fall hätte ich jemand sein können, der die etwas Böses will."

„Vielleicht sollte ich sie einfach besser kennenlernen", murmelte ich zu mir selbst.

„Und wie willst du das machen? Dich als stummer Aden ausgeben, wenn ihr euch persönlich trefft, und wenn sie weiter Artikel über die Stiftung schreibt, bist du der Arsch am anderen Ende des Telefons?", fragte Daniel sarkastisch.

Ich machte große Augen. Das war eine nahezu brillante Idee! Abgesehen von der Sache mit dem Arschloch. Ich hätte so die Möglichkeit die professionelle und private Amanda kennenzulernen. Begeistert sah ich Daniel an, der mit seinerseits ein Stirnrunzeln zuwarf. „Das ist keine gute Idee, Caiden. Lass den Blödsinn."

„Aber wieso? Du hast den perfekten Weg gefunden, damit ich herausfinden kann, wer Amanda Davies wirklich ist."

„Egal ob sie die Schöne oder das Biest ist, sie schreibt Artikel über TiWo und damit auch über dich. Soll dir doch egal sein, was für ein Mensch sie ist. Hauptsache, sie zieht dich und die Stiftung nicht in den Dreck. Wieso willst du das denn überhaupt herausfinden?"

Ich öffnete den Mund und wollte Daniel erklären warum, aber es kam kein Ton über meine Lippen. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Ja, warum genau wollte ich Amanda Davies  wirklich besser kennenlernen? Sie war eine Fremde für mich, mit der ich viermal mehr oder weniger gesprochen hatte. Und zwei der vier Gespräche waren alles andere als nett verlaufen. Keine gute Bilanz meiner Meinung nach.

„Eben." Daniel nickte zufrieden, da er wohl annahm, mich überzeugt zu haben. Ich seufzte nur und ließ mich nach hinten sinken. Murrend sah ich hoch zum Himmel, musste aber die Augen zusammenkneifen, da mich sonst das Sonnenlicht zu sehr blendete. 

Eine Weile später stand Daniel auf, klopfte mir zum Abschied auf die Schulter und ließ mich dann allein auf dem Balkon zurück. Ich war aber viel zu stark von der Frage abgelenkt, warum ich diesen Drang verspürte, Amanda besser kennenlernen zu müssen. Das war vollkommen irrational!

Als die Sonne sich langsam dem Horizont näherte, begab ich mich in die Küche und suchte alles für einen Kartoffelauflauf zusammen. Eine dreiviertel Stunde späte saß ich an der Kücheninsel und aß schweigend, während das Radio leiste Musik spielte. Es muss ein Kurzschluss gewesen sein. Ähnlich wie an dem vorherigen Abend, an dem ich mich, ohne nachzudenken, an den Tisch zu Amanda gesetzt hatte, denn bevor ich es realisiert hatte, befand sich mein Handy in der Hand und ich tippe eine kurze Nachricht an Amanda. Ehe ich es mir anders überlegen konnte, schickte ich die Nachricht ab und schüttelte im nächsten Moment wieder den Kopf über mich selbst. Ich war 27 Jahre alt verdammt nochmal. Wieso benahm ich mich dann wie 14? Scheint, als hätte mir jemand innerhalb von nicht einmal 24 Stunden den Verstand geraubt.

Frustriert über mich selbst, legte ich das Handy auf der Kücheninsel zurück und ging duschen. Ich versprach mir wenigstens etwas mehr Klarheit in meinem Kopf und eine Antwort auf was „Warum?", aber auch nach 20 Minuten hatte ich keine gefunden. Noch frustrierter als zuvor ließ ich mich auf mein Sofa fallen, schaltete den Fernseher an und öffnete meine Online-Videothek.

Seit ich von dem normalen Fernsehprogramm auf die Video-on-Demand-Lösung umgestiegen war, verstand ich Frauen. Sie sagten ständig, nichts zum Anziehen zu finden, obwohl ihr Kleiderschrank voll mit Sachen war. Mir ging es nicht anders bei der Auswahl von Filmen. Ich hatte etliche Filme im Angebot, aber trotzdem dauerte es meist mehr als 15 Minuten, bis ich mich für einen Film entschieden hatte. Das war einfach nur lächerlich und eindeutig ein Luxus-Problem.

Nachdem ich mich für einen etwas älteren Action-Klassiker entschieden hatte, lehnte ich mich seufzend zurück und genoss die actionreichen Szenen. Eine gute halbe Stunde später, pausierte ich kurz den Film, lief hoch in die Küche und holte mir eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank. Schnell schüttete ich ein paar Cashewnüsse in eine kleine Schüssel und drehte mich wieder zu gehen um. Dabei fiel mein Blick auf das mein Handy, dass noch immer auf dort auf der Kücheninsel lag, wo ich es vor dem Duschen zurückgelassen hatte. Ich steckte es in meine Hosentasche und machte mich wieder auf den Weg nach unten. Wieder auf dem Sofa ließ ich den Film weiterlaufen, steckte mir ein paar Nüsse in den Mund und warf dann einen Blick auf mein Handy.

Eigentlich war es nur dieser typische Check, ob irgendjemand etwas von mir wollte, aber das war selten der Fall. Mein Privathandy nutzte ich sehr selten. Abgesehen von Nachrichten mit Daniel und ein paar Freunden, mit denen ich hin und wieder textete, um irgendwie den Kontakt nicht ganz zu verlieren, nutze ich es kaum. Das Arbeitshandy vibrierte hingegen schon viel öfter, aber das befand sich in der Aktentasche. Ich hatte immerhin Feierabend.

Die Nachricht, die ich aber auf meinem Handydisplay vorfand, warf mich einen langen Moment aus dem Konzept. Amanda hatte geantwortet. Ich hatte mir ehrlich gesagt nicht sehr viel Hoffnung gemacht, als ich ihr geschrieben hatte. Meine Nachricht war einfach nur einfallslos gewesen. Wie begann man denn aber eine Konversation mit jemanden, den man nicht kannte? Aber sie hatte geantwortet und war dabei genauso wortgewandt gewesen, wie in ihrem letzten Artikel.

Aden: Hallo Amanda, Aden hier. Sind Sie gestern gut nach Hause gekommen?

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